Digitaler Tribalismus - Filterblase - Echokammer

Digitaler Tribalismus

„Filterblase – kein Zutritt, geschlossene Gesellschaft!“ oder „Nichts Neues aus der Echokammer!“

– ein Feature zum Phänomen „Digitaler Tribalismus“ –

 

Mikrofontest als Intro: „Test, Test, Digitaler Tribalismus…“

Dieser Essay stellt den letzten Teil meiner „Trilogie zur Medientheorie“ dar, da er auf die zuvor postulierte Notwendigkeit eines „informationellen Filtersystems“ zur Reduktion der „Informationsflut“ in digitalen Medien rekurriert.

In diesem Zusammenhang war ich über ein relativ aktuelles Phänomen der momentanen Medienwirklichkeit „gestolpert“, das man als „digitalen Tribalismus“ in Form der „Informationsblase“ oder „Filterblase“ (engl. „filter bubble“) oder des „Echoraums“ oder „Echokammer-Effekts“ (engl. „Echo Chamber Effect“) bezeichnen könnte.

Die Gemeinsamkeit der zum Teil sehr kontrovers diskutierten Schlagworte bezieht sich auf den Umstand, dass es sich hier um ein noch nicht bis ins Detail erforschtes Gebiet der Medientheorie handelt, das daher noch relativ viel Spielraum zu Spekulationen bietet. Dem möchte ich mich im Folgenden natürlich keinesfalls anschließen, in dem ich meine „eigene Filterblase“ schaffe oder mich in meiner „eigenen Echokammer“ einschließe. Aus diesem Grunde sollen ausdrücklich beide unterschiedliche Meinungslager zur möglichen Relevanz der Begriffe zu Worte kommen ;-). Doch zunächst einmal wäre eine Begriffsklärung hier doch sehr sinnvoll. Im Folgenden habe ich mich im Wesentlichen von dem 2018 auf „Deutschlandfunk – Kultur“ erschienen Podcast „Filtern als Kulturtechnik (https://www.deutschlandfunkkultur.de/filterblasen-echokammern-co-filtern-als-kulturtechnik-100.html) von Raphael Smarzoch inspirieren lassen.

Werbejingle als Hintergrundmusik: „Welcome to the Hotel California“ – von „Digital Tribes, Filterblasen und Echokammern“

Der von Tim Berners-Lee 2010 geprägte Begriff des „Hotel-California-Effekts“ (etwa: herein geht es, aber nie mehr hinaus) bezieht sich auf die „mediale Gefangenschaft„, in die sich die Benutzer von Sozialen Medien beim Eintritt auf eine dieser Plattformen begeben. Die Textzeile aus dem gleichnamigen Lied der Eagles von 1976 Sie können jederzeit auschecken, aber Sie können niemals gehen“ referiert auf dem Umstand, dass Cloud-Anbieter oder Social Media-Konzerne die im Laufe der Zeit gesammelten persönlichen Daten, die User-Profile und individuellen Einstellungen der Accounts in „Geiselhaft“ nehmen und eine Migration zu konkurrierenden Cloud-Anbietern und Social Media-Konzernen durch unbrauchbare Formate oder technische Restriktionen verhindern möchten.

Die Personalisierung von Metadaten als Eintritt in die Filterblase

Die „Personalisierung“ der Suchanfragen durch einen KI-Algorithmen-perfektionierten „search range oder der auf die persönlichen-Interessen-maßgeschneiderte „News-Feed“ der Social Medias ist genau für solch ein Zimmer im „Hotel California“ zur Dauerbelegung eingerichtet. Es geht den Internet-Konzernen zunächst einmal weniger um gesellschaftliche oder politische Einflussnahme, sondern nur um eine rein wirtschaftliche Prosperität. Die Möglichkeiten der zielgerichteten, personalisierten Werbung sind aber der eigentliche Motor für die genannte Personalisierung von Userdaten in Form der Metadaten. Und genau hier schließt sich die sogenannte „Filterblase“ zum ersten Mal.

Der Begriff der Filterblase lässt sich auf das gleichnamige Buch „Filter Bubble – Wie wir im Internet entmündigt werden“ von dem Internetaktivisten Eli Pariser zurückführen und wird von ihm folgendermaßen definiert:

„Die neue Generation der Internetfilter schaut sich an, was Sie zu mögen scheinen – wie Sie im Netz aktiv waren oder welche Dinge oder Menschen Ihnen gefallen – und zieht entsprechende Rückschlüsse. Prognosemaschinen entwerfen und verfeinern pausenlos eine Theorie zu Ihrer Persönlichkeit und sagen voraus, was Sie als Nächstes tun und wollen. Zusammen erschaffen diese Maschinen ein ganz eigenes Informationsuniversum für jeden von uns – das, was ich Filter Bubble nenne – und verändern so auf fundamentale Weise, wie wir an Ideen und Informationen gelangen.“ (Pariser, 2011 S. 17)

„Die Filterblasen-Theorie: „Sie beschreibt quasi einen algorithmisch kuratierten Informationskosmos auf Plattformen wie Facebook, der dem Einzelnen, so zumindest die Theorie, bereits bestehende Meinung zurückspiegelt, seine Position in einem beständigen Feedbackloop bestätigt und widersprechende Sichtweisen und kognitive Dissonanzen weitestgehend ignoriert“, sagt Felix Maschewski, Literaturwissenschaftler und Essayist.“ (Raphael Smarzoch, Filtern als Kulturtechnik, 2018 auf https://www.deutschlandfunkkultur.de/filterblasen-echokammern-co-filtern-als-kulturtechnik-100.html)

Wenn Parisers und MaschewskisFilterblasen-Theorie“ in dieser Form so stimmen sollten, hätte dies natürlich weitreichende Konsequenzen, nicht nur für die Medienwirklichkeit, sondern auch für die soziokulturelle, politische Wirklichkeit eines jeden, einzelnen Menschen. Es stellt sich somit die Frage, inwieweit eine unabhängige Meinungsbildung durch freie Informationsbeschaffung hinter dieser „subjektiven Firewall“ mit den eigenen „Feedbackloops“ überhaupt noch möglich wäre.

Die Fragmentierung der Öffentlichkeit als Entdemokratiserung

Demokratietheoretiker, wie zum Beispiel Jürgen Habermas, befürchten gar negative Folgen in Form einer „Entdemokratisierung“ durch diese Form der „Fragmentierung der Öffentlichkeit„:

„Ein demokratisches System nimmt im Ganzen Schaden, wenn die Infrastruktur der Öffentlichkeit nicht mehr die Aufmerksamkeit aller Bürger gleichmäßig auf die relevanten und entscheidungsbedürftigen Themen lenken und wenn sie die Ausbildung konkurrierender öffentlicher, und das heißt: qualitativ gefilterter Meinungen nicht mehr auf einem angemessenen Niveau leisten kann.“ (Vgl. z. B. Jürgen Habermas, Warum nicht lesen?, in: Katharina Raabe/Frank Wegner (Hrsg.), Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe, Berlin 2020, S. 99–123, hier S. 103 f.)

Mit der „Fragmentierung von Öffentlichkeit“ stellt sich eben auch die Frage nach dem Verbleib des politischen Systems, der „Demokratie“ selber. Denn ohne „Öffentlichkeit“ (griech. „dḗmos“ = „Staatsvolk“) gibt es auch keine „dēmokratía“ (griech. „δημοκρατία“ = „Herrschaft des Staatsvolkes“), sondern nur noch „Avatare“ im virtuellen, sozialen Raum der Social Medias, die auch als „Digital Natives„, gemäß der 1996 veröffentlichten „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ von John Perry Barlow, bezeichnet werden können.

Die einst ursprüngliche Idee des Internets als eine basisdemokratische Plattform für alle Menschen fragmentiert folglich wieder in einzelne, interessengeleitete, lose Zusammenschlüsse aufgrund einer „[(sozialen)] Homophilie“, also „die Tendenz, vorzugsweise Beziehungen und Freundschaften mit Menschen einzugehen, die einen ähnlichen sozialen Status, ähnliche Einstellungen oder Interessen haben.“ (Meyer, 2017).

Willkommen im Digitalen Tribalismus

Derlei Interessensgruppen, die der „tribalen Epistemologie“ (David Roberts) frönen, könnte man dementsprechend auch im ethnologischen Sinne als „digitalen Volksstamm“ oder „Digital Tribe“ bezeichnen. Der „digitale Tribalismus“ zieht seine „Grenzzäune“ im „globalen Dorf“ des Internets gegenüber Andersdenkenden wieder hoch. Wer nicht die gleiche Meinung, Weltanschauung, Interessen, politische/religiöse Ausrichtung teilt, gehört nicht zum selben „Stamm“ (Tribe) und wird in den „Stammesfehden“ auf den Social-Media-Plattformen auch auf das Schärfste als ideologischer Gegner bekämpft. Der „Hate Speech“ gehört zum guten Umgangston der „Netiquette„. Das „Argumentum ad hominem“ scheint der allgemeingültige Standard im argumentativen Gedankenaustausch zwischen Menschen zu sein. Um die „Sache“ geht es schon lange nicht mehr. Wo sind die Ideen der Aufklärung, des kritischen Rationalismus geblieben, wenn „Aufklärung“ nur noch mit dem Biologieunterricht und „Rationalismus“ nur noch mit der Steigerung der Effizienz eines Unternehmens durch Automatisierung in Verbindung gebracht wird?

Sprecher aus dem Off: „Bitte belästigen Sie mich nicht mit Fakten, ich habe meine Meinung schon gebildet!“

An der Tür zur Filterblase prangt auf leuchtenden Lettern „Geschlossene Gesellschaft!“ und „Zutritt unerwünscht!„. Das „Selective exposure“-Verhalten (Thies, 2017, S. 102) oder die „identitätsschützende Kognition“ (Dan M. Kahan, 2017) schließt fremdes Gedankengut bereits im Vorfeld, gleichsam an der „Zellmembran des informationellen Selbst„, aus. In meinem vorhergehenden Essay zur „Informationsgesellschaft 2.0“ hatte ich die „Pathogenese“ des von dem amerikanischen Medienwissenschaftler Neil Postman geprägten Begriff des „Kultur-AIDS“ bereits versucht zu beschreiben:“Die „informationellen Filtersysteme“ als „T-Helfer-Zellen“ des „kulturellen Immunsystems“ werden selber zum Angriffsziel und versagen aufgrund der Übermenge an Informationen.“

„In dem Moment, wo ich eine Nachricht priorisiere, habe ich keine Kapazität mehr. Das ist so ein sogenanntes strukturelles Bottleneck oder Flaschenhals, dass wir einfach nur eine Information zu einem Zeitpunkt wirklich bewusst verarbeiten können und die andere Information wird sozusagen aus dem System rausgehalten, um das System, so seine Auffassung, vor Überlastung zu schützen.“ (Hilde Haider in: https://www.deutschlandfunkkultur.de/filterblasen-echokammern-co-filtern-als-kulturtechnik-100.html)

Die Pathogenese der informationellen Allergie

Die Pathogenese dieser „Informations-Diät“ kann aber auch im späteren Verlauf zu einer „informationellen Allergie“ führen, wenn an dieser Stelle eine kleine Analogie erlaubt sei. Die „Filterblase“ als „Zellmembran des informationellen Selbst“ macht dicht gegenüber „körperfremden Informationen„. Selbst relevante Informationen werden hierbei herausgefiltert, da sie scheinbar von außen einzudringen versuchen und mit Hilfe von „Infoferonen“ (Neologismus zu den Interferonen) als fremdartig gemarkert werden. Ja, selbst veritable Fakten werden einfach ignoriert, da sie nicht in das eigene Weltbild passen. Also benötigt man „alternative Fakten„, selbst wenn sie ganz offensichtlich falsch sind. Denn die sogenannten „Fake News“ verbreitet ja schließlich nur der „gegnerische Tribe„. Gewisse amerikanische Präsidenten konnten hiervon leider bereits ein „beredtes Zeugnis“ als „Narrativ“ ablegen. Um aber nicht selber ein neues Narrativ zu schaffen, ist hier eine Relativierung des Phänomens dringend von Nöten.

Die Sozialökologie als Gegenargument

Ben Thies zum Beispiel bezeichnet das zuvor konstatierte, medientheoretische Phänomen als reinen „Mythos Filterblase“ in seinem gleichnamigen Buch von 2017 (Thies, B., Mythos Filterblase. In: Kappes, C., Krone, J., & Novy, L. (2017). Medienwandel kompakt 2014–2016: Netzveröffentlichungen zu Medienökonomie, Medienpolitik & Journalismus. Wiesbaden: Springer VS). Er weist in besagtem Buch mit Hilfe von Daten folgerichtig nach, dass dieses „Selective Exposure“-Verhalten eigentlich nichts Neues ist, sondern schon lange vorher als „Offline-Phänomen“ in der Auswahl des „passenden“ Stammtisches, Freundeskreises, Sportvereins, Lieblingszeitung, etc. existiert hat. Man(n)/Frau gesellt sich gerne unter Seinesgleichen/Ihresgleichen und Gleichgesinnten schon alleine aus Gründe der „Sozialökologie„, die auch schon mal gerne als „Sinus-Millieu“ bezeichnet wird. Alles „Andere“ wird eher als anstrengend betrachtet und gemieden.

Das Social-Media-Monitoring

Der eklatante Unterschied der „Online“- zur „Offline“-Welt liegt allerdings in dem höheren Grade der Effizienz und Transparenz begründet. So geht Manuel Wendelin in seinem 2014 veröffentlichten Artikel „Transparenz von Rezeptions- und Kommunikationsverhalten im Internet“ auf die vielfältigen Möglichkeiten der „Social Media-Monitoring“-Instrumenten (ebd., S. 79) in Form von „Trend-Analysen„, „Issues-Analysen“ und „Tonalitäts-Analysen“ ein, die bei jedem „Gefällt-mir“-Like eine personalisierte Datenspur hinterlassen. Die vielen Likes, Cookies und Metadaten, die von den „People Analytic Systems“ über die User gesammelt werden, werden dann zu Zwecken des „Micro-Targeting“ als personalisierte Werbung oder zur politischen Meinungsbildung wie in einem Rückkopplungsmechanismus gegen den selben User benutzt.

Der italienischer Informatiker Walter Quattrociocchi von der Sapienza-Universität hat in dem Fachblatt PNAS ebenfalls eine Studie „Collective attention in the age of (mis)information“ (Walter Quattrociocchi et al. in: Computers in Human Behavior,Volume 51, Part B, October 2015, Pages 1198-1204 auf: https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0747563215000382) zu diesem Thema veröffentlicht, in der er in den sozialen Netzwerkenhomogene Meinungsschwärme“ nachzuweisen versucht. Laut seiner informationstheoretischen Studie bleiben die „Digital Tribes“ gerne zusammen, um sich hinter ihrer jeweilige Version von Realität zu scharen.

„Diese inhaltliche und politische Stromlinienförmigkeit sei ein Treiber von Radikalisierung und erschwere öffentliche Debatten zunehmend. Es handelt sich um ein Indiz für ein Phänomen, das den meisten Nutzern aus Netzwerken wie Facebook und Twitter selbst bekannt ist: Man bleibt dort meist unter sich und hasst gemeinsam die jeweilige Gegenseite an – das stiftet offenbar Sinn, weil man sich dann zu den Guten zählen und sich selbst als Opfer der Gemeinheiten der Gegenseite gerieren kann.“ (Sebastian Herrmann: „Psychologie:Wir sind ja unter uns“ 2021, https://www.sueddeutsche.de/wissen/psychologie-facebook-twitter-echokammer-filterblase-fake-news-trump-1.5219256)

Die „Digital Natives“ in ihren „Digital Tribes“ frönen gerne ihr gemeinsames Hobby für „HiFi-Geräte“, was im Folgenden mit einem kleinen Ausflug in die „audiophile Welt“ der „Echokammern“ untersucht werden soll.

Zeit für den Werbeblock: „Nichts Neues aus der Echokammer“

„Der Begriff der Echokammer (engl. ,echo chamber’) verweist auf einen metaphorischen Raum, in dem Aussagen verstärkt und Störgeräusche, etwa anders lautende Meinungen, geschluckt werden. Einzug in die → Kommunikationswissenschaft hielt der Begriff bereits 2001 durch einen Essay des US-Rechtswissenschaftlers Cass Sunstein (Sunstein 2001); breitere Berücksichtigung fand er indes erst durch das 2007 erschienene Buch Republic.com 2.0 Sunsteins.“ (https://journalistikon.de/echokammer/)

Echokammern weisen eine „reflexionsarme“ (sic!) Akustik mit geringen Nachhallzeiten auf. Diese „Reflexionsarmut“ könnte im Zusammenspiel mit der vorgenannten Filterblase mit einer der Gründe sein, warum Menschen in der Echokammer auch nichts Neues mehr von Außen mitbekommen. Der oftmals synonym zur Filterblase verwendete Begriff der Echokammer meint aber eigentlich etwas vollkommen anderes. Er versucht nämlich das Resultat zu beschreiben, das durch die „informationelle Präselektion“ erst entstanden ist.

Die Platte hakt in der Echokammer

Das medientheoretische Phänomen der „Echokammer“ versucht den Umstand zu erläutern, bei dem das nun in seiner Filterblase eingeschlossene Mitglied eines „Digital Tribes“ fortan nur noch mit seinem eigenen „Feedback-Loops“ beschäftigt ist. Gleich einer narzisstischen Selbstbespiegelung werden die durch die Filterblase gefilterten Daten nun in der „kleinen, heilen Welt“ eingebaut und hallen fortlaufend von den Wänden der selbstgebastelten Wirklichkeit wider. Um hier ebenfalls wieder eine passende Stelle aus den Hotel-California-Lyrics zu bemühen: „Mirrors on the ceiling, The pink champagne on ice, And she said ‚We are all just prisoners here, of our own device‘.“

Falls diese medientheoretische Hypothese stimmen sollte, wäre hier die propagierte Abschottung zur „medialen Realität“ vollends erreicht. Es existiert auch kein „no way out“ mehr, da die plausiblen Argumenten oder veritablen Fakten alle draußen bleiben und ihnen in der „Echokammer“ kein Gehör geschenkt wird. „Kein Anschluss mehr unter dieser Nummer!“ oder „The person you have called is no more available!“ schallt es einem nur noch entgegen, wie in einer Telefonwiederholungsschleife.

„Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für [Adaptive Rationalität] Bildungsforschung und der Universität Amsterdam haben in einer jüngst veröffentlichten Studie [2020] untersucht, wie Menschen mit Informationen aus verschiedenen sozialen Quellen umgehen und daraus Überzeugungen bilden. „Gerade das Internet hat die Struktur und Dynamik sozialer Interaktionen dramatisch verändert. Die Verfügbarkeit sozialer Quellen ist teils algorithmisch verzerrt – zugunsten unserer eigenen Vorlieben. Es bietet uns gleichzeitig aber auch Zugang zu potenziell widerstreitenden Ansichten“, unterstreicht Erstautor Lucas Molleman die Bedeutung der Studie.“ (https://www.mpib-berlin.mpg.de/pressemeldungen/ueberzeugungen-filterblasen, Originalquelle: https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rspb.2020.2413)

Die egozentrische Diskontierung

Die in dieser Studie ermittelten Ergebnisse zur Meinungsbildung im Internet lassen sich am besten mit einem Begriff aus der Psychologie als eine „egozentrische Diskontierung“ beschreiben, so die Autoren. Bei dieser „medientheoretischen Anamnese“ konnte gezeigt werden, „nämlich, dass Menschen ihren eigenen Überzeugungen mehr Gewicht beimessen als denen anderer.“

Wouter van den Bos, ein assoziierter Wissenschaftler am Forschungsbereich Adaptive Rationalität des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und Professor an der Universität Amsterdam, der Koautor der besagten Studie ist, weist darauf hin:

„Unsere Studie zeigt, wie die Verarbeitung von sozialen Informationen Filterblasen im Internet verstärken kann und warum öffentliche Debatten häufig von Polarisierung geprägt sind: Menschen werden schnell unempfänglich für Gegenargumente.“

Und schwuppdiwupp, da sitzen wir nun in unseren gemütlich eingerichteten Echokammern und hören nur noch unsere eigenen Argumente als Podcast in der Repeatschleife über unsere Lautsprecherboxen, „High Fidelity“ (HiFi) im wahrsten Sinne des Wortes als „hohe Wiedergabetreue“ unserer eigenen Meinung.

Die Gegenargumente zur ideologischen Echokammer

Um aber mal wieder den privaten Audiogenuss ein wenig zu stören, sei hier dennoch auf ein paar Misstöne hingewiesen, die sich auch trotz Echokammer nicht herausfiltern ließen. Die Theorie der „ideologischen Echokammern“ ist noch kein verbindlicher Konsens in der Forschergemeinde, da einige Medientheoretiker dieses Phänomen als reinen „Schmiereffekt“ des digitalen Social-Media-Phänomens betrachten. Aufgrund der Unschärfe des Begriffs und der nicht ausreichenden Datenmenge könnten noch keine klaren Aussagen über die Existenz besagter Echokammern getroffen werden.

Dieser Argumentation widerspricht das Forscherteam um Quattrociocchi in ihrer im wissenschaftlichen Fachblatt PNAS veröffentlichten informationstheoretischen Studie. Die dort publizierte, aktuelle Analyse der Interaktionen von mehr als einer Million individueller Nutzer, die sich auf Facebook, Twitter, Reddit registriert und aus mehr als 100 Millionen Posts erzeugt haben, ergab ein anderes Bild:

„Unsere Analyse zeigt, dass Plattformen wie Facebook und Twitter, die als soziale Netze organisiert sind und über personalisierte Algorithmen die Newsfeeds der Nutzer steuern, die Bildung von Echokammern erleichtern und somit zumindest zu einer „Untertunnelung“ (https://www.sueddeutsche.de/wissen/psychologie-facebook-twitter-echokammer-filterblase-fake-news-trump-1.5219256).

„The echo chamber effect occurs online when a harmonious group of people amalgamate and develop tunnel vision.“ (https://en.wikipedia.org/wiki/Echo_chamber_(media) des öffentlichen Raumes führen.

Programmwechsel: „Wir unterbrechen die Sendung für eine wichtige Mitteilung!“

Jetzt wäre aber vielleicht endlich mal der Zeitpunkt für einen „Programmwechsel“ gekommen. Wenn diese zuvor beschriebenen medientheoretischen Phänomene tatsächlich existieren, wovon der Autor hier überzeugt ist, wäre es doch wichtig auch einmal Auswege aus dem „Digitalen Tribalismus“ aufzuzeigen, die „Filterblase“ platzen zu lassen und mal eine andere Platte in der „Echokammer“ aufzulegen. Nur, weil etwas so ist, muss es noch lange nicht so bleiben! Aber wie könnten solche soziokulturellen Veränderungen hinsichtlich der digitalen Wirklichkeit aussehen? Deshalb seien hier noch ein paar Lösungsvorschläge genannt.

1. Programm: Medienkompetenz = Informationskompetenz

Um hier einen echten „Game Changer“ ins Spiel um Deutungshoheit und Informationstransfer einzuführen, wäre es dringend von Nöten endlich mal die so oft beschworene „Medienkompetenz“ als eigenständiges Schulfach „Medien“ in den Fächerkanon aufzunehmen. Der „Medienkompetenzrahmen NRW“ sieht zumindest schon einmal eine curriculare Implementierung nicht nur im Fach „Informatik„, sondern auch in den anderen Fächern vor:

Bildung ist der entscheidende Schlüssel, um alle Heranwachsenden an den Chancen des digitalen Wandels teilhaben zu lassen. Allen Kindern und Jugendlichen sollen die erforderlichen Schlüsselqualifikationen und eine erfolgreiche berufliche Orientierung bis zum Ende ihrer Schullaufbahn vermittelt und so eine gesellschaftliche Partizipation sowie ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden.
Ziel ist es u.a., sie in einer Gesellschaft, die sich im digitalen Wandel befindet, zu einem sicheren, kreativen und verantwortungsvollen Umgang mit Medien zu befähigen und neben einer umfassenden Medienkompetenz auch eine informatische Grundbildung zu vermitteln.“ (https://www.schulministerium.nrw/medienkompetenzrahmen-nrw)

Ich halte die genannte „Schlüsselkompetenz“ im Zeitalter von „Web 3.0“ in der „Informationsgesellschaft 2.0“ für einen Alleinstellungsfaktor für eine soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft der Zukunft. Wer keinen entsprechenden Zugang zu den entsprechenden informationstechnologischen Medien besitzt oder keine Kompetenz im Umgang mit diesen vermittelt bekommen hat, gehört ratzfatz zum „informationellen Prekariat“ im Sinne des in dem zuvorgehenden Essay „Die Dialektik der Aufklärungen“ schon einmal beschriebenen Wheelerschen Postulats des „It from Bits!„.

Zudem wäre eine entsprechende Medienkompetenz auch jetzt schon hinsichtlich der zuvor beschriebenen geforderten Informationskompetenz sehr sinnvoll. Denn wer die informationstechnologischen Hintergründe der „Suchmaschinen“ und „Social Medias“ kennt, der weiß auch um die Bedeutung und wichtige Funktion seiner Metadaten und personalisierten Datenspuren. Insofern besteht eine größere Möglichkeit der Diversifizierung von Informationen, um nicht in die Filterblase zu tappen oder in der Echokammer zu sitzen. Ganz nebenbei bemerkt, es gibt tatsächlich auch noch andere Suchmaschinen und nicht nur eine.

2. Programm: Diskursethik

Felix Maschewski: „Ich glaube, dass die Fokussierung auf den Begriff oder die Metapher der Filterblase mit einer Enttäuschung einhergeht, dass wir nach der Einsicht, dass es auch andere Blasen gibt und dass wir auch in diese Blasen hineingeschaut haben, dass wir nach diesem großen Gespräch, das wir auch mit anderen Menschen geführt haben, vielleicht erkannt haben, dass wir den Anderen nicht nur nicht besser verstehen, sondern vielleicht ihn auch weniger mögen. Und dass wir plötzlich etwas sehen, was uns vorher ein Stück weit, weil wir diese Medien noch nicht hatten, verborgen geblieben ist. Er hat etwas sichtbar gemacht und damit auch etwas unbestreitbar, dass wir damit noch wirklich unerfahren sind.“

„Dass man sich überhaupt darüber im Klaren sein muss, dass mit diesem Medienwandel, der stattgefunden hat, wir alle zu Sendern geworden sind“, sagt Felix Maschewski. „Wie geht man damit um, dass andere Menschen andere Meinungen haben? Und was heißt Verständnis? Was heißt Konsens? Wie lässt sich das unterscheiden?“ (https://www.deutschlandfunkkultur.de/filterblasen-echokammern-co-filtern-als-kulturtechnik-100.html)

Raphael Smarzoch schlägt in dem zuvor genannten Podcast eine „Diskursethik als Informationsfiltertechnik“ im Sinne des „Drei-Siebe-Modells“ von Sokrates vor:

„Das Sieb der Wahrheit: Ist die Nachricht wahr, die weitergegeben wird?
Das Sieb des Guten: Ist es etwas Gutes, das erzählt wird?
Das Sieb der Notwendigkeit: Ist es wirklich notwendig, dass diese Nachricht erzählt wird?“ (https://www.deutschlandfunkkultur.de/filterblasen-echokammern-co-filtern-als-kulturtechnik-100.html)

Problematisch sehe ich diesen Vorschlag allerdings unter dem Aspekt der Filterung: Wer filtert was und warum? Weil genau darum geht es ja schließlich in der Verhinderung der besagten Filterblase, ansonsten läuft man Gefahr genau in eine solche zu geraten. Aber hier könnte die zuvor beschriebene Medienkompetenz Abhilfe schaffen, worauf auch Felix Maschewski hinweist:

„Ich glaube, mit dieser Diskursethik, die wir erlernen müssen, würde auch eine Medienreflexionskompetenz einhergehen.“
„Das wäre so etwas, dass wir wirklich lernen, auch diese gesamten Technologien ein Stück weit anders zu lesen, dass wir lernen, vielleicht über die Folgewirkung positive Potenziale durchaus aber auch negative Konsequenzen stückweit anders nachdenken lernen. Das wäre begrüßenswert.“ (https://www.deutschlandfunkkultur.de/filterblasen-echokammern-co-filtern-als-kulturtechnik-100.html)

Also begrüßen wir die „Schöne, Neue Welt“ der freien Informationsgewinnung, entpersonalisierten Suchanfragen und stammesoffenen Social Medias. Lasst die Filterblase platzen und legt eine neue Platte in der Echokammer auf. Die mit „Hotel California“ klingt schon ziemlich abgenudelt. Wie wäre es denn mal mit Enjoy the Silencevon Depeche Mode. Der scheinbar neuentdeckte „Genuss“ an der „Neuen Einsamkeit“ wird übrigens ein Thema eines meiner nächsten sozialtheoretischen EssaysSocial Cocconing“ werden.

 

Ich bin immer mit meiner „Diogenes-Lampe“ unterwegs, um Menschen zu finden, die sich auch nach ein wenig „Licht der Erkenntnis“ sehnen. Also wenn Ihr eigene Beiträge oder Posts für meinen Wissenschaft-/Philosophie-Blog habt, immer her damit. Sie werden mit Eurem Namen als Autor auf meiner Seite veröffentlicht, so lange sie den oben genannten Kriterien entsprechen. Denn nur geteiltes Wissen ist vermehrtes Wissen.
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3 Comments
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Axel Stöcker
2 Jahre zuvor

Wie gewohnt ein fundiert recherchierter Artikel zu einem wichtigen Thema! Extrem anregend, vieles geht mir durch den Kopf. Ich greife mal einen Gedanken heraus:

Das „Drei-Siebe-Modell“ scheint mir ein zweischneidiges Schwert zu sein. Nicht das erste Sieb natürlich – Wahrheit sollte über allem stehen -, aber die beiden anderen. Mit dem „Guten“ und „Notwendigen“ wird der Subjektivität und der Ideologisierrung der Debatte Tür und Tor geöffnet. Ganz besonders dann, wenn diese beiden Siebe von denen angewendet werden, die eingentlich die Profis im Umgang mit Information und Medien sein sollten – den Journalisten. Sie sollten zuerst einmal „schreiben was ist“ (wie das Motto des Spiegel lautet, der das früher vielleicht auch gemacht hat). Was ihrer Meinung nach „gut“ oder „notwendig“ ist, können sie gerne im Kommentar ergänzen.
Der heutzutage oft auch offensiv vertretene „Haltungsjournalismus“ macht aber genau das nicht und ist m. E. ein Faktor, der neben den von Dir aufgezeigten Punkten, den digitalen Tribalismus befördert. Er ist Teil des Problems.