Genusstraining – Höher, weiter, schneller – oder wie genießt man wirklich? –
Sie würden sich jetzt wahrscheinlich schon gefragt haben, was hat denn Genuss oder Genusstraining mit Philosophie zu tun. Meines Erachtens, sehr viel. Aber zunächst einmal müsste der Begriff „Genuss“ und „Genusstraining“ genauer definiert werden, da hier leider sehr viele Missverständnisse und falsche Vorstellungen vorhanden sind.
Der Genuss wird in unserem abendländisch-religiös-geprägten Kulturkreis gerne einmal mit Völlerei, Wolllust, zügellosen Konsum oder dekadentem Hedonismus gleichgesetzt. Nicht ganz unschuldig an dieser Fehlinterpretation sind vielleicht Menschen, wie der bekannte römische Feinschmecker Marcus Gavius Apicius (geb. um 25 v. Chr.; gest. um 42 n. Chr.). Der Autor des ältesten erhaltenen römischen Kochbuchs „De re coquinaria“ ist auch für seine ausgefallenen Gerichte wie Sauzitzen und mit Schweinswurst gefüllte Siebenschläfer zum Kitzeln des überreizten Gaumens bekannt.
Der religiöse Kirchenvater Augustinus (geb. 13. November 354; gest. 28. August 430) prangerte wahrscheinlich nicht ohne Grund diese Auswüchse und den „Sündensklaven Mensch“ in seiner „Erbsündenlehre“ an, die ihn vor den „Ausschweifungen des Leibes und des Geistes schützt“ – oder besser gesagt – schützen sollte.
Denn dieses Werk hat uns leider auch nicht davor bewahrt, dass der falsch-verstandene Hedonismus bis heute sein dekadentes Hochfest feiert. Selbst der Genuss scheint dem Hochleistungsdiktat unserer auf Selbstoptmierung orientierten Gesellschaft unterworfen zu sein. Alles muss „kicken“ und uns „flashen“. Und selbst der Besuch des 3-Sterne-Restaurants mit korrespondierenden Weinen stellt einen Versuch dar, den Genuss (oder den sozialen Status) zu „toppen“.
Ist weniger mehr oder was ist Genusstraining?
All dies ist nicht mit „wahrem Genuss“ gemeint. Vielmehr geht es darum einen alten, verkannten griechischen Philosophen wieder auf die Büste zu helfen. Die Rede ist von Epikur (geb. um 341 v. Chr. auf Samos; gest. 271 oder 270 v. Chr. in Athen).
Der „olle Grieche“ ist nämlich in unserer heutigen Zeit aktueller, denn je. In seiner von ihm begründeten philosophischen Lehre – den Epikureismus – , geht es zwar auch um die Steigerung der Lust „Eudaimonie„, aber hier ausschließlich um das Finden des Lebensglückes/der Lebensfreude und weniger um das sich-selbst-erschöpfende-orgiastische Abfeiern des Lebens. Also nicht die hemmungslosen Prasserei im Luxus stand im Vordergrund des Genusses, sondern im Gegenteil das Widerbesinnen auf die ursprünglichen Dinge und Werte im Leben.
Es ging um die Abwesenheit von Schmerz und Leid in Form der „Ataraxie„, einer von Begierde, Lüsten, Trauer und Furcht befreiten Seelenruhe, die so zur innerlichen Autarkie gelangen kann. Deshalb zog Epikur auch mit seinen Anhängern aus der Stadt wieder auf das Land, um die wahren Genüsse in friedlicher Abgeschiedenheit genießen zu können. So wird selbst der Geschmack eines frisch-gebackenen Brotes ein ganz neues sinnliches Erlebnis, das auch nicht zu „toppen“ ist. Quellfrisches Wasser bekommt elysischen Geschmack nach Ambrosia. Nicht das Höher-Weiter-Schneller des Genusses, sondern die Entschleunigung steht im Vordergrund. Vielleicht aus diesem Grunde stand auch über der Pforte zu Epikurs Garten:
„Tritt ein, Fremder! Ein freundlicher Gastgeber wartet dir auf mit Brot und mit Wasser im Überfluss, denn hier werden deine Begierden nicht gereizt, sondern gestillt.“ (Senecas Briefe an Lucilius, Nummer 21)
Wie, kein Genuss ohne Achtsamkeit?
Und hier schließt sich der Kreis zu der anfänglichen Frage, was Genuss/Genusstraining mit Philosophie zu tun hat. Ich habe das Gefühl, dass wir in unserer heutigen Zeit scheinbar verlernt haben wahrhaftig zu genießen. Dieser Verlust an Genussfähigkeit korreliert aus meiner Sicht häufig mit einer Sinnkrise oder Lustlosigkeit in anderen Bereichen. Auch ein Gefühl der Überforderung und mangelnden Achtsamkeit macht sich häufig breit.
Aus diesem Grunde macht auch ein Genusstraining als Bestandteil eines Achtsamkeittrainings Sinn. Hierbei kann man durch kleine Übungen und auch „Hausaufgaben“ sich selbst zu erfahren und auch die kleinen Glücksmomente des Alltags (wieder) zu genießen. Wie wäre es mit einer Verabredung zum Genießen mit sich selbst? Vielleicht mit der Lieblingsmusik, dem Lieblingsessen, der Lieblingsbeschäftigung?
Genuss muss nicht raffiniert und manieriert sein. Der Genuss liegt in dem achtsamen Moment des Hier und Jetzt, dem kleinen Blinzler des Glücks. Dies kann man trainieren und auch längerfristigen Nutzen hieraus ziehen – ganz ohne Reue.
Und wie das Ganze in unsere vom wissenschaftlichen Diskurs auf Selbstoptimierung und Effizienz getrimmte Lebenswirklichkeit passt, möchte ich in einem weiteren Essay „Der Gott der Wissenschaften“ untersuchen.
Einen ähnlichen Ansatz verfolge ich auf meinem Kanal http://www.youtube.de/dergenussphilosoph
Ich würde nicht anmerken wollen, dass diese negative Haltung gegenüber dem freigeistigeren Genuss etwas sehr Deutsches ist. In Frankreich oder Italien gehörte der gute Wein lange dazu und es gibt eine durchaus weitere Akzeptanz dessen.
Der erste Schritt zur epikurschen Ataraxie kann genau hier gemacht werden. Die Angst vor den großen Weinen und uralten Whiskys ablegen und sich selbst zuzutrauen zu schmecken.
Ich finde es nicht so leicht, in dieser Welt die „Seelenruhe“ zu finden. Es stellt sich die Frage, was Ataraxie ist: „Mit Ataraxie (altgriechisch ἀταραξία ataraxía = deutsch -> „Unerschütterlichkeit“, auch Ataraxis [ἀτάραξις], von ἀτάρακτος atáraktos = deutsch -> „unerschütterlich“) ist das Ideal der Seelenruhe gemeint. In diesem Idealzustand hat man Gelassenheit gegenüber Schicksalsschlägen und ähnlichen Außenwirkungen gelernt.“
In diesem Zusammenhang tauchen auch die Begriffe Galene und Katharsis auf: „Mit dem Begriff Galene ist eine von Unruhe befreite, in sich erfüllte Seele gemeint. In der Klassik ist eine solche Seele überdies von Affekten und Verwirrungen befreit. Gemäß Platon handelt es sich dabei um den Zustand, in dem die Seele in das Göttliche zu schauen vermag. Dabei ist die Galene die Wirkung der Katharsis. Die Katharsis (altgriechisch κάθαρσις kátharsis = deutsch -> „Reinigung“) definiert sich aus der Tragödie >>. Das Durchleben von Jammer >> / Rührung und Schrecken >> / Schauder führt demnach zur Reinigung der Seele. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Läuterung der Seele.“ In der Theorie klingen diese Dinge alle super toll, in der Praxis konnte ich (bisher) dieses „Ruhen der Seele“ nicht erreichen ->
https://www.mythologie-antike.com/t1245-nereide-galene-mythologie-von-unruhe-befreite-seele-windstille
Chère Madame M.,
Je vous remercie pour votre aimable commentaire. Je vois cela autant que vous. L’augmentation constante du plaisir ne conduit qu’à l’épuisement pléonastique et donc au déplaisir. Ou comme le dit Emmanuel Kant dans l’interconnexion de la douleur et du plaisir comme réponse à l’hédonisme épicurien:
„La «conscience de quitter l’état présent», et non «la perspective d’entrer dans un état futur», éveille en nous le «sentiment de plaisir», qui est «la levée d’une douleur et de quelque chose de négatif». „Le plaisir est le sentiment d’être transporté, la douleur celle d’un obstacle à la vie“. La vie est un „jeu continu de l’antagonisme des deux“. „La douleur doit donc précéder chaque plaisir; la douleur est toujours la première.“ „Le plaisir ne peut pas non plus suivre immédiatement l’autre; au contraire, la douleur doit apparaître entre l’un et l’autre.“ «La douleur est la piqûre de l’activité, et c’est en cela que nous ressentons d’abord notre vie; sans elle, le sans vie se produirait», ibid. (Emmanuel Kant: „Sentiment – philosophie du sentiment IV 154 s.)
Avec la salutations des philosophies
Dear L. B.,
nice to hear from you and thank you for your nice comment.
Yes, I see it just like you do. The real joys are in the small, simple things, you just have to notice them and appreciate them. A skill that we have unfortunately forgotten over a long time, but which is becoming increasingly important for our planet and for us in view of the current crisis. Less is more!
That is why Epicurus Phronesis is perhaps more topical than ever. Above the gate to his garden in Athens was the following slogan: „Come in, a stranger! A friendly host awaits you with bread and water in abundance, because here your desires are not stimulated but satisfied.“ What more can I say?
regards
philosophies.de
PS: Have fun in the country 😉
Dear Mr. Α. Ζ.,
thank you very much for your insightful comment, which I can only agree with.
This is exactly what is meant by „enjoyment training“. It is not about the misunderstood hedonism, which is commonly meant as selfish, excessive and extravagant tickling of the senses. This is an inflationary pleasure, as it never fills you up with the „Tantalos torments“. The longer-term enjoyment lies more in modesty, restraint and reduction to the essentials. The church father Augustine mentioned in the text summed it up to the formula: „modestiam et temperantiam“ (moderation and temperance) But as you have correctly argued: who determines „moderation“, what is the „measure of all things“.
The tendency – to which you pointed out – is actually there to „overdo the correct measure of pleasure“, but in my view the problem does not arise at all if one is initially limited to the essentials and is also satisfied with the simplicity.
And right, „happy human moments“ are definitely not sins. What can be reprehensible about happiness, especially when it thinks not only of itself but also of others.
Thank you for your interest and I wish you a happy, satisfied life in the future
best regards
philosophies.de
Dear Mr. K. K. P.,
thank you for your kind comment and your reference, which I can only agree with.
I’ve already noticed that good food in Italy has an almost religious dimension. It is probably for this reason that the „Slow Food“ movement, which deals with the socio-cultural aspects of food, was founded in Italy and not in any other country.
Admittedly, I am always very jealous of the Italian food culture, because here in Germany I always have the feeling that eating is all about filling yourself up.
In this sense „viva la dolce vita“ 😉 and best regards
philosophies.de
Lieber Herr R. S.,
vielen Dank für Ihren Kommentar, den ich aufmerksam gelesen habe und anschließen kann.
Ja, das kommt der Sache schon recht nah. So ähnlich könnte ich mir das auch vorstellen. Eigentlich war das „Genusstraining“ mehr als „Achtsamkeitstraining“ geplant, aber die von Ihnen genannten sozialen und spirituellen Aspekte kann man nach der Devise „alles kann, nichts muss“ auch mit einfließen lassen .
Ein genussreiches Leben und
viele Grüße
philosophies.de 🙋
Lieber Herr R. S.,
vielen Dank für Ihren weiteren Kommentar, dem ich mich auch nur wieder anschließen kann.
Ich habe mittlerweile auch leider den Eindruck bekommen, dass die „Frage der Ernährung“ das neue Statussymbol oder die neue Religion geworden ist. Das Essen muss „flashen“ oder einen „Eventcharakter“ haben.
Es würde mich also nicht wundern, wenn das „hashtag-Dinieren“ mit „nice pics“ auf dem Mount Everest das neue, angesagte „must-do“ einer auf „self-optimizing“ und „self-presentation“ getrimten „Instagram-Gemeinde“ ist.
Wobei scheinbar ein regelrechter „Glaubenskrieg“ zwischen den „Glaubensgemeinschaften“ der „Ovo-Vegetarier“, „Lacto-Vegetarier“, „Ovo-Lacto-Vegetarier“, „Ovo-Lacto-Pisce-Vegetarier“ und „Veganern“ ausgebrochen scheint.
Aus meiner Sicht wird die in der Postmoderne sinnentleerte Symbolik des säkularisierten Glaubens durch eine neue „sinnstiftende“ Liturgie der Nahrungsauswahl, -zubereitung und -einnahme ersetzt.
Guten Appetit, und herzlich willkommen in der „schönen, neuen Welt“. Hierzu habe ich ebenfalls schon einen Artikel „Das Technopol“ (https://philosophies.de/index.php/2020/11/01/das-technopol/) verfasst, auf den ich Sie bei Interesse gerne einmal verweisen möchte.
Wie gesagt, manchmal glaube ich, dass wir uns einfach zuviel „Kopf“ um unsere „Nahrungsaufnahme“ machen.
Da fand ich Ihre vorherige Beschreibung:
„- Riechen, Schmecken, Sinne, Fühlen, Sehen, Hören
– Butterbrot: Brot, Butter, Salz, Kräuter, Heilpflanzen (Schwarzbrot, Weißbrot, Graubrot)
– Vorbereitungen: Suchen, Ernten, Fasten, Zelebrieren, Gemeinschaft, Einladen, Organisieren, Einteilen, Vorräte
– Feste im Jahreslauf, Jahreszeiten,
– Dankbarkeit, Segen, Lebensfreude, Spenden, Opfern, Kraft schöpfen“
viel authentischer und lebensnaher. Das hat mich an das frühere, „bessere“ Leben auf dem „Lande“ erinnert und so alt bin ich noch gar nicht 😉.
Früher war bestimmt nicht alles, aber manches besser 😉.
Vielen Dank für Ihr Aufmerksamkeit und
viele Grüße
philosophies.de 🙋
Lieber M. S.,
vielen Dank für Ihren bemerkenswerten Kommentar, den ich mit großem Interesse und Freude gelesen habe und auf den ich hier kurz antworten möchte, wenn es erlaubt ist.
Ich kann Ihren Standpunkt und Ihre Aussagen zu diesem Thema von ganzem Herzen unterstützen. Der epikureische Hedonismus ist meines Erachtens vollkommen missverstanden worden und hätte es verdient mal wieder gerade gerückt zu werden. Dazu sollte mein kleiner Essay „Glückseligkeit“ beitragen, wenn ich hier einmal kurz daraus zitieren darf:
„Epikur wird gerne mit einem besonders lustvollen und ausschweifenden Leben in Form des Hedonismus in Verbindung gebracht. Das dies nicht richtig ist, habe ich bereits in meinem Blog Genusstraining versucht darzulegen. Das Gegenteil ist der Fall. Es ging Epikur um Selbstgenügsamkeit durch die einfachen Genüsse und Freuden. Der ausgeglichene Gemütszustand („Ataraxie“), frei von Sorgen, Ängsten und Nöten war ihm und seinen Schülern das höchste Gut.“
Das bedeutet nicht die „körperliche Lustorientierung“ steht im Zentrum Epikurs Lehre, sondern im Gegenteil, „weniger ist mehr“, wenn ich hier aus meinem Essay „Genusstraining“ zitieren darf:
„Es ging um die Abwesenheit von Schmerz und Leid in Form der „Ataraxie„, einer von Begierde, Lüsten, Trauer und Furcht befreiten Seelenruhe, die so zur innerlichen Autarkie gelangen kann. Deshalb zog Epikur auch mit seinen Anhängern aus der Stadt wieder auf das Land, um die wahren Genüsse in friedlicher Abgeschiedenheit genießen zu können.
So wird selbst der Geschmack eines frisch-gebackenen Brotes ein ganz neues sinnliches Erlebnis, das auch nicht zu „toppen“ ist. Quellfrisches Wasser bekommt elysischen Geschmack nach Ambrosia. Nicht das Höher-Weiter-Schneller des Genusses, sondern die Entschleunigung steht im Vordergrund. Vielleicht aus diesem Grunde stand auch über der Pforte zu Epikurs Garten:
„Tritt ein, Fremder! Ein freundlicher Gastgeber wartet dir auf mit Brot und mit Wasser im Überfluss, denn hier werden deine Begierden nicht gereizt, sondern gestillt.“ (Senecas Briefe an Lucilius, Nummer 21)“
Das wär doch mal was. Ich würde sofort mitmachen, wenn Epikur seinen „Garten“ mal wieder aufmachen würde ;-).
Vielen Dank für Ihr Interesse und
viele Grüße
Philo Sophies