Freud - die gescheiterten Kränkungen der Menschheit

Die gescheiterten Kränkungen der Menschheit

Die gescheiterten Kränkungen der Menschheit – auf dem Sofa mit Freud

„Nehmen Sie doch schon einmal Platz auf dem Sofa und machen Sie es sich gemütlich, Herr Dr. Freud kommt gleich zu Ihnen.“

Der folgende Gastbeitrag Die gescheiterte Kränkung – Warum die Neurowissenschaften unser Menschenbild, allen Unkenrufen zum Trotz, kaum verändert haben“ stammt aus der Feder, ääh Tastatur meines sehr geschätzten Blogger-Kollegen und „Doppelgängers“ Axel Stöcker, mit dem ich nicht nur fachlich viele Gemeinsamkeiten teile. Er hat mir diesen Artikel freundlicherweise zur Verfügung gestellt, den er ursprünglich auf seiner informativen Seite „Der Blog der großen Fragen“ veröffentlicht hatte.

Thematisch passt er hervorragend zu meinem Essay „Das neurozentristische Weltbild„, da er ebenfalls anhand der von Freud postulierten „Kränkungen der Menschheit“ das Scheitern des „Manifestes der Hirnforschung“ auf sehr unterhaltsame Weise darstellt. Diese bekannte Hypothese von Freud sagt doch viel über die allegemeine Verfassung der Menschheit und Ihrem beständigen Wunsche etwas Besonderes darstellen zu wollen aus. Aber bevor ich wieder zu viel sage, ääh schreibe, lassen wir doch lieber Herrn Dr. Freud, ääh Herrn Axel Stöcker zu Wort kommen:

 

Gastbeitrag von Axel Stöcker erschienen auf seinem „Der Blog der großen Fragen“ :

Die gescheiterte Kränkung – Warum die Neurowissenschaften unser Menschenbild, allen Unkenrufen zum Trotz, kaum verändert haben

Angenommen, das Universum wäre eine Party und die Menschheit gehörte zu den geladenen Gästen. Wo hielte sich dieser Gast auf?  Im Mittelpunkt des festlichen Geschehens oder eher zwischen Ausgang und Klotür? Nun, bekanntlich wähnte sich der Homo Sapiens lange Zeit im Zentrum der angesagtesten Tanzfläche, wo die Götter die Musik auflegten, er aber selbst weitgehend das Abendprogramm bestimmen konnte. Es schien auch gute Gründe für diese Ansicht zu geben, bis ihm ein paar Spaßbremsen namens Kopernikus, Darwin und Freud die Partylaune gründlich vergällten.

Die drei großen Kränkungen der Menschheit

Die Rede ist von den drei großen Kränkungen der Menschheit. Die erste – kosmologische – Kränkung bestand in der Einsicht, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums sein konnte. Mit dieser, in der Neuzeit erstmals von Nikolaus Kopernikus formulierten, Erkenntnis rückte natürlich auch die Menschheit – zumindest in einem räumlichen Sinne – aus dem Zentrum des Weltalls.

Darüber hinwegtrösten konnte mensch sich mit dem Gedanken, dass Gott ihn persönlich in die Welt gesetzt habe, auch wenn diese sich um die Sonne und selbige nicht um ihn drehte (was für das nachmittägliche Sonnenbad ja ohnehin zweitrangig war). Vor allem wegen des Fehlens überzeugender Alternativen war diese Erklärung für unsere Existenz noch vor gut 150 Jahren weitgehend common sense in der Wissenschaft – der Mensch als Krone der Schöpfung war gesetzt. Doch mit Charles Darwin kam es zur zweiten – biologischen – Kränkung: der Brite zeigte, dass die Entstehung des Menschen durch Evolution überzeugender erklärt werden konnte. Der Charme der Vorstellung, gemeinsame Vorfahren mit dem Schimpansen, dem Grottenolm und der Hausstaubmilbe zu haben, erschließt sich jedoch bis heute nicht allen Zeitgenossen uneingeschränkt. Bedeutet sie doch letztlich: Nackter Affe statt Krone der Schöpfung – Selters statt Sekt.

Doch letztlich war natürlich weder der Planet Erde noch der menschliche Körper das entscheidende Charakteristikum des Menschen, handelt es sich doch bei beiden letztlich nur um schnöde, zusammengeballte Materie. Wirklich wichtig war doch allein – so konnte man sich zumindest trösten – der menschliche Geist, der über der Materie stand und diese kontrollierte. Doch hier wartete Sigmund Freud mit der dritten – der psychologischen – Kränkung auf: Das sexuelle Triebleben sei nicht vollständig zu bändigen. Es verschaffe sich unbewusst Geltung, weshalb „das Ich nicht Herr in seinem eigenen Haus“ sei.

Weder Zentrum des Universums, noch Krone der Schöpfung, noch Herr im eigenen Haus – die Selbstliebe des Menschen musste zwischen 1500 und 1900 einige Tiefschläge einstecken. Wie sollte das weitergehen? Eine neue menschliche Bescheidenheit schien jedenfalls mehr als angebracht.

Die vierte Kränkung oder: Wer ist bescheidener?

A propos Bescheidenheit: Die Benennung der drei Kränkungen der Menschheit stammt von Freud selbst, der sich damit ganz bescheiden in eine Reihe mit Kopernikus und Darwin gestellt hat. So kann es kaum verwundern, dass große Geister des 20. Und 21. Jahrhunderts in punkto Bescheidenheit nicht hintanstehen wollten und die Reihe der Kränkungen zu verlängern suchten. So wird Richard Dawkins mitunter als Verkünder der vierten – genetischen – Kränkung ins Spiel gebracht, die in der angeblich gesicherten Erkenntnis bestehen soll, dass der Mensch nach der Pfeife seiner Gene tanze und damit lediglich ein Vehikel für die Verbreitung seiner DNA sei.

Allerdings versuchen epochale Denker wie der Blogger und Journalist Sascha Lobo, Dawkins den vierten Platz im Bescheidenheitsranking streitig zu machen. Er findet, die vierte – digitale – Kränkung bestehe darin, dass das Internet nicht „das perfekte Medium der Demokratie und der Selbstbefreiung“ sei, für das er es gehalten habe. Die anscheinend überraschende Einsicht, dass ein neues Medium nicht per se das Gute mit sich bringt, sondern nur einen weiteren Spiegel der Gesellschaft darstellt, in dem, wie in allen anderen Bereichen, um Macht und Einfluss gerungen wird, führte demnach zur digitalen Kränkung des Sascha Lobo und des Restes der Menschheit.

Wie auch immer – Sie können wählen, welche Reihe aufsteigender Bescheidenheit Ihnen mehr zusagt: Kopernikus-Darwin-Freud-Dawkins oder Kopernikus-Darwin-Freud-Sascha Lobo.

Abschied von der Willensfreiheit?

Der Erkenntnistheoretiker Gerhard Vollmer (*1943) hat sich in den 1990er Jahren zwar nicht selbst in die Reihe der Kränker gestellt, aber er hat die Kränkungen genauer analysiert und kommt, je nach Zählweise, sogar auf sieben bis neun Kränkungen, die das sensible menschliche Geschlecht einstecken musste. Als vorerst letzte Kränkung prognostizierte er im Jahre 1994 für das 21. Jahrhundert die neurobiologische Kränkung:

Die Fortschritte der Neurobiologie werden dann auch die nächste Kränkung mit sich bringen. Der dualistisch verstandene ‚Geist‘ oder die unsterbliche ‚Seele‘ werden dabei noch mehr in Wohnungsnot geraten; vor allem aber könnte sich die Willensfreiheit, auf die wir uns so viel einbilden, als Illusion erweisen.“

Der freie Wille – nur eine Illusion!? Eine Vorstellung, die spätestens seit Benjamin Libets erstem Experiment 1979, das ja gerade auch den Lesern diese Blogs ein Begriff ist (siehe hier und hier), die Diskussion nicht nur in wissenschaftlichen Magazinen, sondern auch in den Feuilletons, kräftig befeuert hatte und hat. Vollmer gibt also auch den Tenor der öffentlichen Diskussion Mitte der 1990er wieder, wenn er die Erledigung des freien Willens für eine Frage der Zeit hält.

In dieselbe Kerbe schlugen 10 Jahre später elf Hirnforscher, von denen Gerhard Roth und Wolf Singer die öffentlichkeitsaffinsten waren. Im ihrem vielbeachteten Manifest aus dem Jahre 2004 rufen sie die Dekade der Hirnforschung aus. Dort heißt es, man werde „in absehbarer Zeit“ in der Lage sein „die schweren Fragen der Erkenntnistheorie anzugehen: nach dem Bewusstsein, der Ich-Erfahrung und dem Verhältnis von erkennendem und zu erkennendem Objekt. Denn in diesem zukünftigen Moment schickt sich unser Gehirn ernsthaft an, sich selbst zu erkennen.“ 

Das Ganze sollte „auf dem Verständnis der Arbeitsweise von großen Neuronenverbänden beruhen“. Diese sollten nach der Vorstellung der Wissenschaftler als „mittlere Organisationsebene“ die Brücke bilden, die vom Verständnis des einzelnen Neurons („untere Ebene“) zum Verständnis komplexer Phänomene wie zum Beispiel dem Bewusstsein („obere Ebene“) führen sollte. Ein Konzept, das auch unter der Bezeichnung kumulativer Reduktionismus bekannt ist. Weiter heißt es in dem Manifest:

Dann werden die Ergebnisse der Hirnforschung, in dem Maße, in dem sie einer breiteren Bevölkerung bewusst werden, auch zu einer Veränderung unseres Menschenbilds führen (…) Was unser Bild von uns selbst betrifft, stehen uns also in sehr absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus. Geisteswissenschaften und Neurowissenschaften werden in einen intensiven Dialog treten müssen, um gemeinsam ein neues Menschenbild zu entwerfen.“

Ein neues Menschenbild wurde uns da 2004 also prophezeit – darunter ging es offenbar nicht.

Um die wie vielte Kränkung handelt es sich denn nun bei diesen „Erkenntnissen“? Man kann sie, zumindest was die These, der freie Wisse sei eine Illusion, angeht, getrost als die Fortsetzung der dritten Kränkung mit anderen Mitteln betrachten. Denn was bedeutet die Verneinung der Willensfreiheit anderes, als „nicht Herr im eigenen Hause“ zu sein?

Doch wie sieht die Bilanz heute, 100 Jahre nach Freud, bald 40 Jahre nach Libet, fast 25 Jahre nach Vollmers Prognose und 13 Jahre nach dem Manifest der Hirnforschung aus?

Die Wirrungen des „Manifests“

Die Autoren des „Manifests“ scheinen schon damals ein wenig Angst vor der eigenen Courage gehabt zu haben, denn gegen Ende des Textes wird man vorsichtiger. Es werde nicht in „einem Triumph des neuronalen Reduktionismus enden“ heißt es dort, denn selbst wenn man alle neuronalen Prozesse, die beispielsweise dem Verliebtsein zugrunde liegen, aufgeklärt habe, „so bleibt die Eigenständigkeit dieser ‚Innenperspektive‘ dennoch erhalten.“ Dieser Satz ist nun einigermaßen rätselhaft. Was ist hier mit „Eigenständigkeit“ gemeint? Will man sagen, dass sich die Leute auch dann noch verliebt fühlen werden, wenn die entsprechenden neuronalen Prozesse aufgeklärt sind? Dann ist die Aussage trivial! Oder will man andeuten, dass die „Innenperspektive“ ein eigenständiges Phänomen ist, das durch neuronale Prozesse nicht erklärt werden kann? Dann räumt man hier in einem Nebensatz ein, dass man das Qualiaproblem nicht wird lösen können und widerspricht damit dem wenige Absätze zuvor formulierten Anspruch, Fragen der Erkenntnistheorie und des Bewusstseins angehen zu können.

Der Schlusssatz des „Manifests“ spricht eher für die zweite Deutung, denn dort heißt es, die Hirnforschung müsse auch erkennen „was außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs liegt“ und müsse zu bestimmten Fragen schweigen, so wie auch die Musikwissenschaft die einzigartige Schönheit einer Bach‘schen Fuge nicht erklären könne.

Aber warum dann ein „neues Menschenbild“? Hat uns die Musikwissenschaft denn ein neues Bild von Bachs Fugen gebracht? Wohl kaum! Sieh hat lediglich einige zusätzliche, in erster Linie technische Erkenntnisse beigesteuert. Entsprechend kritisierte der Hirnforscher Wolfgang Prinz schon damals beim Erscheinen des „Manifests“:

Sonderbar und rätselhaft übrigens, dass die Dinge bei Bach’schen Fugen ganz anders bestellt zu sein scheinen, als bei Menschen. Ihre Schönheit, so lesen wir, bleibt von jeglicher Reduktion und Dekonstruktion ganz und gar unberührt. Warum nicht auch unser Bild vom Menschen? Reduktionist muss man schon ganz oder gar nicht sein. Halb oder manchmal geht nicht.“

13 Jahre nach dem „Manifest“ ist die Bilanz durchwachsen (siehe auch Video am Ende dieses Beitrags). Das Gehirn sei noch wesentlich komplexer, als man ohnehin angenommen habe, so der Tenor. Man könnte auch sagen: Man hat die Aufgabe unterschätzt. Oder wurden die vollmundigen Prognosen auch mit Blick auf staatliche Forschungsgeldtöpfe formuliert, wie Murat Karul in seinem Buch unkt?

Wie auch immer. Was die großen, erkenntnistheoretischen Fragen angeht, liefert der Elferrat der Hirnforscher nicht einmal einen Ansatzpunkt für Antworten. Von einem neuen Menschenbild ist keine Rede mehr. Ist das Instrumentarium für diese Fragen vielleicht schlicht ungeeignet? Der Psychiater Felix Tretter, ein Kollege von Wolf Singer meint dazu

„…diese  Frage, wir müssen die mittlere Organisationsebene des Gehirns genauer beschreiben und dann würden wir sie auch verstehen, diese Unterstellung ist falsch, weil sie eigentlich wieder am dem Gehirn-Geist-Problem vorbeigeht.“

Die Wiederentdeckung des Willens“

Und wie sieht es mit dem freien Willen aus? Seit Libet, der ja selbst ein Verfechter der Willensfreiheit war, was gerne vergessen wird, hat sich der Wind auch hier wieder gedreht. In den 2010er Jahren redete man noch vom „Hirngespinst Willensfreiheit“ und der Hirnforscher John Dylan Haynes stellte seinen Sinn für Humor unter Beweis, indem er Entscheidungen für unfrei erklärte, wenn er sie einige Sekunden im Voraus mit sechzigprozentiger Wahrscheinlichkeit vorhersagen konnte. Er hielt es für „unplausibel“, dass Menschen danach in der Lage seien, die so „vorgebahnten Entscheidungen des Gehirns noch umzupolen“. 2015 lieferte er dann selbst den Gegenbeweis für diese These, blieb jedoch bei seiner Meinung, was man als Nachweis für seine ideologische Standfestigkeit werten darf. Dennoch schlägt das Pendel inzwischen in die andere Richtung. „Die Wiederentdeckung des Willens“ titelte Spektrum der Wissenschaft 2015 und stellt lapidar fest „Tiefe Zweifel an der Willensfreiheit waren verfrüht!“. Man hat die Komplexität des Themas – wieder einmal – unterschätzt. Klar scheint nur zu sein, dass sich bewusste und unbewusste Prozesse bei Entscheidungsfindungen überlagern. Womit wir wieder bei Freud, dem Unbewussten und den Trieben wären. Wobei: Steht nicht schon im Matthäus-Evangelium „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“?

„Enttäuschte Hoffnungen“ – 10 Jahre „Manifest“ (3sat) – mit Wolf Singer

https://www.youtube.com/watch?v=0QeDce2UVC0

Erschütterung des Menschenbildes? – Vortrag von Felix Tretter

https://www.youtube.com/watch?v=0cMx-vb52II

Weitere Links zum Thema:

„Hirngespinst Willensfreiheit“ – Interview mit John-Dylan Haynes

Manifest der Hirnforschung

Die Wiederentdeckung des Willens (Spektrum)

Wie frei ist der Mensch? (Spektrum)

© Text: Axel Stöcker

© Einleitung: philosophies.de

Ich bin immer mit meiner „Diogenes-Lampe“ unterwegs, um Menschen zu finden, die sich auch nach ein wenig „Licht der Erkenntnis“ sehnen. Also wenn Ihr eigene Beiträge oder Posts für meinen Wissenschaft-/Philosophie-Blog habt, immer her damit. Sie werden mit Eurem Namen als Autor auf meiner Seite veröffentlicht, so lange sie den oben genannten Kriterien entsprechen. Denn nur geteiltes Wissen ist vermehrtes Wissen.
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Philipp
Philipp
2 Jahre zuvor

Der Artikel von Axel ist schön und kurz auf den Punkt gebracht.

Viele Neurowissenschaftler attribuieren dem Gehirn, zumindest meiner Ansicht nach, übernatürliche Fähigkeiten zu. Das Gehirn schafft nicht kausal den Geist (oder alternativ das Bewusstsein). Die Ansicht dass das Gehirn noch komplexer sei als man bisher angenommen hat, da man das Leib-Seele-Problem ja nach wie vor nicht einmal im Ansatz zu lösen vermochte, teile ich ebenfalls nicht.

Auf der einen Seite ist beispielsweise die Konnektivität des Gehirns quasi unendlich komplex, ja, hier stimme ich zu. Auf der anderen Seite wird die angenommene Komplexität des Gehirns insofern immer weiter gesteigert, als dass man der Ansicht sei dass die Lösung dieser Komplexität, in welcher Form auch immer, uns final näher an die Entschlüsselung des Leib-Seele-Problems trägt.

Mit anderen Worten formuliert: man merkt dass man dem Problem nicht Herr wird; also schlussfolgert man dass das Gehirn schlichtweg noch viel komplexer sei als bisher angenommen. Die Lösung dieser Komplexität wird dann mit der Lösung des Leib-Seele-Problems gleichgesetzt.

Ich denke dass genau hier eine der vielen Fehlannahmen liegt. Man wird das Problem des Bewusstseins auf diesem Wege niemals lösen, da der methodologische Ansatz bereits von Anfang an, mit all den Prämissen die in den Neurowissenschaften über das Gehirn und das Bewusstsein bestehen, fehlerhaft ist.
Das Gehirn ist, genauso wie das Herz, “nur” ein biologisches Organ (und kein Organ mit supernatürlichen Fähigkeiten die zur Schaffung einer inneren Welt in Form des Bewusstseins beitragen könnten). Auf der einen Seite ist das Gehirn komplex; auf der anderen einfacher als angenommen.

Ohne auf die Alternative zum aktuell bestehenden weit verbreiteten Forschungsprogramm einzugehen, die ja in anderen Blogbeiträgen hier schon vorgestellt sind, glaube ich dass diese Kränkung (in Form eines angeblich notwendigen neuen Menschenbildes) früher oder später auf solche (bestimmte) Neurowissenschaftler wie Wolf Singer zurückfallen wird. Die Kränkung wird dann nämlich darin bestehen dass das aktuelle Verständnis des Gehirns im Bezug auf das Bewusstsein fallen wird.

Die Sache stellt sich analog wie das Turmbeispiel damals zur kopernikanischen Wende/Revolution an:
– Für einen Beobachter auf der Erde scheint es so als ob ein Stein der von einem Kirchturm fallen gelassen wird in einer geraden Bahn von der Kirchturmspitze nach unten fällt.
– Wir können dieses einfache Experiment 1000 Mal wiederholen. Dabei können wir immer wieder empirisch feststellen (man muss ja nur hinschauen!), dass die Flugbahn absolut gerade ist.
– Wer etwas anderes behauptet wird also empirisch (und damit natürlich streng wissenschaftlich!) widerlegt.

Das man nun aber logisch-konzeptuell deutlich weiter denken muss, so wie es Kopernikus, Gallileo und co erkannt haben, hat vielen Menschen damals nicht eingeleuchtet. In der Realität fliegt der Stein in der kurzen Fallzeit von 2 oder 3 Sekunden nämlich hunderte (oder gar tausende) Kilometer durch das Universum. Diese Flugbahn ist dabei nicht einmal gerade, sondern bedingt durch die Erddrehung und Laufbahn gekrümmt.

Wie sieht die Situation analog in den kognitiven Neurowissenschaften heute aus?
– Via fMRI, MEG, EEG, etc. lassen sich beispielsweise Korrelationen zwischen neuronaler Aktivität und bestimmten kognitiven Funktionen herstellen.
– Auch neuropsychologische Studien und Befunde zeigen auf, dass beispielsweise neurologische Schäden des Broca-Areals zur starken Beeinträchtigungen in der Sprachproduktion führen.
– Beispielsweise via TMS können wir sogar die neuronale Aktivität von außen über den Schädel direkt beeinflussen.

Wer hier noch an dem empirisch quasi-bewiesenen “Fakt” dass das Gehirn kausal das Bewusstsein schaffe und das Bewusstsein im Gehirn lokalisiert sei zweifelt, der muss wohl Dualist oder sonstwie irgendwie hängen geblieben sein. Ein Professor der kognitiven Neurowissenschaften bestätigte mir kürzlich noch, dass wir bereits einen sehr großen Haufen von Evidenz hätten, dass das Bewusstsein im Gehirn lokalisiert sei.
Es ist so wie damals, zur Zeit der wissenschaftlichen Revolution und kopernikanischen Wende: man muss ja nur (rein und streng empiristisch) hinschauen, beobachten, messen.

Wie wäre es mit einer kopernikanischen Revolution für die Neurowissenschaften?

Aber vielleicht lässt dieser Paradigmenwechsel bzw. eine solche Revolution auch noch so lange auf sich warten dass manche Vertreter des “neuen Menschenbildes” bis dahin längst verstorben sind und eine solche zurückfeuernde Kränkung zum Glück gar nicht mehr ertragen müssen.

cbuphilblog
2 Jahre zuvor

Hallo Philipp, ich möchte nicht prinzipiell widersprechen, aber die Anmerkung machen, dass dein Beispiel für die den kopernikanischen Blickwinkel nach erster Einschätzung nicht korrekt ist. Denn dein Argument erinnert an die Argumente zu den Geschwindigkeiten, welche bei der Diskussion über einen starren Äther zum Tragen kamen. Bei diesem Blickwinkel war es ein erwartetes Ergebnis, dass das Fliegen der Erdkugel um die Sonne, mit der Sonne in der Milchstraße etc. und die eigene Rotation der Erde einen Effekt auf die Lichtgeschwindigkeit haben müsse. Das war aber nicht der Fall. Es schien so, dass die Geschwindigkeit der Erde aus einem anderen Blickwinkel nicht relevant ist, eine Kernaussage der speziellen Relativitätstheorie: Wir müssen und eingestehen, dass alle Naturgesetze von einer gleichförmigen Geschwindigkeit unabhängig sind. Also insofern aus meiner Sicht auch ein Stein tatsächlich gerade zum Boden fällt. – Insofern bliebe von deinem Blickwinkel physikalisch relevant nur die Erdrotation übrig, welche sich ein wenig Einfluss hat, nämlich messbar am Foucaultschen-Pendel. – Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass ich dein Argument falsch deute. VG, Christian

Philipp
Philipp
2 Jahre zuvor
Reply to  cbuphilblog

Der methodologische und epistemologische Ausgangspunkt seitens der Neurowissenschaften für die Untersuchung kognitiver Funktionen, des Geistes, oder auch ganz allgemein formuliert, des Bewusstseins, ist das Gehirn.

Die kognitiven Neurowissenschaften beginnen mit dem Gehirn und die Resultate empirischer Forschung enden bei dem Gehirn. Das Bewusstsein wird man in diesem Forschungsparadigma niemals “finden”. Vielmehr wird das Bewusstsein sogar auf das Gehirn reduziert.

Der von dir zitierte Gerhard Vollmer schrieb in seinem Buch und sagte in einem Youtube Video (aus letzterem kenne ich die folgende Aussage von Vollmer), dass das Thema des Bewusstseins einem Berg gleicht. Beide oder viele Parteien, also etwa Philosophie und Neurowissenschaften, bohrend und graben an diesem Berg von zwei entgegengesetzten Seiten. Vollmer nimmt an, dass die Parteien sich nacher in der goldenen Mitte treffen würden.

Definieren wir nun einmal die zwei Extrempositionen folgendermaßen: (1) ein ontologischer Substanzdualismus ala Descartes und (2) ein starker Reduktionismus der das Bewusstsein auf das Gehirn reduziert.

(1) Der ontologische Substanzdualismus von Descartes geht nicht nur davon aus dass der Geist (oder das Bewusstsein) eine ontologisch eigene Entität ist, d.h. eine Substanz die prinzipiell vom Körper und der “physischen” Welt getrennt ist, wohl aber mit dieser interagiert, sondern zusätzlich auch dass Personen dieser Geist (oder diese Form von Bewusstsein) sind. Personen sind also nicht identisch zu ihren biologischen Körpern, sondern sie sind immaterielle Substanzen. Es existieren auch heute noch Philosophen die eine solche Form des ontologischen Substanzdualismus vertreten. Aus unserer heutigen Perspektive ist dies sicherlich eine extreme Position.

(2) Ein starker Reduktionismus oder gar Eliminativismus reduziert oder eliminiert das Bewusstsein. Hier bleibt, ontologisch fundamental, am Ende nur das Gehirn übrig. “Wir sind unser Gehirn” – dieses Zitat habe ich u.a. in Büchern von dem Biopsychologen Onur Güntürkün gelesen, genauso, wenn auch in Englisch, bei dem Vater der kognitiven Neurowissenschaften, Michael Gazzaniga. Auch das Standardwerk an dem viele angehende Neurowissenschaftler trainiert werden, “Principles of Neural Science” by Kandel et al., weist eine reduktionistische Perspektive auf unser Bewusstsein auf.

Vielleicht treffen sich die Positionen eines Tages wirklich irgendwo in der Mitte. Wie könnte eine solche Mitte grob umrissen aussehen? Vielleicht in der Form dass das Bewusstsein (der Geist) nicht mehr als eigene Entität oder Substanz betrachtet wird; wohl aber auch gleichermaßen nicht vollständig auf das Gehirn reduzierbar ist, da dass Bewusstsein eben gar keine Entität ist, die wiederum das Gehirn schaffen könnte.

Angelehnt an Marx und Engels könnte man auch sagen: ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Bewusstseins. Vielleicht überwinden wir eines Tages das Gespenst des Bewusstseins, nämlich in Form fehlerhafter Vorstellung über selbiges.

cbuphilblog
2 Jahre zuvor
Reply to  Philipp

Hallo Philipp. Das Ende zu Marx und Engels hat mich sehr amüsiert! Danke! Ansonsten reizt es mich, zum Thema Reduktionismus etwas zu schreiben, aber das müsste ich etwas länger überdenken. Dennoch sei kurz angemerkt, dass ein Reduktionismus ggf. immer Abstriche machen muss. Vielleicht ein einiges Beispiel, welches mir zuerst einfällt: Die Evolutionstheorie führt uns ganz nah an Erklärungen für Lebensprozesse heran, aber das Geheimnis des Lebens beim Übergang von unbelebter zu belebter Natur kann es wohl nicht erklären. Oder Aussagen von Einstein: Musik lässt sich nicht sinnvoll auf die physikalische Natur der Luftschwingungen reduzieren. Dennoch macht dies die Suche nach den physikalischen Zusammenhängen von Luftschwingungen nicht sinnlos. Und in gewisser Weise wissen wir am Ende eben doch etwas Entscheidendes mehr über Musik. Und sei es nur, wie wir die Musik technisch konservieren und wieder abspielen können.

cbuphilblog
2 Jahre zuvor
Reply to  Philo Sophies

Hallo Dirk,

mir war durchaus wichtig zu betonen, dass mein Hinweis auf die (aus meiner Sicht) falsche Analogie des fallenden Gegenstands und der sich bewegenden Erde kein Einwand gegen die neurowissenschaftlichen Positionen von Philipp ist. Nur der Vergleich wäre dann leider nicht der Beste, sofern ich mich nicht irre. Viele andere „Blickwinkel-Wechsel“-Beispiele könnten ja durchaus passend sein. – Die Kopernikanische Wende ist ja, dass die Erde nicht mehr im Zentrum des Weltbildes steht, sondern nun allgemein akzeptiert werden konnte, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Mir wäre bei dieser Diskussion bisher unbekannt, dass ein fallender Gegenstand dabei diskutiert wurde. Wenn ja, dann wäre spätestens nach Einstein diese Diskussion leider als falsch anzusehen.

Ansonsten bemühe ich mich noch, die Leib-Seele-Diskussion mit eurer Unterstützung tiefer zu durchdringen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich nur die „richtige“ Sichtweise präsentiert bekomme, ohne aber schon alle Gegenargumente oder gar die Gegentheorie schon gut kennengelernt zu haben. Das ähnelt mir dann etwas zu sehr einer Ad-hoc-Hypothese. Aber es freut mich, ein Gefühl zu bekommen, welches Ziel ich eurer Meinung nach haben sollte, das lenkt dann meine Aufmerksamkeit ggf. hinreichend auf Schwachpunkte, welche ihr kritisiert.

VG, Christian

philosophies.de
philosophies.de
2 Jahre zuvor
Reply to  cbuphilblog

Lieber Christian,

ich danke Dir für Deinen berechtigten Hinweis, dass es vielleicht aus physikalischer Sicht bessere Beispiele zur Veranschaulichung geben könnte.

Aber genau darum geht es ja eigentlich letzenendes nur, um den „Blickwinkel-Wechsel“ und nicht um die „richtige“ Sichtweise (um im Bild zu bleiben ;-). Eine empirischen Adäquatheit im Sinne eines „richtig vs. falsch“ würde hier doch niemand postulieren wollen, da eine solche Gewissheit als Wahrheitsbegriff doch noch gar nicht existiert. Mag sein, dass wir vielleicht alle auf dem „Holzweg“ sind und die Lösung des Problems aus einer ganz anderen Richtung kommt.

Es geht doch letzlich nur um den Versuch einmal anders drauf zu schauen. Und aus diesem Grunde bin ich, aber wahrscheinlich Philipp noch viel häufiger, „genervt“ von der „Blockadehaltung“, die mir zum Beispiel auf FB entgegenschlägt. Der „wissenschaftliche Main-Stream“ fließt zur Zeit einfach in die andere Richtung, soll heißen der „Gegenargumente“ oder „Gegentheorien“ für den naturalistischen Reduktionismus/Funktionalismus/Computionalismus (genug der Ismen 😉 gibt es reichlich und genügend. Aber wie sieht es hier mit der Falsifikation und den „toten Fischen im Strom“ aus?

Interessanter wäre es insofern dann eher einmal hierzu die „Gegenargumente“ oder „Gegentheorien“ zu diesen überstarken Positionen der scientific communities kennenzulernen. Dass diese Gegenpositionen nicht auf „Ad-hoc-Hypothesen“ basieren, lässt sich aber hier sehr schön über die empirischen Befunde der Kognitionswissenschaften validieren. Das war ja mit einer der Gründe, warum ich ausgerechnet diesen Bereich gewählt habe, da man hier mehr Beweise für den von mir angestrebten Paradigmenwechsel finden konnte.

Ich bin Dir aber sehr dankbar, dass Du Dich mit der Thematik auseinandersetzt und auch Deine berechtigten Zweifel einbringst, weil eine zu einseitige Sichtweise bekanntlich zu einem „Tunnelblick“ führen könnte, von der es ja wie oben schon erwähnt genug gibt.

Liebe Grüße

Dirk

cbuphilblog
2 Jahre zuvor

Hallo Dirk, ich habe den Eindruck, dass sich die Vertreter eines Reduktionismus durchaus „bewusst“ sind, dass dieses Programm seine Grenzen hat. Siehe mein Satz zu Einstein. Daher scheint klingen mir einige Angriffe unfair. Vielleicht auch von mir ein unpassender Vergleich: Die Kritik am reduktionistischen Programm ähnelt etwas einer Diskussion über die Existenz Gottes und dem unfairen Aegument, Gott erst akzeptieren zu können, wenn jemand ihn zeigen würde. Das kann der Gläubige aber nicht leisten und eigentlich gesteht er dies auch immer ein, dennoch will er von der Existenz Gottes sprechen dürfen.