Von der Physik zur Metaphysik

Von der Physik zur Metaphysik

Von der Physik zur Metaphysik – auf zum Strukturenrealismus

Dieser Essay stellt im wahrsten Sinne des Wortes den Versuch dar, einer viel geschmähten und vielleicht auch oft missverstandenen Disziplin der Philosophie – die Metaphysik – wieder auf die Beine zu helfen und zum Laufen zu bringen. Denn meines Erachtens benötigen wir – vielleicht dringender denn je – eine „neue Metaphysik„, denn die Naturwissenschaften und ihr Instrumentarium – der Fortschritt in den Technologien – überholt die Menschheit gerade ohne einen Blinker zu setzen. Und uns bleibt zur Zeit nichts anderes übrig, als dem Fortschreiten hinterher zu schauen und uns dem Status quo anzupassen.

Es geht im Folgenden um den Versuch der Wiederherstellung einer neuen Metaphysik unter Berücksichtigung der Abduktion (Peirce) als prospektorisches Mittel. Diese neue Metaphysik soll möglichen, negativen Entwicklungen Einhalt gebieten und den Versuch darstellen den naturwissenschaftlichen Diskurs wieder neu einzunorden und damit gleichzeitig zu einer neuen Wissenschaftsethik führen.

Aber von Anfang an – Aristoteles Metaphysik

Das Thema „Metaphysik“ ist wahrscheinlich schon so alt, wie die Menschheit selber, die sich wohl seit Anbeginn des Denkens die „Seins“- oder „Sinn“-Fragen gestellt haben mag, z. B.: Was ist der Mensch? Gibt es einen Sinn im Leben?,… Die Altvorderen werden diese Fragen allerdings nicht unter dem Begriff Metaphysik subsumiert haben.

Der Begriff tauchte eigentlich erst in der griechischen Klassik auf und hier insbesondere durch Aristoteles (384 v. Chr. – 322 v. Chr.) ontologisches Werk ta metá ta physiká“ („Das hinter, neben der Physik“):

„Der Begriff „Metaphysik“ stammt nach heutiger Mehrheitsmeinung aus einem Werk des Aristoteles, das aus 14 Büchern allgemeinphilosophischen Inhalts bestand. Der Peripatetiker Andronikos von Rhodos (1. Jahrhundert v. Chr.) ordnete in der ersten Aristotelesausgabe diese Bücher hinter dessen acht Bücher zur „Physik“ ein (τὰ μετὰ τὰ φυσικά tà metà tà physiká ‚das nach/neben der Physik‘). Dadurch entstand die Bezeichnung „Metaphysik“, die also eigentlich bedeutet: „das, was hinter der Physik im Regal steht“, aber gleichzeitig didaktisch meint: „das, was den Ausführungen über die Natur folgt“ bzw. wissenschaftlich-systematisch bedeutet: „das, was nach der Physik kommt.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Metaphysik:Begriffsgeschichte)

Und dieser Reihenfolge (Metaphysik nach Physik) soll hier ausdrücklich Beachtung geschenkt werden. In diesem einen seiner Hauptwerke – der
Physik – stellt Aristoteles in strikter Abgrenzung zu seinen Vorgängern (Platon, Vorsokratiker) klare Definitionen zu ontologischen Einheiten wie Raum, Zeit, Bewegung und Ursache auf. Er wendet sich hierbei explizit gegen der Ideenlehre eines Platon (dem späteren Idealismus eines Kant) und setzt demgegenüber die Empirie (dem späteren Materialismus eines Laplace) ganz im Sinne der modernen Naturwissenschaft (allerdings noch ohne Mathematik):

Man muss dabei versuchen, die Untersuchung so durchzuführen, dass das Wesentliche an dem Begriff wiedergegeben wird,[…]“ (211 a).

Aristoteles als Pionier des Naturalismus

In seiner Metaphysik versucht Aristoteles hingegen diese einzelnen Entitäten zu bündeln und zu systematisieren ganz im Sinne des modernen Reduktionismus, um durch Induktion an die dahinter liegenden Gesetzmäßigkeiten zu gelangen:

„Es gibt eine Wissenschaft, welche das Seiende als Seiendes untersucht und das demselben an sich Zukommende.[…] Indem wir nun die Prinzipien und höchsten Ursachen suchen, ist offenbar, dass diese notwendig Ursachen einer gewissen Natur an sich sein müssen.“ (Met. IV 1, 1003 a 21 – 28)

Dies erinnert alles sehr stark an die Methodik der modernen Naturwissenschaften und somit könnte man Aristoteles tatsächlich als Pionier der modernen Naturwissenschaft oder des Naturalismus (Quine, Rorty) bezeichnen:

„Deshalb unternimmt denn auch keiner von denen, die sich einer speziellen Wissenschaft widmen, über diese zu sprechen, ob sie wahr sind oder nicht, weder der Geometer noch der Arithmetiker, ausgenommen einige Physiker [sic!]. Dass diese es taten, hat seinen guten Grund; denn sie allein glaubten über die ganze Natur und über das Seiende Untersuchungen anzustellen. Da es aber einen Wissenschaftler gibt, der noch über den Physikern steht [sic!] (denn die Natur ist ja nur eine Gattung des Seienden), so wird diesem, welcher (das Seiende) allgemein und das erste Wesen betrachtet hat, auch die Untersuchung der Axiome zufallen.“ (1005 a, 40 – 50)

Moderner hätte man es nicht ausdrücken können ;-). Diesen alten „Geist-Materie“-/“Leib-Seele“-Dualismus möchte ich in einem weiteren Essay Der Geist in der Materie noch näher untersuchen.

Die „Duhem-Rey-Kontroverse“

Von der Metaphysik in der Physik: Duhems Position

Im Folgenden möchte ich an einem historischen Disput zwischen dem theoretischen Physiker und Wissenschaftsphilosophen Pierre Duhem (1861-1916) und dem Philosophen und experimentellen Psychologen Abel Rey (1873-1940) den prognostizierten Wechsel in dem Erklärungsmuster in den modernen Naturwissenschaften veranschaulichen.

Diesen Paradigmenwechsel will ich hier nur kurz vorstellen und beziehe mich hierbei auf einen bereits existierenden, sehr lesenswerten Essay „Braucht die Theoretische Physik den religiösen Glauben? Neo-Scholastik und Positivismus in der Dritten Republik“ von Matthias Neuber, den ich durch einen Tipp im Netz (https://philpapers.org/archive/NEUBDT-2) gefunden habe.

Duhem gilt als ein typischer Repräsentant der „positivistischen“ französischen Wissenschaftsphilosophie im Sinne eines empirischen Materialismus um 1900:

„Eine physikalische Theorie ist keine Erklärung. Sie ist ein System mathematischer Lehrsätze, die aus einer kleinen Zahl von Prinzipien abgeleitet werden und den Zweck haben, eine zusammengehörige Gruppe experimenteller Gesetze ebenso einfach, wie vollständig und genau darzustellen.“ (Duhem, 1998, S. 20f.)

Er kann aber auch als ein Repräsentant des metaphysischen Idealismus in der Physik gesehen werden:

„So gibt uns die physikalische Theorie niemals die Erklärung der experimentellen Gesetzmäßigkeiten, niemals enthüllt sie uns die Realitäten, die sich hinter den wahrnehmbaren Erscheinungen verbergen. Aber je mehr sie sich vervollkommnet, umso mehr ahnen wir, dass die logische Ordnung, in der sie die Erfahrungstatsachen darstellt, der Reflex einer ontologischen Ordnung sei. Je mehr wir mutmaßen, dass die Beziehungen, welche sie zwischen den Beobachtungsergebnissen herstellt, den Beziehungen zwischen den Dingen entsprechen, umso mehr können wir prophezeien, dass sie sich einer naturgemäßen Klassifikation nähere.“ (Duhem, 1998, S. 30)

Und dieses „Zwischen-den-Stühlen-Sitzen“ macht Dehum für unsere Frage so interessant. Hier spiegelt sich einerseits sein Bekenntnis zum wissenschaftstheoretischen Instrumentalismus wider. Anderseits sieht Rey hierin aber auch ein neoscholastisches Theorienverständnis, weil er erstens hierdurch zu viel Spielraum für „außerphysikalische Parallelaktionen“ lässt und zum puren Mathematismus aufruft. Der zweite Vorwurf wiegt schwerer, da er Rey zufolge zu einem Verzicht auf den Anspruch kausaler Erklärung und somit zu einer vollständigen Ablösung der physikalischen Theoriebildung von den Gegebenheiten in der Erfahrung, als ein „jeu de syllogismes scolastique“ führe (s. Kants „leere Metaphysik“)

„Während Duhem die Rechtfertigungsbasis seiner Doktrin der naturgemäßen Klassifikation im Bereich des Intuitiven (bzw. der Pascalschen „Urteile des Herzens“) sieht, meint Rey seine kausal-relationalistische Ontologie auf durch-gehend rationalem Wege, und zwar in Gestalt einer wahrheitszentrierten Theorie der kausalen Erklärung untermauern zu können.“ (https://philpapers.org/archive/NEUBDT-2, S. 236)

Duhem sieht folglich die Wissensbeschaffung und den Erkenntnisgewinn der Naturwissenschaft in der Annahme einer naturgemäßen Klassifikation im aristotelisch-metaphysischen Sinne als „inhärentes Streben nach Kohärenz“ begründet. Demgegenüber verfolgt Rey ein anderes Ziel in seiner Entgegnung „La physique de M.Duhem“ auf Duhems „Physique de croyant“.

Hin zur Physik in der Metaphysik: Reys Position

Rey selber plädiert in diesem Zusammenhang für eine Art von dritten Weg, in dem – von ihm so genannten – „wahren“ Positivismus. Dieses Konzept umfasst im Wesentlichen folgende Thesen:

„1. die Physik ist die „Wissenschaft von der Materie“;
2. Gegenstand physikalischer Theorien sind Relationen;
3. Relationen sind die Instanz kausaler Wirksamkeit;
4. die Erklärung des in der Erfahrung Gegebenen erfolgt im abduktiven Rückgriff auf kausale Relationen; physikalische Theorien sind – aufgrund ihres vorhandenen Erklärungspotentials – nicht nur „empirisch angemessen“, sondern in einem buchstäblichen Sinne (wenn auch nur näherungsweise) wahr.“ (vgl.Rey: „La Philosophie moderne“1908, S. 150 – 154, 348 – 352)

In den Thesen 1, 2 und 3 versucht Rey eine Ontologie zu entwicklen, dievon keinerlei theologischen Dogmen «infiltriert» ist„. Den maßgeblichen Bezugspunkt sollen hierbei einzig und alleine das Beziehungsgeflecht der Relationen bilden. Der Ausgangspunkt der Untersuchung liegt zwar im Materiellen, aber die hieraus abgeleiteten Rückschlüsse und Gesetzmäßigkeiten sind rein geistiger Natur. Durch den „abduktiven Rückgriff“ gehen sie über das empirisch Gegebene sogar hinaus und könnten als „wahr“ bezeichnet werden.

Physikalische Theorien sind mehr als bloße Vorhersageinstrumente“, es sind „kausal-relationalistische Ontologien“, die auf durchgehend rationalem Wege in Form einer „wahrheitszentrierten Theorie“ alles erklären können (s. Theory of everything ToE). Für Rey sind diese Relationen Instanzen kausaler Wirksamkeit. Dies stellt einen sehr klaren Schnitt und Paradigmenwechsel in der Physik hinsichtlich der duhemschen-aristotelischen Metaphysik dar, da nun nicht mehr die Objekte an sich als Grund der Kausalität, sondern die sich hieraus entwickelnden Relationen im Vordergrund stehen. Dies wirkt an dieser Stelle schon sehr modern im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie (aber dazu mehr in dem späteren Essay „Die Struktur im System„).

Zurück zur neuen Metaphysik: der ontische Strukturenrealismus

Jetzt kommt der eigentlich interessante Teil zu unserem „Materie-Geist“-Problem oder zu dem Vorhaben „Von der Physik zur Metaphysik“. Neuber leitet nun aus Reys Position einen modernen Strukturenrealismus, der sich gänzlich der alten Metaphysik entledigen kann, ab. Er vertritt die These, man benötige zum Aufstellen von (erfolgreichen) physikalischen Theorien (mit effizienter Vorhersagekraft), „um die damit einhergehende ontologische Verpflichtung auf beobachtungstranszendente Strukturen (bzw. Relationen) eingehen zu können, keine wissenschaftsfremde Metaphysik, geschweige denn Theologie.“ (ebd. S. 237)

Ihm geht es darum einen „epistemischen Strukturenrealismus“ nach Worrall durch einen „ontischen Strukturenrealismus“ zu ersetzen.

„Sehr hilfreich ist in diesem Zusammenhang die Differenzierung zwischen „abstrakten“ und „konkreten“ Strukturen. Während es sich bei abstrakten Strukturen um mathematische Gebilde wie etwa Gleichungssysteme handelt, sind konkrete Strukturen physikalisch real. Genauer gesagt, haben abstrakte mathematische Strukturen – wenn man von ihrer Existenz ausgeht – den ontologischen Status von Universalien, während konkrete physikalische Strukturen partikulär sind. Zwar kann man diese partikulären physikalischen Strukturen mittels mathematischer Strukturen beschreiben, aber die physikalischen Strukturen als solche existieren unabhängig, d. h. als immer schon voraus zu setzender Gegenstand der mathematisch-physikalischen Beschreibung.“ (ebd. S. 239)

Die Vorzüge eines ontischen Strukturenrealismuses versucht er an dem Beispiel „Loch-Argumentes in der Einsteinschen Allgemeinen Relativitätstheorie“ zu belegen. Die Unterdeterminierung der Theorie wird hier als „Mannifaltigkeitssubstanzialismus“ (vgl. in diesem Zusammenhang z. B. Lyre, 2007, S. 238 ; Carrier, 2009, S. 206) im Falle allgemein kovarianter Theorien als eine „starke Form des Indeterminismus“ (Carrier, 2009, s. 207) beschrieben. Soll heißen, der ontische Strukturenrealismus lässt diese Unschärfe in der Theorie nicht nur zu, sondern erzeugt sie geradezu als inhärente Struktur. Hierin liegt gerade die Stärke des ontischen Strukturenrealismus, dass er keines transzendentalen „externalistischen“ Bezugspunktes bedarf, sondern sich zur neuen Metaphysik generiert, oder in den Worten eines der gegenwärtigen Hauptvertreter:

„The new metaphysics of nature distinguishes itself from the older essays in speculative metaphysics by being close to science: metaphysical claims are based on scientific theories. Consequently, the metaphysical claims about nature are as hypothetical as our scientific theories: there is no more certainty to be gained in metaphysics than here is in science. In other words, scientific knowledge claims are fallible and meta-physics, insofar as it draws on those claims, is as fallible as science.“ (Esfeld „The Modal Nature of Structures in Ontic Structural Realism“ (2009), S. 341)
„Beweisen lässt sich die These der Selbstgenügsamkeit des wissenschaftlichen Erklärungsanspruchs allerdings nicht. Aber sie ist immerhin einer rationalen Begründung zugänglich, was man von der Duhem’schen Flucht in das Intuitive wohl nur schwerlich behaupten kann.“ (ebd. S. 243)

Hierin sehe ich ebenso wie Neuber einen viel versprechenden Ansatz für eine neue Form von metaphysischer Philosophie im Sinne eines kritischen Idealismus, der sich nicht hinter der Naturwissenschaft verstecken muss, sondern im Gegenteil als metaphysischen Naturalismus die Naturwissenschaft begründen muss.

Das diese „neue Metaphysik“ mehr als dringend benötigt wird, kann auch an der aktuellen Entwicklung im Bereich der KI und Kybernetik-Forschung abgelesen werden. Das „Geist-Materie“-Problem manifestiert sich an dieser „wissenschaftlichen Front“ besonders deutlich. Aber wie der Geist nun mit der Materie zusammenhängt, möchte ich in meinen nächsten Essay „Der Geist in der Materie näher untersuchen.

Ich bin immer mit meiner „Diogenes-Lampe“ unterwegs, um Menschen zu finden, die sich auch nach ein wenig „Licht der Erkenntnis“ sehnen. Also wenn Ihr eigene Beiträge oder Posts für meinen Wissenschaft-/Philosophie-Blog habt, immer her damit. Sie werden mit Eurem Namen als Autor auf meiner Seite veröffentlicht, so lange sie den oben genannten Kriterien entsprechen. Denn nur geteiltes Wissen ist vermehrtes Wissen.
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Dr. Bernd-Jürgen Stein
Dr. Bernd-Jürgen Stein
2 Jahre zuvor
Reply to  Philo Sophies

Lieber P.S.,

ich lese die Beiträge hier mit großem Interesse, bin aber philosophisch und rhetorisch nicht besonders fit (bin Physiker). Ich habe den Eindruck, dass in den Beiträgen hier der Strukturenrealismus so eine Art Hilfsmittel oder Instrument ist, den Dualismus von Geist und Materie endlich loszuwerden (zu überwinden), und dem Materialismus und Reduktionismus auf eine sichere Grundlage zu stellen. Ich würde dazu gerne ein paar Bedenken äußern, und dies auch sehr konkret:

a) Mein Eindruck: Viele reden über Relationen, ohne zu sagen, was das denn sein soll. Zwar gibt es formale Definitionen, aber wie in der Physik hilft zutreffende Mathematik nicht unbedingt weiter. Was ist die Metaphysik der Relation? Da kommt man schnell zu der Frage: Konstituieren die Relata die Relation (zum Beispiel durch ihre Orte = „Gegenüberliegen“), oder konstituiert sich die Relation selbst (zum Beispiel durch ihr „Ausgerichtet sein“ zu den Relata). Das ist keine Frage, was zuerst da ist, sondern die Frage, wodurch e n t s t e h t eine
Relation, wie beschreibt man das Werden einer Relation– oder ist sie einfach nur da, wie alle physikalischen Gegenstände bei naiver Betrachtung.

b) Wenn man von Relation spricht, dann muss wohl die Existenz eines „Abstands“ oder eines „Unterschieds“ im allgemeinen Sinne vorausgesetzt werden, und dann stellt sich die Frage: muss dies ein raumzeitlicher Abstand sein (also nochmals ein raumzeitlicher Kontext vorausgesetzt werden, mit all den damit verbundenen Komplikationen), oder ein Abstand im allgemeinen Sinne ohne raumzeitlichen Kontext, und wenn im allgemeinen Sinne: wie konstituiert und portioniert sich dieser Abstand im allgemeinen Sinne außerhalb der Raumzeitlichkeit.

c) Wenn man Relationen mit „Abständen“ nur im raumzeitlichen Kontext betrachtet (die Komplikationen mal ignoriert), dann stellt sich das Problem, dass es neben räumlichen Abständen auch zeitliche Abstände gibt ,und dass auch Zeitpunkte in einer Relation stehen können, nämlich durch eine Verbindung zwischen dem Vorher und Nachher, und haben dann räumliche und zeitliche Relationen den gleichen Status des Seins oder verschiedene, und falls verschieden, was für eine Relation haben sie dann untereinander.

d) Die moderne Physik gründet sich auf dem paradigmatischen Konzept des „Feldes“ – doch welche Struktur hat nun ein Feld? Welche ontologische Struktur liegt der Strahlung zugrunde? Der Strukturenrealismus scheitert grandios überall dort, wo feldtheoretische Beschreibungen erfolgreich sind, und das ist in der gesamten klassischen Physik und der Quantenfeldtheorie der Fall – nur nicht in der nicht-relativistischen Quantentheorie, auf die dann gerne zur Rechtfertigung strukturenrealistischer Ansätze referiert wird.

Ich könnte hier noch weitermachen – aber mir scheint das fürs Erste genug, um zu zeigen, dass der Relationen-Begriff sehr kompliziert zu sein scheint, es sei denn, es gelänge, ihn auf etwas sehr Einfaches zu reduzieren, aber Sie wissen, dass die Reduktionsstrategie ja scheitert, weil man irgendwann an einen Punkt kommt, wo weitere Reduktionen keinen Erkenntnisgewinn mehr versprechen, was am Ende dann eine ziemlich subjektive Betrachtung ist. Letztlich ist doch der Strukturenrealismus auch nichts anderes als eine reduzierte Gegenstandontologie, mit der Relation als Gegenstand. Die Wissenschaften haben nun aber doch schon Jahrtausende zugebracht, die „richtige“ Gegenstandsontologie (per Reduktion) zu finden und sind dabei erfolglos geblieben, vor allem die Physik ist mit Glanz und Gloria gescheitert, selbst mit phantasievollen ontologischen Strukturen (zum Beispiel der Stringtheorie) kommt sie nicht zu Potte.

Was hilft es da, noch eine weitere reduzierte Ontologie in den Fokus zu nehmen, ich denke die Gefahr ist groß, dass dies so endet wie bisher mit allen Neuerungen, die irgendwie mit Strukturen zu tun haben – es sind nicht wirklich Neuerungen. Mein Pessimismus gründet auch auf der Erkenntnis, dass formale Systeme und damit auch formale Beschreibungen einer Ontologie nicht wahrheitsfähig sind (die Mathematik also nicht hilft), und dass keine Theorie, in der die Ontologie der Welt auf funktionale und nicht-funktionale Entitäten reduziert wird, nachweisbar konsistent ist (Gödel). Ich glaube, man muss hier einen ganz anderen Ansatz wählen wenn man weiterkommen will ( keine Angst – keinen transzendenten ! ), und kann diesen Ansatz auch gerne einmal vorstellen. Aber zunächst würde ich gerne Ihre sehr geschätzte Antwort zu Vorstehendem wissen, zu der Kernaussage: die Reduktion der Welt auf Strukturen unterscheidet sich nicht sehr von den bisherigen gescheiterten Reduktionsversuchen der Naturphilosophie und Naturwissenschaften. Dieses Konzept wird bald keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorholen.

Es grüßt Sie herzlich
B.J.S.

Dr.Stein
Dr.Stein
2 Jahre zuvor
Reply to  Philo Sophies

Lieber Dirk Boucsein,

vielen herzlichen Dank für Ihre ausführliche Antwort zu meinem Beitrag zum Strukturenrealismus, und für die große Mühe, die Sie sich geben, auf meine etwas schnell dahingeschriebenen Einwände so ausführlich zu antworten. Das verlangt, dass ich mir nun mal etwas mehr Mühe bei einer Erwiderung gebe.

Es ist ja keineswegs so, dass ich ein „Gegner“ des Strukturenrealismus bin, kein Gegner gegen keine seiner Spielarten. Ich halte ihn aber für ungeeignet, Probleme wie die des Leib-Seele-Problems anzugehen. Natürlich kann man die damit verbundenen philosophischen Implikationen und Problematiken von allen Seiten beleuchten, und wie alles im Leben – und in der Philosophie erst recht – zeigt jede beleuchtete Seite dem Betrachter etwas „Richtiges“. Es fehlt aber das, was den Bruch zum Bestehenden darstellt, die andere Perspektive, ein neues Verständnis (der Realität). Das möchte ich hier einmal begründen, mit dem Hintergedanken, dass, wenn man das Bestehende kritisch sehen kann, man für Neues offener ist.

Ich habe ja in meinem Beitrag nur ein paar von mir unverstandene Aspekte des Begriffs „Relation“ beschrieben, um zu zeigen, dass der Begriff selbst schon viele unbeantwortete Fragen aufwirft, und er sich durch mangelnde Bestimmtheit auszeichnet.

Aber zunächst gebietet es der Respekt, auf Ihre Argumente konkret einzugehen:

a) Mathematik: Sie schreiben: „Ich finde schon, dass die Mathematik in der Physik, aber auch in der Erkenntnistheorie weiterhilft (auch) … weil sie gut zur Beschreibung von Phänomen in Form von Theorien geeignet ist.“ Natürlich hilft die Mathematik weiter, sie eine starke Lupe auf das was gegeben ist und was geschieht (oder geschehen könnte?), das Problem ist, dass die mathematische Sprache verstanden (übersetzt) werden muss. Was sagt uns die Mathematik über die Welt? Das ist eine Frage, die die Physik beantworten muss, aber nicht kann, und wo die Philosophie gefragt ist (s. unten).

b) Netzwerk: Und ich stimme mit Ihnen überein, dass die Welt auf dem Grunde allen Seins aus einem „selbst-referentielles Netzwerk von Beziehungen“ bestehen könnte (was immer Sie mit selbst-referentiell meinen). Das kann man durchaus plausibel und stringent behaupten. Das ist aber nicht der Punkt. Der Punkt ist, inwieweit das Netzwerk selbst Eigenschaften hat, die sich aus den extensiven Eigenschaften der Bestandteile, ihrer Relationen, summarisch ergeben – oder nicht ergeben. Oder anders gesagt: können die Eigenschaften des Netzwerkes auf die Summe der Eigenschaften ihrer Teile reduziert werden? Falls nicht, hat das zur Folge, dass eine seltsame unverstandene Erscheinung namens Emergenz auftritt, falls ja, stellen die Relationen doch wieder nur Einzelteile dar, nur gesondert genannt Relationen, die dann das übliche physikalische System bilden. Eine andere Seinsart als die des üblichen physikalischen Systems wäre das Beziehungsnetzwerk im letztgenannten Fall jedenfalls nicht, ein wirklicher Holismus generiert weder Emergenz, noch ist er reduzierbar auf Einzelteile. Der Naturalist muss ja erklären, warum der Haufen Atome in meinem Gehirn sich in „Geistform“ über sich selbst erheben kann, sich selbst erkennt, und in der Lage ist, zu sich selbst zu den Satz zu sprechen: „Ah, da bist Du ja, Du Haufen Atome – oh, und noch mehr Haufen gleich mir in anderen Subjekten.“ Diese Fähigkeit eines Haufens von Atomen stellt jede Naturgesetzlichkeit und Kausalität in Frage, die aber benötigt werden, um die beobachtete Emergenz (ich hasse diesen Begriff) aus einem hochkomplexen Beziehungsgefüge zu erklären. Wie sonst, wenn nicht mit Naturgesetzlichkeiten, will ich denn zu einer Erklärung der unglaublichen Fähigkeiten dieses Atomhaufens kommen, mit der Gewissheit, dass die zu erklärenden Fähigkeiten des Atomhaufens selbst offensichtlich die Naturgesetzlichkeiten in Frage stellen. Ich denke eben, dass der Strukturenrealismus aus diesem Dilemma nicht herausführt, da müssen ganz andere Kaliber her.

c) Sie schreiben: „ich halte die „Metaphysik der Relationen“ für eine basale Eigenschaft im Universum. Ja da gehört sie hin, aber wie artikuliert sie sich konkret? Physikalisch und metaphysisch? Sie bleibt ja unverstanden, wenn man dies nicht konkretisiert. Dafür fehlen aber die Begriffe, bzw. die vorhandenen Begriffe sind zu unscharf (auch hierzu s. unten).

Im Übrigen hier nur ein kleiner Hinweis zur Prozessontologe: nicht nur Whitehead hat darüber geschrieben, sondern auch Wolfgang Sohst „Prozessontologie: Ein systematischer Entwurf der Entstehung von Existenz“, MoMo Berlin KonTexte – Philosophische Schriftenreihe, 2009 Naturgesetze – ein sehr lesenswertes Buch mit großem Tiefgang, liefert viele Anregungen (ich weiß nicht, ob noch lieferbar).

Man kann es also drehen und wenden wie man will, für jedes Argument, das für den Strukturenrealismus (in jeder Spielart) vorgebracht wird, gibt es ein Gegenargument – es entsteht so eine Debatte für und wider, wie für jede philosophische Position, am Ende ein Unentschieden. Wer wird darauf bauen ? Man kann darauf alles oder nichts bauen, sowohl eine wissenschaftliche Position zur Überwindung des Leib-Seele-Problems, und anderer Dualismen, als auch für deren Beibehaltung. Man darf doch den (vielleicht eigenwilligen) Anspruch nicht aufgeben, dass Behauptungen über die Ontologie dieser Welt analytisch klar und argumentativ stringent sein müssen, und sich nicht im Ungefähren und „sowohl als auch“ verlieren dürfen, und der Strukturenrealismus hat zuviel von diesem Ungefähren.

Das Dilemma, dass dem Strukturenrealismus die Klarheit fehlt (zuviel Ungefähr hat), hat tiefere Gründe:

Erstens ist man immer versucht (man hat eigentlich keine andere Wahl) als die Ontologie auf dem Grunde allen Seins mit physikalischen Begriffen zu beschreiben. Auch mit Struktur ist letztendlich etwas Physikalisches gemeint. Esfeld zum Beispiel fasst eine Relation als maximal reduzierte physikalische Entität auf (masspoints and distance). Die Physik stellt aber keine Begriffe für eine solche Ontologie zur Verfügung, sie hat ja selbst keine Ontologie. Sie hat keinen klaren Eigenschaftsbegriff (vor der Messung haben Quantenobjekte keine Eigenschaften, nach einer Messung können bestehende verloren gehen), sie hat keinen klaren Wirkungsbegriff (Wirkungsintegral ist metaphysisch unverstanden), sie hat überhaupt keinen klaren Kraftbegriff (Kräfte entstehen aus dem Nichts), sie weiß nicht wie eine Bestimmtheit von Etwas entsteht (Meßprozeß und Wahrscheinlichkeiten), und anderes mehr, und vor allem verfolgt die Physik die Methode der Reduktion: ihre Modellobjekte werden reduziert und idealisiert, sie werden jeder Eigenschaft entkleidet, bis sie nur noch die notwendigen Eigenschaften haben, mit denen sie die ihnen zugedachte Rolle in einem Funktionalismus gerade noch erfüllen können. Ich denke nicht, dass mit dieser Methode eine Ontologie erkannt werden kann. Ein Beispiel: man kann erkennen, dass sich die Objekte im Planetensystem, die um die Sonne kreisen, wie Massenpunkte verhalten, man kann erkennen, dass sich Elektronen um einen Atomkern herum wie ein „punktförmige Objekte ohne Ort“ verhalten – nun zu meinen, dass Massenpunkte und Elektronen die in der Realität vorhandene Ontologie darstellen, ist doch abstrus. Unsere Erde ist kein Massenpunkt, warum soll die Realität bei Elektronen anders sein (ach falsch, es sind ja Wellen!). Man kann also mit den Methoden der Physik zwar Aspekte der Ontologie herausfinden, aber nicht die Ontologie selbst. Man kann die Kraftwirkungen, die ontologische Entitäten aufeinander ausüben, erkennen (sogar sehr sehr gut), aber nicht die Entitäten selbst. Der ontische Strukturenrealist behauptet aber, die Welt bestünde aus definierten Entitäten, genannt Strukturen, aber alle seine Begründungen fußen auf den ontisch-unscharfen und rein operational begründeten Begriffen der Physik, und ihren – ebenfalls für operationale Zwecke – weitestgehend idealisierten und reduzierten fundamentalen Entitäten. Ein Ideengebäude, das auf dem Begriffs- und Methodenapparat der Physik aufbaut, ist auf Treibsand errichtet. Lassen wir als Philosophen besser die Finger von der Physik (solange wir mit unseren Behauptungen nicht in Widerspruch zu ihr geraten).

Aber auf was kann man noch bauen, wenn man sich der Ontologie dieser Welt nähern will – wenn hierzu schon die (ansonsten operational sehr erfolgreichen) Begriffe versagen? Ich meine, man kann die Mathematik in den Fokus nehmen. Sie sollte uns etwas über die Wirklichkeit sagen – aber was? Auch hier darf man sich nicht auf die Physik verlassen, sie hat größte Probleme, die allgemeinen Gleichungen ihrer Theorien (den formalen Kern ihrer Theorien) zu verstehen: denn was ist E und B in den Maxwell-Gleichungen (metaphysisch unverstandene Felder), was ist Y in der Schrödingergleichung (eine sogenannte Wellenfunktion). Wenn schon die Physik trotz hervorragend funktionierender instrumenteller Anwendung ihrer Mathematik nicht dahinterkommt, was ihre Mathematik über die Ontologie dieser Welt aussagt, wie soll ein armseliger Philosoph wie ich dann das Licht der Erkenntnis erblicken.

Die Antwort lautet: sich endlich frei machen von fremden (physikalischen) Theorien und eigenständig denken. Ich frage Sie: blickt nicht die Philosophie auf die Physik wie das Karnickel auf die Schlange. Die Physik sagt etwas und die Philosophie sagt: oh wie schön. Als grundlegende Wissenschaft kann sich die Philosophie nur behaupten, wenn sie sich nicht weiter auf fremde Theorien stützt, sondern eigenständig Begriffe, Ideen und Konzepte ins Spiel bringt – und keine reduzierten physikalische Modelle zum ontologischen Grund der Welt erklärt, die genauso gut auch aus der Modellküche der Physik stammen könnten. Wir sind doch nicht bessere Physiker.

Ich bin jetzt am Ende etwas überheblich und apodiktisch geworden, das ist überhaupt nicht meine Art, aber im Überschwang der Ideen kommt man mal in so einen Diktus. In Wirklichkeit sind das alles nur Vorschläge zur Diskussion und ich hoffe auf heftigen Widerspruch. Ich verspreche Ihnen auch, dass ich einen philosophischen Weg zur Überwindung der beschriebenen Probleme aufzeigen werde, aber der erste Schritt dazu ist eben, die derzeit beschrittenen Wege als Sackgasse zu qualifizieren, um dann den eigenen Weg als Alternative besser emporzuheben. Es wird nur ein paar Tage dauern, da ich beruflich derzeit sehr angespannt. Aber Versprechen werden gehalten.

Es grüßt Sie herzlich

B.J.Stein