Illusion der Zeit

Gastbeitrag von Heinz Luediger: „Die Illusion der Zeit oder Wo Kant irrte“

Gastbeitrag von Heinz Luediger: „Die Illusion der Zeit oder Wo Kant irrte“

In diesem neuen Gastbeitrag von Heinz Luediger, der schon häufiger auf meiner Seite seine hervorragenden Gastbeiträge (s. „Skizze eines Negativen Strukturalismus” oder „Dialektik minus Illusion gleich Metaphysik?”) veröffentlicht hat, geht es diesmal um das Konzept der Zeit. Ich finde seinen Essay sehr interessant, da er ein hervorragendes Komplement zu meinem anderen Artikel „Eine strukturierte Geschichte der Zeit“ darstellt und das Ganze mal aus philosophischer Sicht von den Vorsokratikern bis Kant beleuchtet. Hierbei spannt er einen „logischen Faden“ durch die Philosophiegeschichte, der sich an den metaphysischen Begriffen des „Sein und Werden“ orientiert und in der steilen These mündet, dass die „Zeit“ mit der „Logik“ identisch sei. Aber dies soll Herr Luediger in seinem hier veröffentlichten Essay lieber einmal selber darlegen:

 

Die Illusion der Zeit

oder

Wo Kant irrte

Die Geschichte der Philosophie beginnt mit den griechischen Vorsokratikern. Das Wenige, das von ihnen überliefert ist, greift auf Fragmente, vornehmlich aber auf Zitate späterer Philosophen (z.B. Aristoteles) zurück. Mit wenigen Ausnahmen würde man die Vorsokratiker nach moderner Nomenklatur als Naturalisten bezeichnen, insofern sie übernatürliche und rein ideelle Verursachung ablehnten. Dem Muster griechischer Mythologie folgend versuchten sie das Gewordensein des Seins aber nicht Titanen und Göttern in die Schuhe zu schieben, sondern aus elementaren Verhältnissen herzuleiten. So postuliert Thales das Wasser als Ursprung allen Seins, Anaximander das Unbegrenzte, Anaximenes die Luft und Heraklit das Feuer. Wenn auch die magere Quellenlage eine detaillierte Analyse der Vorsokratiker nicht hergibt, deutet sich bei ihnen doch ein fundamentaler Wandel im Verständnis der ‚Zeit‘ an: weg von der mythologischen Entfaltung des Seins durch göttliche (Ver)Fügung, hin zur logisch-zeitlichen Evolution. Heraklits panta rhei bringt diesen Wandel zum geschichtlichen Verständnis der Zeit auf den Punkt. Doch das Werden in geschichtlicher Zeit, der Übergang von Kairos (dem kontextuell richtigen Zeitpunkt) zu Chronos (der logisch-linearen Entwicklung), ist bis heute mit enormen Problemen und Paradoxien befrachtet, welche schon die Eleaten feinsinnig herausgearbeitet hatten. Die Paradoxien Zenos von Elea bezweifeln nicht, daß z.B. der schnelle Läufer Achilles im Wettlauf den Vorsprung der Schildkröte einholen kann, sondern, daß die Sprache der Bewegung, der Veränderung in der Zeit überhaupt mächtig ist. Dies hatte schon sein Lehrer Parmenides vorweggenommen, als er Bewegung und Veränderung als Illusionen bezeichnete. Die Jenseitigkeit und die Absurditäten der theoretischen Physik (ab 1900) sowie die schon sprichwörtlich gewordene inhärente Widersprüchlichkeit und Komplexität der Moderne im Allgemeinen haben ihren Ursprung in der Animation von ursprünglich zeit-losen Wissensgestalten. Sie entstehen, wenn das grammatikalische Verb naiv-empirisch als Ausdruck der Bewegungsart eines Subjekts verstanden wird, statt als dessen konstituierendes und erhaltendes Element. In Frage steht also, ob eine begrifflich diskrete Sprache dem Werden prinzipiell die Mittel seiner Darstellung überhaupt bereitstellen kann.

Mit Sokrates bricht die naturalistische Philosophietradition in Griechenland abrupt ab. Sein Bekenntnis zum Nichtwissen darf aber angesichts der überragenden Leistungen griechischer Mathematiker, Literaten, Seefahrer, Architekten und Ingenieure nicht als wissenschaftliche Bankrotterklärung verstanden werden. Eher bezieht es sich speziell auf das Scheitern der vorsokratischen Auseinandersetzung mit der Bewegung, mit dem Werden und der ‚Zeit‘. Was er postuliert erhebt das Nichtwissen(können) des wie des Wissens zur Bedingung des Wissens überhaupt. Wenn aber nur das daß – nicht aber das wie – gewußt werden kann, ist die Logik außen vor. Nach dieser Ernüchterung steht bei Platon nicht zufällig wieder das Sein mit seinen ewigen (invarianten) Ideen im Vordergrund, weshalb er häufig als rechtmäßiger Erbe des Parmenides angesehen wird. Das Schöne und das Wahre unterliegen nach Platon nicht dem Gewordensein – sie sind ewige, oder wie ich denke, buchstäblich zeit-lose Wissensgestalten. Diese sind, nach Platon, keine freien menschlichen Schöpfungen. Vielmehr scheinen wir uns ihrer zu ‚erinnern‘, was den (zeit-losen) Ideen eine gewisse Notwendigkeit aber auch eine gewisse a priori Vertrautheit beilegt. Sie treten nicht revolutionär ins Sein, sondern eher komplementär, kumulativ und augmentativ*. Doch Platons Vorstellung von der Idee, die er auch als Genus, Paradigma oder Logos bezeichnet, bleibt den jeweiligen Dingen und Begriffen allzu verhaftet. „Genus“ zum Beispiel suggeriert eine Gruppenähnlichkeit, der ein ‚Urbild‘ zugrunde liegt, welches Platon aber nicht im Stande ist zu charakterisieren, und „Paradigma“ bezeugt zwar im para ein Hinzufügen zu anderem, doch bleibt die Natur des Hinzugefügten im Kontext des Anderen unbesprochen. Soweit ich sehen kann, gibt es bei Platon keinen Ansatz die Existenz der (Platonischen) Ideen und das Schöne auf deren kategoriale Verschiedenheit und damit auf ihre Absolute Widerspruchslosigkeit und Gleich-Gültigkeit zurückzuführen. Und doch kann das, was Platon das Schöne und Wahre nennt, im Gegensatz zum Inhalt des Wissens durchaus als eine ästhetische Struktur interpretiert werden. Platon scheint erkannt zu haben, daß die (positive) Logik, die Argumentation von Wissen mittels der Inhalte dieses Wissens bestenfalls tautologisch, partiell und ideologisch sein kann. Denn diskretes Wissen kann durch anderes diskretes Wissen nie gestützt, sondern bestenfalls in Zweifel gezogen werden (siehe Popper). Vielleicht verlangt Platon deshalb von der Wahrheit neben ihrer Behauptung auch ihre Gegenwart, d.h. ihr Erscheinen oder Anwesen als kategorial Anderes des diskreten sprachlichen Arguments. Die Erscheinung (die empirische Realität) könnte das Ergebnis einer holistischen Filterung menschlicher Erkenntnistätigkeit sein, wobei Behauptungen, Theorien und Hypothesen, die von diesem Filter nicht durchgelassen werden – die sich nicht im Hier und Jetzt zeigen – in den (ideo)logischen Domänen der Vergangenheit und Zukunft stecken bleiben. In seinem Dialog Sophistes versucht Platon eine Abgrenzung der Philosophie von dem zu seiner Zeit hoch in Kurs stehenden Sophismus, einer Argumentationsweise, die, durch den Bezug von Sein und Werden (Phänomen und Modell des Phänomens) auf den selben Gegenstand Paradoxien und Scheinargumente zum Zeck der Täuschung oder Überredung hervorbringt. Daß man nicht zweimal in denselben Fluß steigen kann ist eine solche Konstruktion oder auch der sogenannte Quantenkollaps, der Zusammenbruch der Wellenfunktion im Moment der Beobachtung.

Platons Schüler Aristoteles startete den letzten Versuch der griechischen Klassik das Problem der Bewegung, Veränderung und der Zeit mit den Mitteln diskreter Logik und Mathematik zu lösen. Es sollte auch der letzte Versuch bis zur Erfindung der Kontinuumsmathematik (Newton, Leibniz) in der Neuzeit bleiben, welche die Bewegung aus der geschichtlichen Zeit heraushob und sie als einen ideellen, kontinuierlichen Körper im Raum behandelte; als Trajektorie in der klassischen Mechanik, bzw. als Feld in der klassischen Wellentheorie. Die diskrete Frage nach dem wie der Bewegung verschwindet dabei im kategorial Anderen der infinitesimalen Nachbarschaft einer Wissensfigur wobei beide Momente (Phänomen und Theorie) eine wissenschaftliche Metapher bilden, die sich allein durch ihr sich-zeigen legitimiert. Aristoteles jedoch geht zurück auf und präzisiert das bis heute gängige Zeitverständnis der vorsokratischen Empiriker als Vorstellung einer Vergangenheit, die ein Sein war, eines momentanen, gegenwärtigen Seins und einer Zukunft, die noch kein Sein ist. Seine Ablehnung der Ideenlehre Platons wirft ihn auf den rein logischen Diskurs von je diskreten Inhalten des Wissens zurück – und er scheitert damit auf ganzer Linie. Bewegung, verstanden als Ortsänderung von Materie in Raum und geschichtlicher (empirischer) Zeit, führt nicht nur zurück zu den Paradoxien Zenos, sondern auch zu den Paradoxien und Absurditäten der Quantenmechanik sowie der modernen Kosmologie. Die ‚Zeit’ in den Gleichungen der klassischen Physik ist eben keine geschichtliche Zeit sondern Phase, Konstellation oder Index.

Geschichtliche Zeit, wie ich sie verstehe, besteht ausschließlich aus einer Abfolge von Abweichungen von der Erwartung, von einer Erwartung, die uns das zeit-lose (kategoriale) Wissen vermittelt. Mit anderen Worten: die geschichtliche Zukunft ist unabdingbar offen und sie ereignet sich ausschließlich als leerer event in der Form einer Abweichung von der Erwartung, deren in-die-Welt-treten wir ironischerweise an Teilen und Vielfachen einer vollen Umdrehung der Erde festmachen, d.h. an Raum und Geometrie. Die Zukunft zu gestalten, bedeutet demnach Luftschlösser an Orten zu bauen, die einst bewohnbar waren. Aus diesem Grund war es in allen vormodernen Kulturen die Aufgabe von vornehmlich Ältestenräten den Hereinbruch der Zukunft und damit der Zeit ins Sein zu verhindern. In althebräischer Sprache z.B. liegt nicht die Zukunft (wie in moderner Vorstellung) vor uns, sondern die Vergangenheit, weil sie bekannt ist oder prinzipiell bekannt sein könnte. Die Zukunft hingegen ist unbekannt und fällt den Hebräern in den Rücken. Die Umkehrung dieser vernünftigen Zeitvorstellung durch den logischen Begriff des Fortschritts-zum-Besseren ist die Wurzel der meisten unserer heutigen Probleme. Wenn wir Heutigen als Zeit-Junkees die geschichtliche Zukunft mit gewaltigem Ressourcenaufwand geradezu herbeiforschen und gleichzeitig von Nachhaltigkeit und Resilienz faseln, hört sich das in meinen Ohren nicht nur lächerlich an, sondern auch fahrlässig.

Mehr als zweitausend Jahre nach Platon legt Kant mit der Kritik der reinen Vernunft ein philosophisches System vor, das in großen Teilen Wissen und Erkenntnis erneut auf Struktur statt auf diskursive Verhandlung zurückführt. Vereinfacht kann man vielleicht sagen, daß Kant die Struktur (Kategorien) a priori setzt, in der dann Phänomene und Dinge als Inhalte erscheinen können. Dabei sollte man, meiner Meinung nach, das a priori keinesfalls zeitlich, also als der Erfahrung vorausgehend interpretieren. Vielmehr bezeichnet es die Absolute Andersheit von Struktur und deren Inhalten. In vielen vergangenen und gegenwärtigen Kulturen wurde/wird das spontane Zusammentreten von Struktur und Inhalt als Erleuchtung bezeichnet, an deren Anfang nicht die neugierige wissenschaftliche Frage steht, sondern das Leiden an der Abweichung von der Erwartung, am Verlust der Ganzheit. In der Transzendentalen Ästhetik definiert Kant die ‚Zeit‘ als Dimension der inneren Anschauung. Ich finde es bemerkenswert, daß er die ‚Zeit‘ nicht im Raum, in der Dimension der äußeren Anschauung sucht, d.h. bei den Dingen, die sich doch offensichtlich im Raum bewegen. Die innere Anschauung und die Zeit scheinen ihm irgendwie abgesetzt von dem, was uns in der äußeren Realität als Bewegung begegnet. Ansonsten aber behandelt er die ‚Zeit‘ analog zum Raum, nämlich als Kategorie synthetisch a priori, d.h. als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Da aber Kategorien, wie ich sie verstehe, uneingeschränkt innert und daher zeit-los und additiv sind, die Zeitaber ein Werden, eine plastische Verformung von Teilen des Seins und seiner Begriffe impliziert, also eine Veränderung, kann sie nicht zum System der Kategorien gehören, weil ein solcher lokaler Eingriff ins Kategoriensystem dessen Orthogonalität zerstört. Denn das Wesen der Dinge liegt nicht ihren Begriffen, sondern in der Konstellation aller Begriffe. Als einzige ‚Veränderung’ des Kategoriensystems ist daher dessen kategoriale Erweiterung zulässig. Empirismus, Naturalismus und Pragmatismus haben haben uns das Bild vermittelt, daß die Welt da draußen ist. Entsprechend versucht die Umweltbewegung das Umweltproblem da draußen zu lösen. Aber, um es frei nach Adorno zu sagen, es gibt kein richtiges Handeln im Falschen, d.h. im Werden. Unter der falschen Prämisse des Fortschritts wird die Weltrettung nicht gelingen, weil wir nicht die Welt, sondern die grundlegenden Strukturen des Denkens reformieren, bzw. uns ihrer wieder erinnern müssen. Es gibt bis heute Sprachen von abgeschirmt lebenden Keinstkulturen, denen ein Tempussystem abgeht. Der Linguist Daniel L. Everett z.B. beschreibt Sprache und Kultur der Pirahã, die tief im Amazonasbecken leben, als reine Unmittelbarkeits- oder Anwesenheitskultur. Sie haben weder Ursprungsmythen noch eine Erwartung an die Zukunft: Jeder Tag ist gleich! Ihre Grammatik verfügt nicht über die Mittel Geschichten zu erzählen (no time – no lies). Die ‚Zeit’ ist offensichtlich entbehrlich in der Sprache von Gemeinschaften, die im Einklang mit ihrer Umwelt leben, was die Vermutung nahelegt, daß sie ein sprachlicher Fehlermodus in Kulturen ist, denen das gestalten der Zukunft über den Kopf gewachsen ist.

Seefahrt und Astronomie lehrte die Menschen, daß sie nicht auf einer ebenen Scheibe leben. Der Übergang zur Kugelgestalt der Erde änderte einerseits alles, andererseits (lokal) aber rein gar nichts – er stellt eine geglückte Erweiterung des Kategoriensystems dar. Gleichermaßen lag die große Leistung der klassischen Physik in der Erfindung ideeller Größen (Kraft und el.mag. Welle bzw. Feld), die den Phänomenen ‚Bewegung‘ und ‚Licht’ ihre hergebrachte Bedeutung ließen und ihnen anderes aber gleichwertiges Wissen an die Seite stellten – nicht als besseres Wissen, sondern als eine kategorial und damit unwidersprüchlich verschiedene Sicht auf die Dinge. Der klassischen Mechanik und Wellentheorie sowie der klassischen Chemie sind die geschichtliche Zeit daher fremd. Im Gegenteil: ihre Gesetze sind invariant gegenüber Verschiebung in geschichtlicher Zeit (Energieerhaltungssatz). Die klassische Physik (und Chemie) macht folglich keine Vorhersagen, sondern beschreibt ideelle Körper im Raum. Seither gelang eine kategoriale Erweiterung unseres Wissens nur noch in der Biologie mit der Erfindung des Gens. Aber auch das Gen hat keine zeitlichen Expressionen, es steht den Phänomenen gleich-gültig, unreduzierbar und unwandelbar gegenüber.

Das existenzielle Problem der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte dagegen nicht zu einer kategorialen Entfaltung des Wissens, sondern zu einer Revolution. Im Vorfeld der ‚Lösung‘ wird Planck zitiert, er sei bereit die gesamte Physik mit Ausnahme der Erhaltungssätze zu revidieren. Doch es kam schlimmer. Die Diskretisierung und in der Folge Logifizierung der ‚neuen‘ Physik (die Arithmetisierung des Kontinuums) führte zwangsläufig zur Reanimation der ‚Zeit‘ in der theoretischen Physik, die sich folgerichtig aus dem Hier und Jetzt verabschiedete. Zur Freude einer erblühenden Existenzialphilosophie wandelte sich das Verständnis der Physik von einem System von Naturgesetzen zu einem Instrument der Prognose historischer Ereignisse und Bohrs Begriff der Individualität der Quantenprozesse verbürgt die beginnende Vermengung von Kunst, Soziologie und Naturwissenschaft. Diesen Umschlag von Raumgestalten in Zeitgestalten in der Wissenschaft halte ich (neben den Katastrophen) für das bedeutendste Ereignis des 20. Jahrhunderts. Es bezeichnet den Übergang von einer Wissens- zu einer Risikogesellschaft, die ihre Sprache letztlich an Wünschen, Ansprüchen und systemischen Zwängen ausrichtet – ausrichten muss – weil Zeitgestalten komplex und prinzipiell unbeherrschbar sind, weil sich vernünftige Sprache den komplex Handelnden entzieht. So erinnert der inzwischen hysterische Ruf nach Innovation dem Hilferuf eines in den Fehlern der Vergangenheit Ertrinkenden. Doch die Rettung kann nicht gelingen, weil eine Unzahl gestalterischer Eingriffe in Gesellschaft und Wissen zur Verwilderung der Prämissen geführt haben – es gibt keine Gewissheiten mehr, die sicheren Halt für eine Korrektur böten. Daran haben die komplexen Wissenschaften, als gestalterischer Arm des Politischen, erheblichen Anteil. Geworfen in die politisch-philosophisch gewollte Komplexität basteln sie, ermutigt durch einen unausgesprochenen multilateralen Nichtangriffspakt, an logischen Kleinstwahrheiten und Legowelten herum, die jedoch immer kürzere Verschnaufpausen auf der Flucht vor den Fehlern der Vergangenheit bereitstellen und gleichzeitig die Verwicklung in unüberschaubare Weltbezüge vorantreiben.

Im Gegensatz zur (klassischen) Theorie beruht das wissenschaftliche Modell nicht auf ideellen Raumgestalten sondern auf Daten, in der Regel Zeitreihen. Daraus ergeben sich gewichtige Unterschiede: die Theorie korrespondiert widerspruchsfrei mit den Phänomenen, was es z.B. erlaubte, Menschen auf den Mond und zurück zur Erde zu bringen sowie Sonden in die entferntesten Winkel des Sonnensystems und sogar durch die Saturnringe zu navigieren; den Theorien entsprechen Phänomene und umgekehrt, weil sie eine sprachliche Basis haben, die alleinig der Feststellung und Elimination von Widersprüchen fähig ist. Daten, wie sie Eingang in Modelle und Simulationen finden, geht diese universelle Korrespondenz ab; zu einer Zeit mag ein gewisser Dollarkurs eine florierende Konjunktur erklären, zu einer anderen Zeit mag der gleiche Dollarkurs in eine Phase konjunktureller Schwäche fallen. Kurz – Daten sind nicht reziprok an Phänomene gekoppelt. Eher sind sie maximal dekontextualisierte und entsprachlichte Ereignisse in historischer Zeit, was sie politisch interessant macht, weil der Kontext erst an die Daten herangetragen werden muss. Wenn also zwei Wissenschaftler oder Politiker aus den gleichen Daten divergente oder gar gegensätzliche Schlüsse ziehen, bedeutet das nicht, daß einer von ihnen ‚falsch’ spielt, sondern beide! Und im Wissen, daß sie ‚falsch’ spielen und nicht ‚gewinnen’ können, tragen sie als Vorabentschuldung das Mantra: „Es gibt keine einfache Antworten“ vor sich her. Das ist natürlich richtig, wenn man versucht die Suppe mit einer Gabel zu ‚löffeln‘. Das wissenschaftliche Modell und die daraus fließende Zukunftserwartung sind schlicht Kategorienfehler, indem sie Seinsbegriffe auf historische Datenreihen, d.h. auf das Werden anwenden. Das Resultat dieser Entwicklung ist Komplexität, die dann in der Tat keine einfachen Antworten mehr zuläßt. Als überbordende Gestaltenfülle ist sie der euphemistische Begriff für Sprach- und Kontrollverlust. Die Hoffnungen, die diesbezüglich in die künstliche Intelligenz gesetzt werden, gründen in der falschen Annahme, daß Komplexität aus der für Menschen unüberschaubaren Menge von Daten entsteht, die aber von von Rechenmaschinen bewältigt werden könne. Tatsächlich aber zeigen Mandelbrots ‚Apfelmännchen‘ und das allgemeine Dreikörper- Gravitationsproblem, daß Komplexität keinen Boden hat. Es ist nicht die Menge an Daten, die Komplexität erzeugt, sondern das Datum als solches. So wie man nur mit einem König nicht Schach spielen kann, ist das Datum ein aus allen Kontexten gerissenes, gleichermaßen objektives wie sinnloses Ereignis, dessen korrelatives Re-mapping in den Erfahrungsbereich (in den Kontext) mit wachsender Länge der Zeitreihe eine unendliche Anzahl von Gründen in Form weiterer Daten erfordert. Das ‚Lernen‘ der Komplexität kann prinzipiell zu keinem Ende kommen, weil die Zukunft offen ist oder genauer, nur in der Form von Abweichungen von Erwartung besteht. Der seit Mitte des 19. Jahrhunderts geäußerte Determinismusverdacht gegen Newton und die gesamte klassische Physik, der Verdacht einer physikalischen Vorbestimmtheit der Zukunft, ging daher vollkommen ins Leere. Die Ironie dieser unglücklichen Attacke liegt nun darin, daß die Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts (z.B. Bergson, Heidegger) mit der geschichtlichen Zeit genau das protegierte und zum wissenschaftlichen Standard verhalf, was uns die Freiheit nimmt. Im Epizentrum eines Erdbebens sind wir der geschichtlichen Zeit maximal ausgeliefert. In anderen Worten: in kaum einer anderen Situation dürfte die Abweichung von der Erwartung höhere Dichten erreichen und das Wissen vollständiger außer Kraft gesetzt sein. Unter diesen Umständen bricht offensichtlich jede Erwartung und damit auch jede Freiheit zusammen, denn frei können wir nur sein, wenn uns das Ergebnis unseres Handelns bekannt ist. Wenn das Ergebnis gleicher Handlungen jedoch zeitvariant wird, bleibt uns nur die Rolle von Entwurzelten und Getriebenen.

Im Verlauf des 20. Jahrunderts hat sich das Rhizom (Deleuze, Guattari) der Dekonstruktion (Derrida, Rorty u.a.) als konsequente Verzeitlichung des Seins über die gesamte Sprache ausgebreitet. Zwar tragen die Dinge noch die Namen des Seins, haben aber im Werden jede verbindliche Bedeutung verloren. Die resultierende Dysfunktionalität wurde einerseits jahrelang durch die Heroisierung des Scheiterns übertüncht und andererseits der Absurdität preisgegeben (z.B. in Becketts Warten auf Godot)). Doch der gesellschaftliche Kitt ist ausgetrocknet und legt nach und nach die schlecht gefügte Bausubstanz des Wissenschaftssystems offen. In Umkehrung eines Kirchenspruchs könnte man sagen: was Gott (begrifflich) getrennt hat, soll der Mensch nicht zusammenfügen. Doch genau das war das explizite Ziel gewesen, als in den 1980er Jahren eine Gruppe libertärer Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten die Grenzen zwischen den klassischen Fakultäten für aufgehoben erklärte und die Komplexitätsforschung als Wissenschaft etablierte. Damit folgten sie u.a. Richard Rortys Aufruf, die Theorie als Mittel der Wissenschaft auf den Müll zu werfen und statt dessen die Dinge schlicht in ihrer historischen Entwicklung zu betrachten. Nach der Etablierung der Quantenmechanik als Wissenschaft weltzeitlicher Vorgänge kleinster Teilchen halte ich die Konstituierung der Komplexitätforschung im Santa Fe Institut für das zweitwichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts. An den Universitäten wird schon bald die dritte Generation von Wissenschaftlern im Glauben an die Allmacht von Daten ausgebildet werden, im Glauben an die Existenz von Daten jenseits und unabhängig von menschlicher Sprache und Theoriebildung. Doch die schlichte Einsicht, daß ein Ding nicht gleichzeitig sein und werden kann – daß es also im Werden notwendig namen- und gestaltlos wird – ist hinreichend, die Daten-Korrelationsmaschinerie kritisch zu hinterfragen.

Die ‚Zeit‘, wie man es auch dreht und wendet, passt sich nicht in ein kategoriales System ein. So wie sich die Partei Die Grünen quer über das traditionell kategorial- komplementäre Parteienspektrums legt, liegt die ‚Zeit‘ quer zu den komplementären Kategorien des Seins. Die Beziehung zwischen beiden ist asymmetrisch: das kategorial Geordnete ist zwar immer auch logisch-zeitlich interpretierbar, aber das Logisch-zeitliche ist nicht notwendig kategorial, d.h. Absolut unwidersprüchlich. Daraus ergibt sich die logische Analyse als Rekapitulations- und Fehlererkennungsmodus des Denkens. Dieser Check darf daher nur positiv ausgehen, in allen anderen Fällen ist die zu prüfende Idee zu verwerfen. Es ist aber das Wesen der Risikogesellschaft, diese Prüfung bewußt auszulassen, was stark an einen britischen wenig erfolgreichen Fußballstil erinnert, der als kick-and-rush bekannt wurde. Die ‚Zeit‘ schließlich ist die Erfahrung permanent enttäuschter Erwartungen, des ständigen Scheiterns, des Nicht-Eintritts einer erwarteten Zukunft. Die Logik kann folglich nicht alleiniger Modus des Denkens sein, denn sie setzt ein widerspruchsfreies kategoriales System (d.h. zeit-invariante Begriffe) schon voraus, welches sie selbst nicht in der Lage ist zu erzeugen; zur Welt-Konstruktion ist sie daher völlig ungeeignet. Der wissenschaftstheoretische Dichotomie-Dschungel, ein unüberschaubarer Verhau logischer Konstruktionen, ist z.B. das Ergebnis einer (trotzt Gödel) ungebrochen (formal)logisch operierenden Wissenschaft und Philosophie. Unvollständigkeit oder Widersprüchlichkeit sind die notwendige Konsequenz einer Geisteshaltung, die das Sokratische Nichtwissenkönnen des wie des Wissens durch eine Jagd nach dem hack der Codes des Universums und des Bewußtseins ersetzt hat. Wir werden aus diesem Dschungel nicht herausfinden ohne die falsche Prämisse der ‚Zeit’ ersatzlos zu streichen, denn die ‚Zeit’ ist die Logik. Ich möchte schließen mit einem Wort des Aristoteles: Das stärkste logische Argument ist der Widerspruch, aber nicht ohne es zu radikalisieren: Der Widerspruch ist das einzig haltbare logische Argument überhaupt.

* Ich habe diesen Seins-Komplex in früheren Beiträgen an dieser Stelle als Absolute, orthogonale bzw. kategoriale Widerspruchslosigkeit interpretiert, z.B. in Skizze eines negativen Strukturalismus oder Dialektik minus Illusion gleich Metaphysik?

 

Ich bin immer mit meiner „Diogenes-Lampe“ unterwegs, um Menschen zu finden, die sich auch nach ein wenig „Licht der Erkenntnis“ sehnen. Also wenn Ihr eigene Beiträge oder Posts für meinen Wissenschaft-/Philosophie-Blog habt, immer her damit. Sie werden mit Eurem Namen als Autor auf meiner Seite veröffentlicht, so lange sie den oben genannten Kriterien entsprechen. Denn nur geteiltes Wissen ist vermehrtes Wissen.
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Bernd-Juergen Stein
Bernd-Juergen Stein
3 Monate zuvor

Hallo Herr Luediger,
so wirklich schlau werde ich aus diesem Beitrag nicht. Was wollen Sie uns sagen? Wieso kann Zeitliches nicht neben dem Zeitlosen existieren? Es gibt Dinge, Sachverhalte, Ideen und Wissen darüber, das im Zeitverlauf vergeht, und Dinge, Sachverhalte, Ideen und Wissen über dieses, das sich im Zeitverlauf nicht ändert.

Das was ist, was im Modus des Seins existiert, entsteht und vergeht, aber nicht deshalb, weil dieses Entstehen, Sein und Vergehen zu ihrem Wesen gehört, also intrinsisch und widersprüchlich ist. Sein entsteht nicht aus anderem Sein. Sein entsteht aus Möglichkeiten. Möglichkeiten, die modalen Begleiter des Seins, können sich in wirkliches Sein wandeln, nämlich dann, wenn sich die einer Sache zugeordneten Möglichkeiten sich so verändert haben, das es nur eine und keine andere Möglichkeit mehr gibt. Wenn es nur noch eine Möglichkeit für das So-Werden gibt, dann wird es so. Das was vorher nur möglich ist, wandelt sich instantan dann zum Wirklichen (wandelt sich nicht in der Zeit). Die Möglichkeiten in einer Menge an Möglichkeiten unterliegen nicht der Zeit, Möglichkeiten können instantan entstehen und vergehen, dies im ganzen Universum in einem Augenblick. Das ist eine (raum-)zeitlose Welt neben der wirklichen, zeitbehafteten Welt, und die eine geht aus der anderen hervor.

Materielle und ideelle Strukturen (Logik) erschaffen selbst die Möglichkeiten ihrer Veränderung oder erschaffen sie nicht. Die Erschaffung hört auf, wenn Materie oder Logik im Gleichgewichtszustand sind (im erweiterten Sinne), und kein Zwang von außen stattfindet, aber solche Strukturen gibt es bekanntlich in der Realität nicht, nur als vereinfachte Idealisierung. Nun leben wir aber in der Realität, und diese schafft immer neue Möglichkeiten, daraus Wirklichkeiten, die wieder neue Möglichkeiten hervorbringt. In einen Widerspruch bringt mich dieser Kreislauf nicht, schließlich ist in diesem Universum nichts, aber auch garnichts statisch – aber eben nicht als intrinsiche Eigenart, sondern weil das, was ist, ständig eine bestimmte (begrenzte) Mange an Möglichkeiten seiner eigenen Veränderung generiert. Reale und modale Welt bilden eine Einheit, und daher bildet das was ist, und das, was sich verändert, aus diesem Grund auch eine Einheit.

Ihre Widersprüche die Sie sehen, sehe ich auch diesen Gründen nicht. Ich habe wahrscheinlich damit eine Gegenposition zu ihrer nicht gerade verständlichen Argumentation, aber sicher bin ich mir nicht.

Es grüßt Sie herzlich
Bernd Stein

Rainer
Rainer
2 Monate zuvor

Hallo Heinz Luediger,
auch ich kann aus diesem Beitrag nicht recht schlau werden; daher kann ich nur punktuell einhaken:
— sich an Kants Kategoriensystem abzuarbeiten, das ist schwierig wenn nicht mittlerweile sogar müßig; denn er selbst begründet es nicht, sondern führt es einfach ein. Insbesondere sagt er nicht, wie das Denken nun eigentlich genau mit diesen Kategorien arbeitet, — irgendwie sollen sie beim Denken und Begriffe-bilden mit dabei sein, aber wie genau — keiner weiß es. Stattdessen erscheint offenkundig, dass diese „Kategorien“ allein analytische Qualität haben und von Kant auch auf diesem Wege ‚gefunden‘ bzw. definiert wurden — eine m.E. mehr oder weniger willkürliche Zusammenstellung von Grundbedingungen für und Eigenschaften von Aussagen / Urteilen.
Nun noch zwei Eindrücke, ausgehend vom Ende des Artikels:
— „‚Zeit‘ ist Logik“ — Aussagen dieser Art mit dem Wort IST, nämlich Gleichsetzungen völlig verschiedener Qualitäten oder Seins-Entitäten, solche sind nach meiner Erfahrung immer schlichtweg falsch.
— „Das stärkste logische Argument ist der Widerspruch“ ist m.E. schlicht ein logisch-falscher Satz (sic! — wieder so ein „ist“). Denn: Keine Art von „Widerspruch“ IST in irgendeiner Weise ein „Argument“ (ob logisch oder unlogisch); vielmehr IST ein „Widerspruch“ Ausdruck bzw. steht in Verbindung mit einer bestehenden Unlogik.

Fazit in Form eines Wunsches: also bitte zunächst einmal unbedingt philosophisch-präziser formulieren, damit das Anliegen überhaupt verstanden werden kann.
Es grüßt Rainer

Holger Fischer
2 Monate zuvor

Griechische Mythologie

Das Muster bzw. die Muster der griechischen Mythologie werden im Artikel genannt. Dazu folgendes: Die griechische Mythologie ist die umfangreichste und spannendste Sagenwelt aller Sagenwelten. Thema Zeit: Im Rahmen der griechischen Mythologie spielt das Wort „Zeit“ eine sehr große Rolle. Unklar bleibt allerdings, was „Zeit“ sein soll. Da gab es bereits in der Antike viele unterschiedliche Ansätze, unter welchen Gesichtspunkten man „Zeit“ definieren will. Daran hat sich bis heute nichts geändert. „Kairos steht im Gegensatz zum Chronos, womit ein langer Zeitabschnitt gemeint ist. Ebenso ist der Tag (Hemera) nicht identisch mit Kairos. Hermann Fränkel wird als deutsch-US-amerikanischer Altphilologe beschrieben. 1931 ging Hermann Fränkel auf diese Besonderheit der ältestgriechischen Zeitauffassung mit einem Aufsatz ein und problematisierte sie. Es gibt auch den Begriff Äon (von altgriechisch ὁ αἰών, ho aiṓn, aus archaischem Griechisch ὁ αἰϝών, ho aiwṓn), damit ist ursprünglich die Weltzeit oder Ewigkeit gemeint.“ ->

https://www.mythologie-antike.com/t597-kairos-mythologie-gott-vom-gunstigen-augenblick-richtiger-zeitpunkt

Heinz Luediger
Heinz Luediger
2 Monate zuvor

Hallo Hr. Fischer,

zunächst Dank für Kommentar und Link. Ich finde die gesamte Mythologie des östlichen Mittelmeerraums nicht nur spannend, sondern in Bezug auf die Entwicklung eines Zeitverständnisses sehr erhellend, eher als Philosophie denn als Religionsgeschichte. Denn das Kernthema all dieser Mythologien ist der Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Nicht-Zeit (Äon) und Zeit (Chronos), d.h. zwischen Sein und Werden. Kairos lese ich deshalb als den kontextuell (phänomenal) richtigen Zeitpunkt, z.B. das Feld zu bestellen. Chronos dagegen ist auf die Zukunft ausgerichtet und daher logisch-konstruktiv. Einzig die indischen Denker haben sich der Logik bis weit ins Mittelalter als bloße Maya (Scheinwelt) entzogen.

Gruß

Heinz Luediger