Die Suche nach dem Code des Gehirns

Zoomposium mit Professor Dr. John-Dylan Haynes: „Die Suche nach dem Code des Gehirns”

Zoomposium mit Professor Dr. John-Dylan Haynes: „Die Suche nach dem Code des Gehirns”

In dieser neuen Folge unserer „Zoomposium-Reihe“ zum Thema „Hirnforschung“ ist es meinem Kollegen Axel Stöcker vom „Blog der großen Fragen“ und mir gelungen den bekannten und renommierten Hirnforscher und Psychologen Professor Dr. John-Dylan Haynes für ein Interview zu gewinnen.

John-Dylan Haynes ist seit 2006 Professor für Theorie und Analyse weiträumiger Hirnsignale am Bernstein Center for Computational Neuroscience und am Berlin Center for Advanced Neuroimaging (BCAN) der Charité und der Humboldt-Universität zu Berlin.

Dort sind Professor Haynes und sein Team „Die Suche nach dem Code des Gehirns“. Um diesen zu knacken werden größere Datenmengen aus den Scans der funktionellen Magnetresonanztomographie der Probanden gesammelt. Hierbei werden hauptsächlich die Bereiche der visuellen Wahrnehmung, bildlichen Vorstellung, kurzzeitige Erinnerungen, unterschwellige Reize, romantische Gefühle, die Impulskontrolle und unbewusste Neigungen untersucht.

Die aufgezeichneten Hirnmuster werden mithilfe von Computeralgorithmen von einer KI ausgewertet und nach einer Trainingsphase gelingt es dieser mit überzufälliger Wahrscheinlichkeit die ermittelten Hirnmuster den spezifischen Bewusstseinsinhalte der Probanden zuzuordnen. Weshalb dieses Verfahren auch gerne schon einmal von der Presse als „Brain-Reading“ bezeichnet wurde.

Haynes bevorzugt hier allerdings lieber den Begriff des „Brain-Decodings„, da es weniger um ein Lesen als mehr um eine Entschlüsselung der Hirnaktivitäten geht, auch wenn der Titel seines aktuellen populärwissenschaftlichen Buches Fenster ins Gehirn: Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann“ (2021) zunächst einmal ander klingen mag.

Wir wollten von ihm natürlich auch wissen, ob der Rosetta-Stein zur Entschlüsselung der Hirnmuster schon gefunden worden sei oder welche Möglichkeiten sich jetzt schon durch das „Brain-Decoding“ ergeben. Daher hier schon einmal die Interviewfragen.

Interviewfragen „Die Suche nach dem Code des Gehirns”:

1. Wir haben mal die fMRI-Scans unserer Gehirne mitgebracht (Hochhalten von fMRI-Scans).

● Könnten Sie vielleicht aufgrund dieser Gehirnscans ableiten, dass wir uns sehr auf dieses Interview mit Ihnen freuen?

● Zum besseren Verständnis des „Brain-Readings“ könnten Sie vielleicht Ihre Arbeitsmethodik unseren Zuschauern einmal kurz vorstellen?

 

2. Sie gehen in Ihrem sehr lesenswerten Sachbuch „Fenster ins Gehirn: Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann“ von 2021 auf das vermeintlich „schwierige Geist-Gehirn-Problem“ („hard problem of consciousness“) ein.

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, lehnen Sie hierbei einen Substanzdualismus (Geist vs. Gehirn) ab und gehen eher von einem, wenn ich es so nennen darf, konstruktivistischen Neuromonismus aus, der ähnlich wie die „Identitätstheorie“ in der Philosophie des Geistes den Ansatz vertritt, dass mentale Zustände über ihre relationalen Strukturen identisch mit den neuronalen Zuständen sind.

● Steckt in diesem neurozentristischen Ansatz eigentlich nicht wieder ein latenter Eigenschaftsdualismus, da er eine erneute Trennung des „Bewusstseins als Ding“ von den „körperlichen Dingen im Universum“ vollzieht?

● Inwiefern kann es denn überhaupt ein „neuronales Korrelat des Bewusstsein“ (NCC) geben, dass die „Dinge der Außenwelt“ als „Repräsentation“ in der „Innenwelt des Gehirns“ abbilden kann?

 

3. Ihr Forschungsschwerpunkt in Bezug auf das Brain Reading geht aus meiner Sicht von einem Funktionalismus des Gehirns aus, da es Ihnen, laut eigenem Bekunden, eher um eine Decodierung/Codierung der Gehirnaktivitäten („ähnlich einer CD-Scheibe“) geht, die in Algorithmen übersetzt werden, um hieraus Computersimulationen von ikonischen Wahrnehmungen („Bilderkennung“) oder Vorhersagen zur „Willensfreiheit“ („freier Wille“) machen zu können.

● Ist es aus Ihrer Sicht in naher/ferner Zukunft möglich, ausgehend von diesen Computersimulationen, eine bessere Aufklärung zu den kognitiven Prozessen des Gehirns, wie das Denken oder das Bewusstsein zu erhalten oder wird dies auch zukünftig an der Komplexität des Problems scheitern?

● Müsste hierbei nicht auch viel stärker der dynamische, prozessuale Aspekt von kognitiven Aktivitäten mit einbezogen werden, die Sie ja selber als „Kaskade von neuronalen Prozessen“ beschreiben?

 

4. Sie haben die „Dechiffrierung des Codes der Gehirnaktivitäten“ in Ihren Vorträgen gerne mit der „Entschlüssselung der Hieroglyphen“ durch die Entdeckung des „Rosetta-Steins“ verglichen.

● Wenn wir den „Rosetta-Stein“ zur „Decodierung“ der Gehirnaktivitäten nun endlich finden würden, wäre es dann aus Ihrer Sicht im Gegenzug im Sinne der „multiplen Realisierung“ möglich diesen Code auch als „künstliches Bewusstsein“ auf einem Computer zu implementieren, wie Sie es jetzt schon zu Simulationszwecken durchführen?

● Gibt es hierzu vielleicht auch einen interdisziplinären Austausch mit der aktuellen KI-Forschung um eine leistungsstärkere „Artificial General Intelligence“ (AGI) zum besseren Verständnis der Gehirnaktivitäten als Simulation zu erhalten?

Das komplette Interview ist auf unserem Youtube-KanalZoomposium“ unter folgendem Link zu sehen:

https://youtu.be/qMPfefKEe4A

© Dirk Boucsein (philosophies.de), Axel Stöcker (die-grossen-fragen.com)

Ich bin immer mit meiner „Diogenes-Lampe“ unterwegs, um Menschen zu finden, die sich auch nach ein wenig „Licht der Erkenntnis“ sehnen. Also wenn Ihr eigene Beiträge oder Posts für meinen Wissenschaft-/Philosophie-Blog habt, immer her damit. Sie werden mit Eurem Namen als Autor auf meiner Seite veröffentlicht, so lange sie den oben genannten Kriterien entsprechen. Denn nur geteiltes Wissen ist vermehrtes Wissen.
0 0 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

 

7 Comments
Inline Feedbacks
View all comments
Philipp
Philipp
1 Jahr zuvor

Sehr schönes Interview mit Herrn Haynes.

Nur ein Kommentar zu neuronalen Korrelaten des Bewusstseins (neuronal correlates of consciousness, NCC):

Erstens: NCC kann es meiner Ansicht nach nur im Zusammenhang mit der jeweiligen Imagingmodalität geben, d.h. beispielsweise elektrophysiologisch (single-unit recording, EEG, MEG) oder hemodynamisch (fMRI). Was man als NCC feststellt ist also an die Methode gebunden. Deshalb ist es nicht möglich von empirisch festgestellten NCC auf die „wahren“ ontologischen NCC 1:1 schlusszufolgern.

Zweitens: die NCC stellen nur die Spitze des Eisberges da, da die Ermittlung der NCC nicht erfasst was als Prädisposition bzw. notwendige Voraussetzung für die NCC selbst zuerst bestehen muss. Es existieren neuronale Dynamiken die als NCC feststellbar sind und es existieren notwendige aber nicht hinreichende Voraussetzungen (andere neuronale Dynamiken) die man als neuronal predisposition of consciousness (NPC) bezeichnen kann. Andere Forscher wie z.B. Christof Koch sprechen hier nicht von NPC, sondern von „enabling conditions“ für Bewusstsein, meinen aber in etwa das gleiche. Diese können viel umfangreicher sein als die NCC und es wird wohl auch niemals genau klar sein wo man sinnvoll die Grenze zieht bezüglich der Frage wo sie beginnen und wo sie enden.

Deshalb würde ich sagen dass NPC, NCC, etc. genau niemals empirisch ermittelbar sein werden, sondern wir uns wohl mit groben Annäherungen begnügen müssen.

Dirk Boucsein
Dirk Boucsein
1 Jahr zuvor
Reply to  Philipp

Lieber Philipp,

zunächst einmal meinen herzlichen Dank für Deinen – wie immer – sehr profunden Kommentar zu diesem Thema.

Ich möchte dem eigentlich gar nichts Neues hinzufügen, sondern nur noch einmal explizit nachfragen.

Zu Erstens: Über die ominösen NCCs haben wir uns ja schon häufiger in den unterschiedlichsten Zusammenhängen unterhalten. Das, was Du hier beschreibst, klingt für mich wieder stark nach den EVWs („epistemologisch-verschiedene Welten“). Ist das ein Zufall, oder meintest Du dies auch in diese Richtung? Wenn dem so wäre, ist dann für Dich die Tür zu „„wahren“ ontologischen NCC 1:1“ ein für alle mal zu oder haben wir nur noch nicht die „richtige Mathematik“ zur Beschreibung, wie Du auch schon einmal erwähnt hattest?

Zu Zweitens: Könnte dann nicht im Sinne eines wissenschaftlichen Realismus über den Weg der genaueren Erforschung der „notwendigen aber nicht hinreichenden Voraussetzungen (andere neuronale Dynamiken) die man als neuronal predisposition of consciousness (NPC)“ sein, wenn man die „groben Annäherungen“ einfach aproximativ immer feiner macht? Okay, das wird dann wohl „It’s a Long Way to Tipperary“, wie ich aus Deinen Ausführungen zu Deiner aktuellen Forschungsarbeit entnehmen konnte. Oder ist es vielleicht doch kein „Big Data“-Problem, sondern uns fehlt nur der „richtige Schlüssel“ zum Verständnis?

Ich würde mich über eine Antwort freuen, ansonsten kannst mir das auch gerne morgen in unserer „Tafelrunde“ sagen.

Liebe Grüße
Dirk

Philipp
Philipp
1 Jahr zuvor
Reply to  Dirk Boucsein

Antworten zu deinen Fragen:

Zu Erstens: Nein, ich dachte hier gar nicht an ein primär philosophisches Problem, sondern an ganz praktische Probleme der Wissenschaft.
Was meinen Menschen wenn sie von NCC sprechen? Man meint neurophysiologische Prozesse die unmittelbar mit dem phänomenalen Erleben bzw. Bewusstsein korrelieren, dies konstituieren, damit identisch sind (oder oder – zig Ansichten und Meinungen). Nun, wenn ich mit fMRI Gehirnaktivität messe, dann messe ich Veränderungen des Sauerstoffsgehalt im Blut, also ohnehin keine neuronale Aktivität. Natürlich ist das BOLD Signal mit neuronalen Prozessen gekoppelt, aber eben keine direkte Messung dieser. Ganz strikt genommen wäre dass also nicht einmal ein NCC (neuronal) correlate.

Messe ich nun mit EEG, so messe ich Veränderungen in der dipole, aber auch nicht die einzelner Neurone. Messe ich mit MEG, so erfasse ich magnetische Veränderungen der elektromagnetischen Prozesse. Messe ich die Aktivität einzelner Neurone – ja so erfasse ich eben einzelne Neurone, aber nicht alle Neurone des Gehirns.

Wie möchte man also die NCC exakt erfassen? Es geht praktisch doch gar nicht. Und selbst wenn es ginge, was würde es bringen wenn wir wüssten was Milliarden von Neuronen machen? In wissenschaftlichen Modellen und Theorien müsste das ohnehin alles wieder runtergebrochen und vereinfacht werden. Sonst versteht es kein Mensch mehr, sonst wäre es spachlich gar nicht mehr mitteilbar.

Dann ist die Frage wie man die NCC erfassen möchte? Es gibt ja quasi unendlich viele Arten von Variablen bzw. Messungen (also mathematischen Verfahren zur Analyse der times-series bzw. zur Analye der Daten). Kurzum sehe ich gar keine Möglichkeint NCC exakt zu erfassen, denn was soll exakt hier sein? Wie soll die optimale Lösung aussehen? Das ist eine Frage auf die es zig Antworten geben könnte, d.h. die Meinungen gehen ohnehin auseinander.

Zu Zweitens: Die Antwort hier entspricht eigentlich auch der Antwort zu Erstens. Ich denke empirisch ist das nicht eindeutig und exakt lösbar (aus vielen Gründen nicht). Für die Modell- und Theorieentwicklung wäre es meiner Ansicht nach interessant zu verstehen welche Mechanismen notwendig und hinreichend für Bewusstsein sind. Dafür müsste man nicht wissen was jedes Neuron (sozusagen mit der Lupe herangezoomt) macht. Man müsste es vielmehr auf einer höheren und damit notwendig abstrakteren Ebene besser verstehen. Dort könnte man dann von NCC sprechen. Aber was die NCC hier sind hängt immer von der Art der Messung (der Variablen die gemessen wurden) ab. Was sind die NCC dann unabhängig dieser Messungen, also eher ontologisch statt empirisch? Keiner weiß es, es wird ein philosophisches Problem bleiben da es hier immer zig Auslegungen geben kann.

Christian Bührig
Christian Bührig
1 Jahr zuvor

Hallo zusammen, ich muss einen ersten Kommentar absenden, damit ich die Diskussion per E-Mail verfolgen kann, Sorry, dass hier jetzt noch keine Stellungnahme enthalten ist 🙂 LG, Christian

maria reinecke
1 Jahr zuvor

@Philo Sophies

Hat mir sehr gefallen, dieses fast unterhaltsam-informative Interview mit dem lässig-selbstbewussten Wissenschaftler
John -Dylan Haynes. Was für ein Konterfei!

Man möge es mir nachsehen, wenn ich in Zusammenhang mit diesem aktuellen Zoomposium „Die Suche nach dem Code des Gehirns“ einen Punkt herausgreife, der mich nun einmal besonders bewegt und hat aufhorchen lassen, – gar getriggert? :)…: Metaphysik.

Jetzt nur kurz aus aktuellem Anlass:

In einem Kommentar zu metaphysischen Fragen schreibt Dirk Boucsein einmal pointiert:
„Metaphysik bedeutet für mich nichts anderes als „vorausgesetzt sein“.“
Angesichts seines erheblichen Aufwands, den Dirk nachweislich für dieses ‚nichts anderes als‘ betreibt, empfand ich sein Statement zunächst kokett untertrieben, dann aber dachte ich, er hat recht:

Wenn Metaphysik die philosophische Grundwissenschaft ist, die die großen Bereiche und Gesetzlichkeiten des Wirklichen thematisiert, indem sie das Bleibende in allem Wechsel der Erscheinungen sucht – gemäß Aristoteles in den konkret erkennbaren Naturdingen, dem Physischen – dann basiert sie auf etwas Zugrundeliegendem, was vorher da sein muss, also vorausgesetzt werden muss; weshalb Aristoteles diese Schriften ja auch „Erste Philosophie“ nennt.

Soweit so gut, dachte ich, d.h. nicht gut. Der Begriff Metaphysik wird längst nicht mehr in dieser allgemeinen, philosophischen Bedeutung gesehen, anerkannt; metaphysisch steht heute für ‚myteriös‘, ‚spinnert‘ u.dgl., – auch und gerade bezogen auf unterschiedliche physikalische/quantenphysikalische Metatheorien – oder wird von vornherein als überflüssig und störend weggewischt.

Wie z.B. von John-Dylan Haynes (youtube video Zeitleiste 52:50), der sagt, dass die ganzen metaphysischen Fragen für den empirischen Wissenschaftler völlig irrelevant seien, ob nun Dualist oder Phänomenalist oder Eigenschaftsdualist oder sonst was, alles sei darin so unterbestimmt, dass es immer Varianten davon gebe, die mit dem, was die Wissenschaft dann findet, irgendwie kompatibel sei. Dabei bräuchte man eigentlich nur eine neutrale Sichtweise.

Eine neutrale Sichtweise? Wie jetzt? Eine neutrale Sichtweise gibt es nicht, es sei denn, wir befragen einen Stein nach seiner Biografie.

Philosophie führt Interpretation nicht ein, sondern findet sie immer schon vor – und sei es in noch so rudimentärer Form. Eine nicht interpretierte Darstellung der konkreten Wirklichkeit und unserer konkreten Erfahrung mit der Natur geht nicht; jedem Sprechen darüber liegt bereits ein metaphysisches Schema zugrunde. Die Aufgabe der Philosophie/Metaphysik ist es gerade, die vorgefundenen Interpretationen als Abstraktionen zu verstehen, aufzuzeigen und konstruktiv zu kritisieren, mit dem Anspruch, die verschiedenen Abstraktionsschemata auf eine einheitliche Theorie der Welt zurückzuführen und vermeintliche Dogmatisierung in Schach zu halten. Die Wissenschaft nimmt hier keine Sonderstellung ein, ist sie doch nur ein besonderes Abstraktionsverfahren, das dem Zweck dient, neue Erfahrungen zu erschließen…etc.

Das Gehirn neutral betrachten, den ‚Code des Gehirns‘ neutral knacken?
Es bedarf da wohl zunächst einer grundlegenden voraussetzenden, vorausgesetzten Sichtweise, Vorerfahrung, Erwartung, Fragestellung… insgesamt einer umfassenden metaphyischen Sicht auf wirkliche Zusammenhänge…

Dirk Boucsein
Dirk Boucsein
1 Jahr zuvor
Reply to  maria reinecke

Liebe Maria,

vielen Dank für Deinen sehr aufschlussreichen und inspirerenden Kommentar, auf den ich gerne kurz antworten möchte, da er mich ebenfalls „getriggert“ hat.

Ja, unser schon häufiger diskutiertes „Metaphysik-Thema“ hat mich auch diesmal zu der Frage an Professor Haynes bewogen, ihn einmal auf diesen fehlenden Bereich in den kognitiven Neurowissenschaften anzusprechen. Ich fand ihn auch sehr sympathisch und zuvorkommend und das Interview hat uns sehr viel Spaß und Freude bereitet. Und ja, ab ca. „52:50, sagt er, dass die ganzen metaphysischen Fragen für den empirischen Wissenschaftler völlig irrelevant seien“.

Umso erfreuter war ich aber auch, dass er nach einem nochmaligen Nachhaken hinsichtlich der „Objektentgleisung“ durch den „subjektiven Forscherstandpunkt“, durchaus die „Diagnose der fehlenden Metaphysik in den kognitiven Neurowissenschaften“ (56:10) bestätigte. Den „Startpunkt als Apriori“ lehnte er zwar ab, äußerte sich aber durchaus positiv gegenüber den „zirkulären Prozessen zwischen Philosophie und Neurowissenschaften“ als „empiriegetriebene Modell-Entwicklung“.

Gleichzeitig äußerte er sich aber auch kritisch gegenüber einer „unkontrollierten Empirie“ oder „kulturellen Memes“, die sich als „individuelle Modelle“ über das Gehirn verfestigen würden. Den „archimedischen Punkt“, ab dem man „ohne Apriori starten“ könnte, gäbe es nach seiner Meinung daher nicht.

Aber genau darauf wollte ich ja auch gar nicht hinaus. Im Gegenteil es geht ja gerade darum das Forscher-Subjekt explizit in den Forschungs-Prozess miteinzubinden und mit Hilfe der Empirie wieder zu verobjektivieren. Es geht genau um diesen „zirkulären Prozessen zwischen Philosophie und Neurowissenschaften“ als „empiriegetriebene Modell-Entwicklung“. Philipp Klar hat dies einmal sehr klar und dezidiert in seinem Essay von 2020 „What is neurophilosophy: Do we need a non-reductive form?“ (https://link.springer.com/article/10.1007/s11229-020-02907-6) als „concept-fact-iterativity“ beschrieben, wenn ich hieraus einmal zitieren darf:

„(1) Firstly, there is an initiating philosophical-conceptual input for neuroscience;
(2) neuroscience then returns an empirically plausible concept as output;
(3) this output serves as input for neurophilosophical re-defintion and investigation; and finally
(4) the interdisciplinary re-defined neurophilosophical concept is taken as the vantage point for further investigation within new research-loops.“ (ebd., S. 16)“

Daher glaube ich schon, dass man durchaus Apriori (mit oder ohne „Archimedischen Punkt“) mit einer „Neuen Metaphysik“ als „Konzept-Geber“ starten kann, die sich dann durch den „empirischen fact-Abgleich“ wieder an der Wirklichkeit messen muss, um zu neuen Modellen in einem iterativen Prozess zu gelangen:

„Durch diese methodischen Rückkopplungs-Effekte beider Disziplinen [Ergänzung: Philosophie und Neurowissenschaften] gelangt man zu einer besseren Beschreibung der mentalen Zustände hinsichtlich ihrer strukturellen und prozessbasierten Funktionalität sowohl auf phänomenologischer als auch auf ontologischer Basis.“ (https://philosophies.de/index.php/2021/04/25/das-neurozentristische-weltbild/)

Daher hast Du auch vollkommen Recht, wenn Du darauf verweist, dass die Metaphysik endlich wieder aus der „Schmuddel-Ecke“ rauskommen sollte und den Platz wieder bekommt, die sie eigentlich verdient hat. Als Grundwissenschaft, die der Forschung eigentlich „vorausgehen“ und der sich jeder Forscher in der Verortung seines eigenen Standpunktes gewiss sein sollte. Wenn man seinen Standpunkt nicht kennt, wie soll man dann seinen Weg finden, besonders in diesem „unwegsamen Gelände“. Daher ist Dein Hinweis, dass es hier keine „neutrale Sichtweise“ absolut berechtigt. Aus diesem sei es erlaubt aus Deinen Kommentar noch einmal zu zitieren:

„Philosophie führt Interpretation nicht ein, sondern findet sie immer schon vor – und sei es in noch so rudimentärer Form. Eine nicht interpretierte Darstellung der konkreten Wirklichkeit und unserer konkreten Erfahrung mit der Natur geht nicht; jedem Sprechen darüber liegt bereits ein metaphysisches Schema zugrunde. Die Aufgabe der Philosophie/Metaphysik ist es gerade, die vorgefundenen Interpretationen als Abstraktionen zu verstehen, aufzuzeigen und konstruktiv zu kritisieren, mit dem Anspruch, die verschiedenen Abstraktionsschemata auf eine einheitliche Theorie der Welt zurückzuführen und vermeintliche Dogmatisierung in Schach zu halten.“

Dem ist von meiner Seite nichts mehr hinzuzufügen, außer ein beherztes „Sapere aude!“, denn „frisch gewagt, ist halb gewonnen“! Wo sind die mutigen Naturwissenschaftler, die auch mal über eine Neue Metaphysik nachdenken oder zumindest mal ihren derzeitigen, eigenen Standpunkt in Frage stellen?

Viele Grüße nach Berlin
Dirk

Philo Sophies
Philo Sophies
1 Jahr zuvor

Dear A.,

thank you very much for your inquiry. But that is a good question, which we also asked Professor Haynes in our interview.
He answered that he actually only does basic research and is more interested in the empirics than the implications. However, he did let it slip that if one day a form of „brain-reading“ or, as he prefers to say, „brain-decoding“ were really possible, it could have far-reaching consequences for our social future.

For example, for areas of justice (see „lie detector“), areas of counter-terrorism (see „scanner at the airport“), areas of the economy (see „recruitment tests“).

But there is still a very long road ahead, as research is still in its infancy. In his view, a clear definition of ethical rules and limits would also be needed in advance. So, for me, the „road“ could still take much longer ;-).

Thank you for your interest and
many greetings

Philo