Die neue Sprachlosigkeit

Die neue Sprachlosigkeit

Die neue Sprachlosigkeit – mediale Kommunikation

Abstract „Die neue Sprachlosigkeit“: FYI (for your information)

Das Akronym „FYI“ in der Überschrift steht stellvertretend für eine Reihe sprachlicher Veränderungen, die mir im Rahmen meiner letzten „Feldstudienzur Medientheorie über den Weg gelaufen sind. Ein Ergebnis der vorherigen Trilogie zur „Medientheorie mag wohl die Entdeckung einer „neuen Sprachlosigkeit“ zum Beispiel in Form von Akronymen und Emojis sein. Die Ausgangsthese der „neuen Sprachlosigkeit“ tritt meines Erachtens besonders hinsichtlich der neuen Kommunikationsformen innerhalb des „IVL“ (in virtual life) der digitalen Medien, wie zum Beispiel den Messengerdiensten, aber auch in sozialen Interaktionen „IRL“ (in real life) in den deprivativen „F2F“-(face-to-face)-Kommunikationsformen auf und dies ist nicht nur dem C-Thema geschuldet, sondern war schon vorher „virulent“.

Über dieses scheinbare Randphänomen war ich eher zufällig bei meinem „medientheoretischen Spaziergang“ durch das „globale Dorf“ (McLuhan, 1962) gestolpert. Im Zusammenhang mit der Untersuchung der sprachlichen Auseinandersetzungsformen innerhalb von Social Media fiel mir immer wieder der eigenartige Widerspruch in dem Begriff „Social“ „Media“ auf, da er ja eigentlich als ein Oxymoron bezeichnet werden müsste. Denn die neuen „Stamm(tische)“ der „Tribes „in virtual life“ des „digitalen Dorfes“ auf den Social-Media-Plattformen schienen irgendwie gar nicht viel Soziales an sich zu haben und als Kommunikation konnten die dort veröffentlichten Threads auch nicht unbedingt bezeichnet werden. Ebenso verwunderte mich, dass man Handys gar nicht mehr unbedingt zum Telefonieren, sondern eher zum Tippen von Messages in Messengerdiensten verwendet. Keine Angst, dies soll hier kein weiterer Abgesang auf den so oft zitierten „Untergang des Abendlandes“ werden, aber spätestens dann sollte man merken, dass man eben doch zur „old school“ gehört.

In dieser Hinsicht sensibilisiert, konnte ich derlei „neue Sprachlosigkeit“ nun aber auch „in real life“ in den zwischenmenschlichen Kommunikationsformen und sozialen Interaktionen wiederfinden. So fällt es mir auf, dass sich zum Beispiel eine Art von Konfliktscheuheit breit macht, bei der keine direkte, kommunikative „face-to-face“-Auseinandersetzung mehr stattfindet, sondern die Problematik einfach nur an dritte Personen verschoben wird, die dann alles per „stille Post“ regeln müssen. Die Sprache als Kommunikationsmittel schien irgendwie nicht mehr als Bestandteil von sozialer Wirklichkeit vorzukommen. Und Schuld sind natürlich wie immer die Medien. Aber dass man es sich hier vielleicht zu einfach macht, wollte ich daher einmal genauer untersuchen.

Aus diesem Grunde wollte ich die besagte Thematik unter einem anderen, neuen Gesichtspunkt als der erwähnten Medientheorie, eher in einer Art Sozialtheorie, unter die Lupe nehmen. Die Sozialtheorie beschäftigt sich mit den allgemeinen Auffassungen von sozialer Wirklichkeit. Der Fokus dieses Essays liegt folglich vielmehr darin die Auswirkungen der Medien auf die sozialen Interaktionen zu beschreiben.

Der Zusammenhang zu den Medientheorien, zum Beispiel nach Hans Magnus Enzensberger, Jean Baudrillard und Stuart Hall, wird dabei natürlich weiterhin als Analysebasis zu Grunde gelegt, da die Beschreibung der propagierten Veränderungen im Kommunikationsverhalten der Individuen natürlich auch Gründe haben muss. Hierbei werde ich mich im Folgenden auf die Magisterarbeit von Andreas Mohr „Verdrängung widerständiger Lesarten? Medien und Macht bei Jean Baudrillard und Stuart Hall“ (2008) (https://d-nb.info/1049610911/34) beziehen, da dort die medientheoretischen Gründe für die zu beschreibenden, sprachlichen Besonderheiten der sozialen Interaktionen meines Erachtens hervorragend dargestellt worden sind.

Kommunikation, Sprache, Code, Sender-Empfänger-Modell: FAQ (Frequently asked questions)

Zunächst einmal müssten hier aber die Begriffe Sprache und Kommunikation sauber voneinander getrennt werden, damit es im weiteren Verlauf nicht zu Verwechslungen kommt. Der Oberbegriff ist hierbei die Kommunikation, die als eine Form der Verständigung definiert werden kann, bei der mit Hilfe eines Systems von Zeichen ein wechselseitiger Austausch von bestimmten Bedeutungen und Inhalten stattfindet. Menschliche Sprache ist insofern nur ein besonderes Kommunikationsmittel mit einem spezifischen System von Zeichen (Semiotik), Regeln (Syntax) und Bedeutungen (Semantik), das zur Verständigung zwischen Menschen dient.

Das Sender-Empfänger-Modell, das in den 40er Jahren von Claude E. Shannon und Warren Weaver entwickelt worden ist und daher auch als Shannon-Weaver-Modell bezeichnet wird, gilt als ein klassisches Kommunikationsmodell. Da die Entstehung des „Sender-Empfänger-Modell“ ursprünglich aus einer Theorie zur nachrichtentechnischen Übermittlung von Informationen (z. B. das Telefon) entstanden ist, spielt die korrekte „Kodierung“ und „Dekodierung“ eines spezifischen „Codes“ in Sprache oder Schrift eine herausragende Rolle. Nur wenn Sender und Empfänger über den gleichen Code verfügen, kann folglich eine Kommunikation gelingen.

„Ein Code (Kode) ist eine systematische Vorschrift zum Ersetzen von Zeichen aus einem Zeichenvorrat durch Zeichen aus einem zweiten Vorrat. Soll eine Kommunikation erfolgreich ablaufen, muss der Code Sender und Empfänger bekannt sein. Die Kodierung fügt der ursprünglichen Information nichts hinzu.“ (https://www.philosophie-wissenschaft-kontroversen.de/details.php?id=940924&a=t&autor=Baudrillard&vorname=Jean&thema=Code)

Die besondere Bedeutung des Codes für die Kommunikation wird zum Beispiel bei Jean Baudrillard um eine sozialtheoretische Komponente ergänzt, die den Code als „Konstituens moderner Gesellschaften“ sieht. Jean Baudrillard gilt als „ein einflussreicher Vertreter des poststrukturalistischen Denkens, der vor allem für seine Analysen der Vermittlungs- und Kommunikationsweisen der Postmoderne bekannt ist.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Baudrillard)

Auf diesem neuen Konzept des Codes baut Baudrillard seineMedientheorie insbesondere für die Massenmedien, wie z. B. das Fernsehen, in dem 1972 erschienenen Buch Requiem für die Medien auf. In seinem Hauptwerk Der symbolische Tausch und der Tod“ (1976) verwendet er diese medientheoretischen Analyse erneut und erweitert sie zu seiner sozialkritischen „Simulationstheorie“. Im Folgenden möchte ich die Ergebnisse dieser Analyseschritte noch einmal mit Hilfe der Magisterarbeit von Andreas Mohr „Verdrängung widerständiger Lesarten? Medien und Macht bei Jean Baudrillard und Stuart Hall“ (2008) nachzeichnen um sie auf die heutige soziale Wirklichkeit anzuwenden.

„Requiem für die Medien“ – das Ende der Medientheorien: YOLO (You only live once)

Um meine Ausgangsthese zu stützen, dass es aufgrund der neuen Kommunikationsformen in den digitalen Medien zu einer neuen Sprachlosigkeit in der sozialen Wirklichkeit gekommen ist, kommt mir Baudrillards „Requiem für die Medien„: „Es gibt keine Theorie der Medien“ (ebd. S. 83) gerade recht. Er geht nämlich in seinem medientheoretischen Buch von der Annahme einer kontrollierenden, normierenden und disziplinierenden Funktion der Massenmedien aus, wobei er hierbei vor allem das Fernsehen im Visier hat, da digitale Medien zu der damaligen Zeit natürlich noch unbekannt waren.

Einer der Auslöser für die späteren, doch sehr medienkritischen Schriften Baudrillards war McLuhans optimistische Botschaft: Das Medium ist die Massage: ein Inventar medialer Effekte“ (1967), in dem er einen Zusammenhang zwischen technischen Medien und der menschlichen Sinneswahrnehmung propagiert. Soll heißen, die „Formierungsprozesse“ auf die Wahrnehmung, die durch die Medien ausgelöst würden, wären wichtiger als deren Inhalte.

Das konnte natürlich so nicht stehen bleiben und sorgte für ausreichend Widerspruch im politischen Lager, zum Beispiel in Hans Magnus EnzensbergersBaukasten zu einer Theorie der Medien“ (1970). Enzensberger knüpft an die Kritik der „Kulturindustrie“ in der „Dialektik der Aufklärung an, die ich in einem vorhergehenden Essay Die Dialektik der Aufklärungen – es werde endlich Licht! bereits beschrieben hatte. In seinem „Baukasten“ geht er dialektisch von der „Steuerungs- und Kontrollfunktion“ der elektronischen Medien in der modernen Gesellschaft aus:

„Die Vermassung der Kommunikationsinhalte ebenso so wie die Vielfalt der Kommunikationswege untergräbt die Möglichkeiten der Zensur. Da elektronische Medien die Information beliebig reproduzierbar und allgemein zugänglich machen, durchbrechen sie auch soziale Barrieren: „Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär.““ (Kursbuch 20/1970: 167) (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Baukasten_zu_einer_Theorie_der_Medien)

Da andererseits das soziale Partizipationsmoment für einen egalitären Gebrauch der Medien, durch das Medium selbst wieder zunichte gemacht wird:

„In der heutigen Gestalt dienen Apparate wie das Fernsehen oder der Film deswegen nicht der Kommunikation, sondern ihrer Verhinderung. Sie lassen keine Wechselwirkung zwischen Sender und Empfänger zu: technisch gesprochen, reduzieren sie den feedback auf das systemtheoretisch mögliche Minimum.“ (Hans Magnus Enzensberger, Kursbuch 20/1970, S. 160)

Diesen Ansatz verfolgt Baudrillard ebenfalls mit seiner Medienkritik. Er geht nur einen konsequenten Schritt weiter, in dem er die marxistisch orientierte Medienkritik Enzensberger mit dessen Fokus auf die Produktionsverhältnisse und die partizipatorische Vergesellschaftung der Massenmedien als „Utopie verwirft. Die Kommunikation selber sieht er durch ihre Sprachlosigkeit gescheitert. Daher stellt Baudrillard mit seinem „Requiem für die Medien“ das anfangs erwähnte „Sender-Empfänger-Modell“ in Frage, da es ihm nicht mehr um den Sender oder Empfänger geht, sondern nur noch um den Code.

Das Medium ist tot, es lebe der Code: EOD/EOT (End of discussion/End of Thread)

„Der Code wird in diesem Leitschema [Jakobsons, A. M.] zur einzigen Instanz, die spricht“. Die ständige Reproduktion kollektiver Normen bedeutet für Baudrillard, wie im Folgenden zu zeigen ist, eine effektive soziale Kontrolle des Publikums, das sein Verhalten an einem „dichtgeknüpften Netz von Bedeutungsmodellen“ ausrichtet, „dem kein Ereignis entgeht“. (Andreas Mohr, Verdrängung widerständiger Lesarten? Medien und Macht bei Jean Baudrillard und Stuart Hall, 2008, S. 30)

Wolfgang Kramer sieht in seinem Buch Technokratie als Entmaterialisierung der Welt“ (1998) bei diesem „Übergang zur medial vermittelter Kommunikation die nonverbalen und die mehrdeutigen Anteile der Rede eliminiert. Sie werde dadurch auf eine an formalisierten Rastern ausgerichtete, explizite Form von Information reduziert.“ (ebd. S. 55)

Wer hierbei nicht an die anfangs erwähnten Akronyme und Emojis denken mag „LOL, gg ;-)“. Die „Kommunikation“ mit Hilfe des Mediums „Messengerdienst“ ist nun mal keine echte Kommunikation, da die „Präsenz und Reziprozität“ von Sender und Empfänger fehlt:

Präsenz und Reziprozität […] die notwendigen Bedingungen“ für menschliche Kommunikation sind: dann kann eine anonyme Kommunikation, bei der ‚Sender’ und ‚Empfänger’ nicht mehr in Kontakt stehen, dieser „radikalen Definition“ nicht entsprechen. […] Reziprozität als […] die Form einer wechselseitigen, nicht vermittelten Beziehung des Einen auf das Andere, die sich am gleichen Ort und zu gleicher Zeit vollzieht.“ (Wolfgang Kramer, Technokratie als Entmaterialisierung der Welt, 1998, S. 54, 349)

Es gibt innerhalb der Messengerdienste immer nur den Sender, da der Empfänger aufgrund der zeitlichen und örtlichen Distanz keinerlei Präsenz oder Reziprozität besitzen kann. Dies macht Messengerdienste aus meiner Sicht ja auch so beliebt, da man sich keiner direkten Auseinandersetzung in einer face-to-face-Kommunikation stellen muss.

Der Code als „Tauschgeschäft“: FWIW (For what it’s worth)

Kommunikation als ein Tauschverhältnis von Codes ist aber eben auch auf non-verbale Kommunikationsmittel, wie zum Beispiel Gestik und Mimik angewiesen, damit der Tausch und die Verständigung gelingt. Da dies im normalen Messengerdiensten natürlich nicht vorgesehen ist, muss man sich der besagten Akronyme und Emojis bedienen, um die Sprachlosigkeit zu überwinden. Missverständnisse bei erwähntem „Tauschgeschäften“ sind geradezu vorprogrammiert. Wie viele digitale Kommunikationen sind schon an dem :-)) Emoji gescheitert, weil der Empfänger der Botschaft dies für Ironie oder Auslachen gehalten hat. Der Autor outet sich selber als notorischer „Zwinkerer“, aber wie soll man auch sonst mit so einem sprachlosen Medium, das „Distanz wahrt“, umgehen ;-):

Medien als zwischengeschaltete Mittler vor allem ein Kommunikationshindernis (Baudrillard, Tausch und Tod, S. 71): Kommunikation über Massenmedien bedeutet für Baudrillard nicht, einander unbekannte ‚Sender’ und ‚Empfänger’ (zu verstehen als unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen) in ein Interaktionsverhältnis treten zu lassen und sie einander näher zu bringen (bei Enzensberger läuft dieses ‚Näherbringen’ gewissermaßen auf Überzeugung bzw. Manipulation hinaus), sondern ihre Distanz zu wahren – diese Trennung hält Baudrillard für die genuine „Ideologie der Medien“ (Baudrillard, Requiem, S. 90).“ (Andreas Mohr, Verdrängung widerständiger Lesarten? Medien und Macht bei Jean Baudrillard und Stuart Hall, 2008, S. 25)

Die Ideologie der digitalen Massenmedien zielt laut Baudrillard darauf ab den Code selber zum Sender in der Kommunikation zu machen. In diesem Zusammenhang spricht er auch vom „Terrorismus des Codes“ (Baudrillard, Requiem, S. 105) in der medialen Kommunikation. „[D]ie Medien sind dasjenige, welche die Antwort für immer untersagt […]. Darin liegt ihre wirkliche Abstraktheit. Und in dieser Abstraktheit gründet das System der sozialen Kontrolle und der Macht“ (ebd. S. 91). Diese massenmediale „Zwangsvergesellschaftung als System der sozialen Kontrolle“ (ebd. S.99) versucht den Code und die damit vermittelten Modelle im Rekurs auf de Saussure als Komplex gemeinschaftlicher Konventionen bzw. als eine Art Konsens dem Empfänger aufzuzwingen. „Das genau ist Massenmediatisierung. Nämlich kein Ensemble von Techniken zur Verbreitung von Botschaften, sondern das Aufzwingen von Modellen.“ (ebd. S. 99)

„Es sind genau diese Verständnisweisen, Deutungsmuster und Interpretationsvorgaben, die als feste Normen in der Medienkommunikation mitgesendet werden. Sie stehen Baudrillard zufolge für keine Ideologie einer bestimmten Gruppe (mehr), sondern sind verselbständigt und von ihren Urhebern entbunden worden – Baudrillard kann ihre Herkunft nicht genauer verorten.“ (Andreas Mohr, Verdrängung widerständiger Lesarten? Medien und Macht bei Jean Baudrillard und Stuart Hall, 2008, S. 34)

Und hier sind wir dann nun wieder in unserem „Tribe im digitalen Dorf“ angelangt. Der Austausch von spezifischen Codes dient als Schibboleth“ zum Eintritt in die gemeinsame Interessengruppe. Mit Turnschuhen kommt man nicht in diesen Club. Ein beredtes Beispiel für die Inhalts- und Sinnentleerung stellen die momentan so gehypten NFTs dar. „Ein Non-Fungible Token (NFT) ist ein nicht austauschbares (englisch non-fungible) digitales Objekt.“(https://de.wikipedia.org/wiki/Non-Fungible_Token) Wer in dem Besitz dieses Codes in Form eines NFTs ist, kommt rein in den „Club der Gleichgesinnten“ im Sinne einer Hegemonie der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und Aufrechterhaltung der Klassengegensätze. Der Tausch dieser Codes beschreibt laut Baudrillard den Weg „einer kapitalistisch-produktivistischen Gesellschaft zu einer neokapitalistischen, kybernetischen Ordnung, die eine absolute Kontrolle anstrebt“ (Baudrillard, Tausch und Tod, S. 94)

Einen realen Inhalt oder Wert besitzt der Code der Token nun einmal nicht, ganz zu schweigen von einem tieferen Sinn, außer der Gruppenzugehörigkeit. Wir tauschen nur noch Zeichen aus, aber keine Inhalte und dabei heißen die Dinger auch lustigerweise „non-fungible“ (engl. = nicht pfändbar ;-). Die niederländische Tulpenmanie“ des 16. Jahrhunderts ist dagegen nur ein „Mauerblümchen“. Baudrillard aber hätte an diesem Beispiel der NFTs seine Freude gehabt und die „Simulation“ der sozialen Wirklichkeit als „Hyperrealität nur bestätigt gefunden.

Die Simulationstheorie – willkommen in der „Hyperrealität“ der postfaktischen, sozialen Wirklichkeit: RLRT (Real life retweet)

Baudrillard unterscheidet drei Zeitalter des Zeichens bzw. „drei Ordnungen des Simulakrums: Nach dem Zeitalter der „Imitation und demjenigen der Produktion leben wir heute im Zeitalter derSimulation – einem gesellschaftlichen Zustand, in dem Zeichen und Wirklichkeit zunehmend ununterscheidbar werden. Die Zeichen, so Baudrillard, haben sich von ihrem Bezeichneten gelöst und seien „referenzlos“ geworden.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Baudrillard)

Wenn also das Zeichen selber zum Inhalt geworden ist, wozu bedarf es dann einer weiteren Kommunikation; der Code spricht für sich. Der Austausch – im wahrsten Sinne des Wortes – mit Hilfe der Sprache kommt zum Erliegen, weil der Code selber die Kommunikation ist. Es bedarf keiner Imitation oder Produktion mehr, die Simulation der sozialen Wirklichkeit als „Hyperrealität“ reicht vollkommen aus.

Wirklichkeit existiert außerhalb von Sprache, doch sie wird kontinuierlich durch Sprache vermittelt: Und was wir wissen und aussprechen können, muss im Rahmen und mittels von Diskursen produziert werden. Diskursives ‚Wissen’ ist nicht das Produkt der unmittelbaren Erscheinung des ‚Realen’ in der Sprache, sondern das der Artikulation von Sprache zu realen Verhältnissen und Bedingungen.“ (Stuart Hall, Kodieren/Dekodieren, 1999, S. 71)

Die momentane soziale Wirklichkeit, wie ich versucht habe sie zu beschreiben, ist aber meilenweit von einem Idealzustand der Kommunikation entfernt, wie sie Baudrillard im Rahmen des ‚symbolischen Tauschs’ als eine persönliche Kommunikation, direkt, ambivalent und unmediatisiert beschrieben hat (vgl. Kap. II.2.2). Man hat geradezu das Gefühl, dass ohne das Medium, in welcher Form auch immer, eine Kommunikation gar nicht mehr möglich ist. Wann findet denn überhaupt noch das persönliche Gespräch statt? Reicht hierzu nicht auch eine sprachlose „Message“ im „Messengerdienst“ oder ein kontextloses „Zwitschern“ im „Getwittere“. Ist doch viel effizienter und vor allem hält man sich mögliche Antworten oder Repliken vom Leib. Der „Empfänger“ soll gefälligst nur „empfangen“ und einen nicht auch noch mit seiner „Sendung“ belästigen.

Wohin derlei „Hyperrealitäten“ führen können, hatte ich ja bereits ausführlich in meinem vorhergehenden Essay „Der digitale Tribalismus – „Filterblase – kein Zutritt, geschlossene Gesellschaft!“ oder „Nichts Neues aus der Echokammer!““ beschrieben. Das postdigitale (postmodern, war gestern 😉 Individuum schließt sich in seiner selbstgewählten „subjektiven Firewall ein und tauscht nur noch Codes innerhalb seines Tribes aus.

„[I]m Fall der Medien [besteht] der traditionelle Widerstand darin, die Botschaften nach Maßgabe des der Gruppe eigenen Kodes umzuinterpretieren und sie den eigenen Zielen unterzuordnen. Die Massen dagegen akzeptieren alles und verdrehen dann alles en bloc ins Spektakuläre, ohne einen anderen Kode zu beanspruchen, ohne nach Sinn zu fragen und im Grunde auch ohne Widerstand, indem sie schlichtweg alles in eine unbestimmte Sphäre gleiten lassen.“ (Baudrillard, Im Schatten der schweigenden Mehrheiten, 2010, S. 38)

Neben dieser scheinbar nicht mehr veränderbaren, postfaktischen„, sozialen Wirklichkeit mit all ihren alternativen Fakten sehe ich hier aber auch tiefgreifende, längerfristige Veränderungen im alltäglichen Zusammenleben von Menschen. Wenn die konstatierte „neue Sprachlosigkeit“ in „real life“ zur Realität geworden ist, bleibt irgendwann auch mal die soziale Interaktion in „real life“ auf der Strecke. Es kann dann unter Umständen zu einem sogenannten „Social Cocooning“ kommen, welches ebenfalls ein relativ junges, sozialtheoretisches Phänomen, das als „neue Lust an dem Alleinsein“ bezeichnet werden kann. Hiermit möchte ich mich aber in meinem nächsten Essay „Social Cocooning – die neue Lust am kultivierten Alleinsein“ beschäftigen.

 

Ich bin immer mit meiner „Diogenes-Lampe“ unterwegs, um Menschen zu finden, die sich auch nach ein wenig „Licht der Erkenntnis“ sehnen. Also wenn Ihr eigene Beiträge oder Posts für meinen Wissenschaft-/Philosophie-Blog habt, immer her damit. Sie werden mit Eurem Namen als Autor auf meiner Seite veröffentlicht, so lange sie den oben genannten Kriterien entsprechen. Denn nur geteiltes Wissen ist vermehrtes Wissen.
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Axel Stöcker
1 Jahr zuvor

Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, Messenger und Co. seien nur Tools für beschleunigtes Briefeschreiben, aber das wäre in der Tat naiv. Für Briefe hatte man einen ganzen Tag Zeit (oder mehr), weil die Post schon zuhatte. So konnte man sich in aller Ruhe über die Semantik des Geschriebenen Gedanken. Die Zeit hatte man, denn man musste auch keine Emails beanantworten.
Sich diese Zeit beim Messenger zu nehmen (was ja grundsätzlich ja möglich wäre) ist reine Theorie, denn der andere wartet, es muss schnell gehen und die wenige Zeit braucht man auch noch dafür, um das passende Smiley rauszusuchen (vermutlich sind die Jungen da schneller, aber bei mir dauert das oft). Ja, das ist Syntax pur, die Semantik bleibt auf der Strecke.
Kein Wunder, dass Ironie noch weniger verstanden wird als früher, solange sie nicht mit einer penetrant zwinkernden Emoji kenntlich gemacht ist (Ist es dann überhaupt noch Ironie?), denn um sie zu erkennen, müsste man sich über geschriebene erst einmal Gedanken machen.
Kann die Diagnose der allgemein abnehmende Ironie-Kompetenz jemand bestätigen? Oder ist das die singuläre Erfahrung eines alternden weißen Mannes?
Vielen Dank für dieses erhellende Essay, Dirk!