„Kann das Gehirn das Gehirn verstehen?“
Ein weiteres Zoomposium-Interview mit dem sehr bekannten und renommierten deutschen Neurophysiologen und Hirnforscher Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolf Singer zum Thema „Konstitution von Bewusstsein“ aus neurowissenschaftlicher und philosophischer Sicht.
Interviewfragen „Kann das Gehirn das Gehirn verstehen?“:
1. Herr Professor Singer, hätten Sie sich als Hirnforscher, der über die zugrundeliegenden, kognitiven Prozesse genau Bescheid weiß, auch gegen das heutige Interview entscheiden können?
Oder welche neurophysiologischen Prozesse waren es genau, die am Ende „unweigerlich“ zu Ihrer Entscheidung führten, mit uns dieses Interview zu führen?
2. Seit Jahrzehnten suchen die kognitiven Neurowissenschaften nach den „neuronalen Korrelaten des Bewusstseins (NCCP)“ für die “1.Person-Perspektive” (Ich, Selbst, Qualia,..).
In Ihrem Aufsatz „A Naturalistic Approach to the Hard Problem of Consciousness“ (2019) schreiben Sie, dass das die “Erklärungslücke” für das „hard problem“ durch einen naturalistischen Ansatz geschlossen werden kann.
Könnten Sie uns bitte diesen “Schluss” einmal genauer erläutern?
3. In Ihren jüngsten Entdeckungen zur „Organisation des Großhirnrinden-Konnektoms“ als ein „komplexes, selbstorganisiertes System mit nichtlinearer Dynamik„, gehen Sie in Ihrer Theorie von einem „hochdimensionalen, dynamischen Zustandsraum“ aus um die Konstitution von Bewusstsein zu beschreiben.
Was genau verbirgt sich hinter diesem doch sehr komplexen Begriff?
Sehen Sie hierbei mögliche Korrelationen zu einer “mehrwertigen Logik” oder dem “Enaktivismus”?
4. In dem Aufsatz „Was macht Bewusstsein zu einem Rätsel?“ von 1994 (veröffentlicht in „Gehirn und Bewusstsein“ – laut Wikipedia herausgegeben von Wolf Singer) schrieb der Philosoph Peter Bieri:
„Es gibt in einem Organismus zahllose Rückkoppelungsmechanismen ohne das geringste Erleben: warum könnte nicht unser gesamtes Selbstmodell da sein, aber kein Erleben?“
Ist dies aus Ihrer Sicht eine berechtigte Frage?
5. Falls derartige Rückkopplungsmechanismen als „neuronale Architektur“ ihrer Meinung nach existieren könnten, wären diese vielleicht auch geeignet, um eine “starke KI” “in silicio” in Form eines “autopoeitischen Systems” nachzubilden?
Oder wie sehen Sie in Zukunft die mögliche Realisierung einer „Künstlichen Intelligenz„?
6. Sie sind auch bekannt für Ihr pointierten Formulierungen zum Thema „Willensfreiheit„. Diese sei „eingebildet“ bzw. ein „soziales Konstrukt“ las man beispielsweise 2003 von Ihnen in der FAZ (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/hirnforschung-wir-koennen-nicht-anders-1134281.html).
Sehen Sie das heute noch genau so?
Sind Freiheit und Verantwortung nur „Schall und Rauch“?
7. Der Quantenphysiker Anton Zeilinger sagte 2012 in einem Interview:
„Ob die Quantenphysik in lebenden Systemen eine Rolle spielt, die über die Chemie hinausgeht, ist eine der interessantesten Fragen in den Naturwissenschaften überhaupt – auch für die Hirnforschung. Die meisten Menschen würden sagen, dass das Denkorgan in einer warmen Suppe schwimmt, wo die Dinge nicht von der Umgebung isoliert sind, der Quantenzustand daher sehr schnell zerstört werden würde. Das letzte Wort ist aber noch nicht gesprochen.“ (https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wissen/natur/506880-Das-Loch-im-Verstaendnis-der-Welt.html)
Wie sehen Sie die Frage der Determiniertheit von Gehirnprozessen im Zusammenhang mit Quantenvorgängen?
Das Interview „Kann das Gehirn das Gehirn verstehen?“ mit Herrn Professor Dr. Wolf Singer, das ich mit meinem sehr geschätzten Blogger-Kollegen Axel Stöcker von „Der Blog der großen Fragen“ geführt habe, ist in voller Länge auf unserem gemeinsamen Youtube-Channel „Zoomposium“ erschienen unter dem Link:
https://youtu.be/C2FVIbAyaH4
© Die großen Fragen, philosophies.de
Lieber Herr Dr. K.,
vielen Dank für Ihren interessanten Kommentar, auf den ich gerne kurz eingehen möchte.
Ich denke, es gibt hier vielleicht 2 Prämissen, deren Überdenkungswürdigkeit zumindest einmal in Erwägung gezogen werden müsste.
Vom metaphysischen Standpunkt z. B. eines ontischen Strukturenrealismus, schwer zu sagen, noch schwerer zu beweisen. Selbst Gödels Unvollständigkeitstheorem wirkt hier eher axiomatisch.
Wie wäre es denn mal mit einem tertium, quadrivium, pentivium, etc. pp. in einer mehrwertigen, transklasssichen Logik? Auch die „bösen“ Paradoxien der Systemtheorie sind dann in einer Kybernetik 2. Ordnung auf einmal herzlich willkommen.
Also, warum nicht mal ein Bein nach „Draußen“ stellen und schauen was passiert? Vielleicht sind wir ja dann immer noch „Drinnen“ im Spiel 😉
Vielen Dank für Ihr Interesse und
viele Grüße
Einen herzlichen Dank an euch und Herrn Singer für dieses Interview, das mir sehr gefallen hat.
Insbesondere interessant fand ich dass Singer die Wichtigkeit der selbstorganisierten Kritikalität (self-organized criticality, SOC siehe die Vorstellung des Konzepts in der originalen Studie von Bak et al.: https://www.researchgate.net/publication/235741759_Bak_P_Tang_C_Wiesenfeld_K_Self-organized_criticality_An_explanation_of_1f_noise_Phys_Rev_Lett_59_381-384) teilt und etwas im Bezug auf die physiologische Funktion des Gehirns erläutert hat.
Dieses Konzept wird in den Neurowissenschaften heute besonders (aber nicht ausschließlich) über sogennante “neuronal avalanches” erforscht. Eine kleine Übersicht dazu findet man hier: http://www.scholarpedia.org/article/Neuronal_avalanche
Der Begriff der neuronalen Lawinen wurde hier direkt von dem berühmten “Sandpile model” von Bak und Kollegen übernommen.
Interessanterweise weist das Gehirn diese fraktale Struktur nicht nur in seiner physiologischen Funktion auf, sondern auch in Anatomie und Struktur, wie beispielsweise dieses sehr interessante Paper, um nur eines von sehr vielen zu nennen, aufzeigt: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2590346/pdf/yjbm00083-0036.pdf
Singer erwähnte ja dass die Zone zwischen sub und supra critical states, am “edge of chaos” besonders viele Freiheitsgrade für das Gehirn ermöglicht. Dies spiegelt sich anscheinend, nach vielen Studien bzw. Artikeln über dieses Thema, auch auf der anatomischen Ebene.
Philipp
Hallo Philipp,
vielen Dank für Deinen fachlich fundierten und profunden Kommentar, auf den ich gerne kurz eingehen möchte, soweit dies meine bescheidenen „Bordmittel“ zulassen ;-).
Daher auch noch einmal meinen herzlichen Dank an Dich für das exzellente Briefing vor dem Interviewtermin, das mir hinsichtlich der Bewertung der empirischen Daten zur Hirnforschung sehr geholfen hat.
Daher war ich ebenfalls sehr erstaunt, aber auch positiv überrascht, dass Herr Prof. Dr. Singer auf das von Dir erwähnte Thema des SOC bei der Auswertung der power-laws im fMRI-Scan zu sprechen kam. Ich hätte hier auch gerne noch ein wenig detaillierter nachfragen wollen, inwiefern der SOC eine elementare Rolle bei Konstitution von Bewusstsein zu spielen scheint. Daher vielen Dank für den Quellenverweis auf die “neuronal avalanches”, die ich mir mal angeschaut habe. Sehr interessant 👍!
Aber noch viel spannender finde ich die „augenscheinlichen Analogien“ hinsichtlich der Fraktale in der medizinischen Anatomie des Gehirns und in der späteren neurowissenschaftlichen Auswertung der fMRI-Scans als power-laws. Echt verblüffend. Ich hatte diesen Nexus zur Chaos-Forschung schon einmal in einem früheren Zusammenhang mit der „strukturalen Kopplung“ als „Systeme aus Systemen um Systeme“ in Erwägung gezogen:
„Deshalb bekomme ich bei diesem Gedanken „Systeme aus Systemen um Systeme“ auch immer Appetit auf Romanesco-Broccoli mit Fibonacci-Spiralen aus Mandelbrot- und Juliamengen (https://de.wikipedia.org/wiki/Fraktal). Die Fraktalgeometrie ist nichts anderes als körperlich gewordene Struktur dieser „Systeme im System“.
Früher hat man mit Chaos einen Zustand von vollständiger Unordnung oder Verwirrung (Wirrwarr) [auch ein schönes Wort] gemeint. Heute meint man mit Chaosforschung (https://de.wikipedia.org/wiki/Chaosforschung) das Gegenteil, nämlich (meist) verschachtelte mathematische Algorithmen, die als Funktion hoch-komplexe geometrische Strukturen (Fraktale) erzeugen.
Jetzt kommt wieder der Nexus zu den kognitiven Neurowissenschaften. Hier werden die dynamischen Systeme, wie zum Beispiel die selbst-referentiellen „Rückkopplungen“, vergleichbar mit den gekoppelten Pendeln in der Physik, zu einem chaotischen, nicht-linearem System überführt.“
Herr Prof. Dr. Lyre, über den wir uns auch schon unterhalten hatten, forscht übrigens in einem ähnlichen Bereich allerdings unter einem strukturenrealistischen Gesichtspunkt: http://www.mind-and-brain.de/rtg-2386/research-positions/3-structural-models-of-phenomenality/
Inwiefern hier Fraktale oder der SOC eine Rolle spielen, kann ich natürlich nicht sagen. Aber das könnte ich ihn ja vielleicht in einem nächsten Zoomposium-Interview einmal fragen ;-).
Liebe Grüße
Dirk
Hallo,
eine kurze Ergänzung und Rückantwort von mir. Ich habe bezüglich der fraktalen Natur der Anatomie/Struktur des Gehirns tatsächlich einen Artikel verlinkt der sich u.a. auf das Herz bezieht. Zahlreiche Organe des menschlichen Körpers, also zusätzlich zu dem Gehirn, weisen eine fraktale Oberflächenstruktur auf. In dem Chaos der von mir kürzlich gelesenen Artikel habe ich den falschen Link ausgewählt.
Der interessierte Leser findet allerdings zahlreiche Artikel zu diesem Thema. Einer (von vielen) empfehlenswerten Autoren ist der vor ca. 10 Jahren verstorbene Gerhard Werner.
Das Konzept der SOC (und phase transitions) wird von Gerhard Werner ebenfalls diskutiert, auch im Bezug auf das Bewusstsein.
Philipp
Lieber M. W.
vielen Dank für Ihren bemerkenswerten Kommentar, den ich ich erst jetzt gesehen habe, sonst hätte ich bestimmt schon früher geantwortet.
Stimmt Herr Prof. Singer, aber auch Herr Prof. Roth haben sich in unseren Zoomposium-Interviews viel bescheidener zu den ehrgeizigen Zielen des „Manifest der Hirnforschung“ von 2004 geäußert und die technischen Möglichkeiten zur Aufklärung der Konstitution von Bewusstsein ein wenig relativiert. Nichtsdestotrotz befinden sich die kognitiven Neurowissenschaften immer noch seit über 30 Jahren auf der Suche nach dem „heiligen Gral“ der Hirnforschung, den Nachweis eines „neuonalen Korrelates des Bewusstseins“ im Gehirn.
Ich würde allerdings nicht so weit wie Sie gehen und von einem „Hyperraum des Geistes“ sprechen wollen, auch wenn der Panpsychismus momentan sehr in Mode ist, sondern lieber von einem Prozess der strukturalen Kopplung. Aber wo ich Ihnen abslout Recht gebe, ist das Konzept des „extended mind“, der „Verkörperung“ oder des Enaktivismus von Bewusstsein. Unser nächstes Zoomposium-Interview im Oktober werden wir übrigens mit Prof. Dr. Thomas Fuchs als ausgewiesenen Fachmann zu diesem Thema führen.
Vielen Dank für Ihr Interesse und
viele Grüße