jenseits von Raum und Zeit

Gastbeitrag von Peter Addor: „Gibt es überhaupt etwas jenseits von Raum und Zeit?“

Gastbeitrag von Peter Addor: „Gibt es überhaupt etwas jenseits von Raum und Zeit?“

Der hier veröffentlichte Gastbeitrag stammt aus der Tastatur des Schweizer Mathematiker, Blogger und Autor Peter Addor, der lange Jahre als Dozent und Lehrbeauftragter für Mathematik, Operations Research, Wirtschaftsmathematik, Statistik, Entscheidungsunterstützung, Logistik, Supply Chain Management an schweizerischen Fachhochschulen tätig war. Er war zudem Gründer und CEO der ANCHOR Management Consulting AG. Derzeit lebt er vorwiegend in Sri Lanka und Italien. Er beschäftigt sich zudem mit Fotografie, digitaler Bildbearbeitung, digitaler Kunst, mathematischer Kategorientheorie, dynamischen Systemen und systemischer Selbstorganistaion und betreibt einen Schweizer Blog „Reisen durch ferne Länder und wissenschaftliche Gedanken“.

Bei seinen „Reisen durch ferne Länder und wissenschaftliche Gedanken“ ist er scheinbar auf das „terra incognita meines Blogs und hier insbesondere auf die „Quellen des Ursprungs der Logik“ gestoßen, die ich in meinem Essay „Die Metamathematik – ist doch metalogisch?!?“ zu ergründen versucht habe. Hierdurch inspiriert hat Peter einen eigenen Essay verfasst, in dem er auf einige Punkte auch durchaus kritisch eingeht, wofür ich ihm sehr dankbar bin und den ich hier gerne einer breiteren Leserschaft zur Verfügung stellen möchte, da ich ihn für sehr lesenswert und diskutabel halte. Über eine rege Resonanz in Form von „Postkarten oder andere Posts“ würden sich Peter und ich sehr freuen. Aber zunächst ist der Mathematiker Peter jetzt mit seinem „Reisebereicht durch ferne Länder und wissenschaftliche Gedanken“ an der Reihe, der sich mit den momentan bekannten Grenzen der Mathematik und Logikjenseits von Raum und Zeit“ beschäftigt:

Gibt es überhaupt etwas jenseits von Raum und Zeit?

Philosophen denken seit jeher darüber nach, «was die Welt im Innersten zusammenhält». Woher weiss man beispielsweise, was „drei“, „gelb“ oder „grossartig“ bedeutet? Sind es Begriffe der Vernunft oder sind sie schon bei unserer Geburt in uns drin?

Wissen – Glauben – Überlieferung

Solche Überlegungen mögen in einer Zeit, in der gerne auf Wissenschaft referenziert wird, nützlich sein. Dabei gibt es Menschen, die glauben, Wissenschaft habe mit (ultimativem) Wissen zu tun und das sei das Gegenteil von Glauben. Dabei ist ja doch Glauben ein Überbegriff von Wissen, denn was man weiss, glaubt man auch, aber nicht alles, was man glaubt, ist belegt. Dann gibt es Menschen, die glauben, dass Wissen etwas mit „Wahrheit“ zu tun hat, und dass alles, was die Wissenschaft behauptet, auch „wahr“ sei.

Es ist also sinnvoll darüber nachzudenken, «was die Welt im Innersten zusammenhält», wenn wir uns nur stets bewusst sind, dass Denken eine Funktion unseres Gehirns ist. Es ist fehleranfällig und beschränkt. Die Beschränktheit zeigt sich auch darin, dass die orthodoxen Überzeugungen auf einer Betrachtungsweise beruhen, die vor 2500 bis 3000 Jahren vor allem durch griechische Philosophen begründet wurde. Damals waren philosophische Theorien noch nicht so abstrakt und alltagsfern wie heute. Die griechischen Philosophen legten das Fundament für die westlichen Gesellschaften und das Zusammenleben innerhalb deren. Dabei etablierten sich Ansichten, die mittlerweile tabu sind, aber längst nicht mehr auf unsere heutige komplexe Welt angewendet werden können. Dabei denke ich z.B. an den Platonschen „Ideenhimmel“ und an die klassische aristotelische Logik.

Der Blog philosophies – Freunde der Philosophien ist eine wahre Fundgrube philosophischer Themen und wird von Dirk Boucsein betrieben, der von sich sagt, dass er

immer mit (s)einer ‚Diogenes-Lampe‘ unterwegs [sei], um Menschen zu finden, die sich auch nach ein wenig ‚Licht der Erkenntnis‘ sehnen.

In seinem hoch interessanten, wenn auch nicht leicht lesbaren Beitrag Die Metamathematik – ist doch metalogisch?!? – eine Vertonung der Ontologie der Mathematik oder Metalogik – versucht Boucsein das mathematische Fundament zu ergründen.

Der Ideenhimmel

Warum das? Warum leuchtet einer mit dem Licht der Erkenntnis auf mathematische Dinge? Weil mathematische Dinge abstrakt und allgemein sind, also typische Universalien. „Zahl“ oder „Relation“, aber auch „Gerechtigkeit“ oder „Menschheit“ sind Universalien und die Frage, ob solchen Allgemeinheiten eine Existenz zukommt oder sie bloss menschliche Denkkonstrukte sind, ist eines der zentralen Themen der Philosophie.

Während es bei der Diskussion um „Gerechtigkeit“ vermutlich zuerst um die Definition geht, ist diese bei mathematischen Dingen unmissverständlich gegeben. Wer sich also um das Universalienproblem bemüht, tut gut daran, dieses anhand mathematischer Begriffe zu studieren.

Das Thema wird allerdings seit 2500 Jahre diskutiert und schon nur die Tatsache, dass man in dieser Zeit keine abschliessenden Resultate gefunden hat, lässt vermuten, dass es sich um Ansichtssache handelt. Einer der ersten, die sich darüber den Kopf zerbrochen haben, ist niemand geringeres, als der grosse Platon. Seine Ideenlehre handelt nicht in erster Linie von „zündenden Ideen“, wie man etwas erreichen könnte, sondern von begrifflichen Ideen, wie „der Mensch an sich“ (Menschheit) oder „das Gerechte an sich“ (Gerechtigkeit). Platons Ideenlehre ist ein kompliziertes Labyrinth und kann nicht mit paar Worten dargelegt werden, aber worauf sie hinaus will ist, dass die Universalien selbst zwar keine Sinnesobjekte sind, diesen aber Sein und Wesen verleihen. Wikipedia schreibt treffend:

Jedes Sinnesobjekt verdankt sein Dasein und seine artspezifische Natur dem objektiven Sein und der Eigenart der ihm zugrunde liegenden Idee. Beispielsweise existieren Pferde mit ihren arttypischen Merkmalen, weil es die Idee des Pferdes gibt. Für die Idee des Pferdes hingegen spielt es keine Rolle, ob es auf der Erde Pferde gibt oder nicht.

So beschreibt es Wikipedia. Für mich steht ausser Frage, dass sich die Idee des Pferdes gar nicht erst hätte etablieren können, wenn es keine Pferde gäbe. Erst durch die Beobachtung von Pferden sind die Menschen auf die Idee des Pferdes gekommen. Aber solcherlei Räsonieren erinnert mich an die Scholastik. Ich bin nicht überzeugt, dass die scholastische Methode heute noch verfolgt werden sollte.

Platon aus der Sicht einer KI
So sieht eine AI Platon, wie er sich seine Ideen jenseits von Raum und Zeit vorstellt

Ob deswegen die Ideen „Pferd“ oder „Zahl“ jenseits von Raum und Zeit existieren, wie es Platon glaubte, wage ich zu bezweifeln, zumal „Raum“ und „Zeit“ ebensolche abstrakte Allgemeinplätze sind. Ich frage lieber so: „Muss eine weit entfernte extraterrestrische Zivilisation notwendigerweise auf dieselben Ideen kommen, wie wir“? Bei den natürlichen Zahlen kann ich es mir sehr gut vorstellen. Sogar bei Raben hat man nachgewiesen, dass sie eine Idee (kleiner) natürlicher Zahlen haben. Ob jedoch eine fremde Zivilisation notwendigerweise auf dieselben Ideen von Raum oder Gerechtigkeit kommt, ist doch eher unwahrscheinlich. Also würde ich diesen Begriffen eine transzendente Existenz absprechen und sie zum Typ menschlicher Fiktion machen, die seit Jahrtausenden narrativ perpetuiert und dabei immer wieder verzerrt werden.

Eine Ideenpumpe

Boucsein stellt zunächst dem

ambitionierten Mathematiker die Frage, wo denn ’seines Pudels Kern‘ ist oder besser gesagt, wo denn die ontologische Basis der Mathematik liegen möge.

Und weiter stellt er fest, dass „es … fast immer zur Antwort [kommt]: in der Logik!“ Ich weiss nicht wie viele und welche Mathematiker er gefragt hat, aber – wie einst einer meiner verehrten Mathematikerkollegen bemerkte: „kein heutiger Mathematiker ist wirklich an den Grundlagen seiner Disziplin interessiert! Er benutzt einfach etwas naive Mengenlehre und denkt gar nicht gross darüber nach, wie sich diese sorgfältig axiomatisieren lässt“.

Um 1900 erhofften sich noch einige Mathematiker, dass alle ihre Konzepte und Begriffe (ich vermeide die Bezeichnung Objekte, da sie schon anderweitig besetzt ist), die angeblich ausserhalb des menschlichen Daseins existieren, durch einen logischen Kalkül und Formalismus entdeckt werden können (keine Ahnung, woher sie das wussten). Man stellte ein Axiomensystem auf, aus dem alle mathematischen Sätze herleitbar sein müssen. Ich stelle mir vor, dass dieses Axiomensystem dann so ähnlich wie eine Ideenpumpe funktionieren sollte, die die Platonschen Ideen aus der Transzendenz absaugt und dem menschliche Denken zur Verfügung stellt.

Hier zeigt es sich bereits, wie menschengebunden die Mathematik ist. Es sind die (willkürlich definierten) Axiome, die bestimmen, was für mathematische Sätze und Konzepte entdeckt werden können. Die Axiome, wie das Gesetzt des ausgeschlossenen Dritten oder das Auswahlaxiom haben sich die damaligen Mathematiker aus den Fingern gesogen, bzw. in respektvoller Anlehnung an Aristoteles übernommen.

Das Auswahlaxiom

Das Auswahlaxiom nimmt an, dass in einer Familie von Mengen jeder dieser Menge eines ihrer Elemente zugeordnet werden kann. Betrachten Sie zum Beispiel die Mengen

A={1,2}

B={a,b}

C={*,&}

D={schwarz, weiss}

Das sind vier Mengen, die jeweils nur zwei Elemente enthalten. Natürlich kann ich jetzt jeder Menge eines ihrer Elemente zuordnen, indem ich eine Tabelle mache:

Menge ausgewähltes Element
A 1
B b
C *
D weiss
Ein Element aus jeder Menge

Das geht auch locker, wenn ich unendlich viele Mengen habe, z.B. alle Teilmengen der natürlichen Zahlen, wie

A={1,2}

B={6,8,9}

C={100,200,300,400}

D={2,4,6,8,…}

Jede dieser Menge enthält ein kleinstes Element, hier z.B. die 1 in A, die 6 in B, die 100 in C und die 2 in D. Somit kann ich einfach jeder Teilmenge der natürlichen Zahlen ihr kleinstes Element zuordnen, et voila! Da klappt es dank der Tatsache, dass die natürlichen Zahlen von kleiner zu grösser geordnet sind. Wenn ich aber unendlich viele beliebige, d.h. unstrukturierte Mengen habe, dann gibt es keine Möglichkeit mehr, aus jeder dieser Menge eines ihrer Elemente auszuwählen und zu benennen, weil ich mit einer Tabelle nie fertig werden würde.

Die Behauptung, dass es auch in diesem Fall eine – zuweilen unbekannte – Zuordnung gibt, ist derart ungeheuerlich, dass sie bei vielen Mathematikern auf Skepsis stiess. Sie sagten, dass die Zuordnung in diesem Fall nicht konstruierbar ist und verlangten, dass in der Mathematik nur konstruierbare Dinge betrachtet werden sollen. Damals stiess eine solche Forderung auf viel Widerstand, weil mit Hilfe des Auswahlaxioms bereits zu viele (schöne?) mathematische Sätze aus dem Platonschen Ideenhimmel herunter gesogen wurden, als dass man darauf verzichten wollte. Ich stritt mich einmal mit einem Mathematikerkollegen, ob das Bequemlichkeit oder Machtgehabe war. Vielleicht war es Bequemlichkeit, die man mit der Macht, die man hatte, durchsetzte. Schliesslich war es damals noch die Mehrheit, die an das Auswahlaxiom glaubte. Mit dem Aufkommen von Computern und Algorithmen hat sich der Spiess gedreht. Aber das hängt natürlich niemand an die grosse Glocke. Es gibt immer noch Mathematiker, die sich im Dung des Auswahlaxioms suhlen und sich dort sauwohl fühlen.

Auswahlaxiom - KI generiert
Dieses Bild soll symbolisch das Auswahlaxiom illustrieren. Ich bat ChatGPT, mir einen Prompt zu generieren, um Midjourney zu diesem Bild zu veranlassen. Dies ist der Prompt: „Create an abstract, symbolic image representing the Axiom of Choice in set theory. The artwork should feature elements that suggest selection and choice, such as hands or arrows picking items from various sets. Incorporate mathematical symbols like curly brackets and ellipses to represent sets and subsets. The image should convey the concept of making selections from each set in an intuitive and visually appealing way, emphasizing clarity and structure.“

Das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten

Neben den Konstruktivisten gibt es auch die Intuitionisten. Boucsein schreibt, dass der Intuitionismus „die Logik als vormals unumstrittene Basis mathematischer Deduktionen enttrohnt“. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Für Intuitionalisten ist wahr, was bewiesen werden kann. Aber für einen Beweisschluss benötig man die Implikation „Wenn das, dann jenes“, also z.B. „Wenn es regnet, dann wird der Boden nass“ oder „Wenn a und b natürliche Zahlen sind, dann ist auch a+b eine natürliche Zahl“. Geschrieben wird die Implikation „Wenn a, dann b“ in der Form a⇒b. Die Implikation gibt es nicht in jeder Logik. Es waren die Intuitionalisten (Arend Heyting), die genau definierten, was unter a⇒b zu verstehen ist. Das ist eine zweistellige Operation, ähnlich wie «a oder b», die zwei Aussagen eine dritte Aussage zuordnet. In der klassischen Logik erklärte man die Implikation, indem man ihre Gültigkeit aus den Wahrheitswerten der beiden beteiligten Aussagen a und b festmachte. In der intuitionistischen Logik gibt es keine Wahrheitswerte mehr. Heyting musste sich also eine andere Definition von a⇒b überlegen.

Aus a⇒b folgt immer ¬b⇒¬a. Das ist die Kontraposition und liest sich als „wenn nicht b, dann auch nicht a“, also z.B. „wenn der Boden nicht nass ist, dann regnet es auch nicht“. Für Aristoteles waren a⇒b und ¬b⇒¬a äquivalent, aber für die Intuitionisten kann aus ¬b⇒¬a nicht auf einfach a⇒b geschlossen werden. Zwar kann aus ¬b⇒¬a auf ¬¬a⇒¬¬b geschlossen werden, aber „nicht nicht a“ ist eben nicht zwingend dasselbe wie a!

Das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten (oder auf Lateinisch: Tertium non Datur) behauptet, dass das Ganze stets in zwei Teile aufgeteilt werden kann, die nahtlos wieder zum Ganzen zusammengefügt werden können. Ich habe darüber bereits in meinem Artikel Die Wissenschaft soll’s richten geschrieben.

In der klassischen Logik besteht eine Menge M aus der Vereinigung einer ihrer Teilmenge T und deren Komplement ¬T. Wenn z.B. die Menge M als Elemente die ersten fünf natürlichen Zahlen enthält, M={1,2,3,4,5}, dann ist T={1,2,3} eine Teilmenge. Ihr Komplement ¬T ist alles, was nicht in T ist, also ¬T={4,5}. Und offensichtlich ist M die Vereinigung dieser beiden Teilmengen, also das Resultat des „Zusammenschüttens“ der Elemente von T und derjenigen ihres Komplements. M = T ∪ ¬T (das Tassen-Zeichen sagt: schütte die Elemente beider Menge zusammen). Da gilt also das Gesetzt des ausgeschlossenen Dritten: entweder gehört das Element 3 zu T oder zu ¬T. Das stimmt hier auf alle Fälle.

Es gibt aber andere Situationen, wo das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten nicht gilt. Nehmen wir mal an, das Ganze seien alle Intervalle, die zwischen 0 und 1 liegen, aber keinen Anfangs- und keinen Endpunkt haben, es sei denn das Intervall beginnt bei 0 oder endet bei 1. Hier sind einige Beispiele:

  • Das Intervall von 0.25 bis 0.5 gehört ohne die 0.25 und ohne die 0.5 dazu.
  • Das Intervall von 0 bis 0.25 gehört inklusive die 0 und ohne die 0.25 dazu.
  • Das Intervall von 0.5 bis 1 gehört ohne die 0.5, aber mit der 1 dazu.
  • Und selbstverständlich gehört das Intervall zwischen 0 und 1 inklusive dazu.

Nun nehmen wir das Intervall T von 0 bis 0.5, inklusive der Null, aber exklusive der 0.5. Das Komplement dieses Intervalls ist ¬T=(0.5;1], also alle Zahlen zwischen 0.5 exklusive und 1 inklusive. Die Vereinigung von T und ¬T enthält aber nicht alle Zahlen zwischen 0 und 1, weil die Zahl 0.5 fehlt! Man kann also nicht sagen: entweder ist eine Zahl in T oder in ¬T, denn die 0.5 gehört in keines der beiden Intervalle. Das ist nicht ein dritter Weg. T und ¬T schöpfen einfach noch nicht das Ganze aus; es gibt noch etwas jenseits von T ∪ ¬T.

Es kommt also ganz auf die Struktur des zugrundeliegenden Systems an, ob das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten stimmt oder nicht.

Boucsein zitiert Matthias Neuber:

Dieses Tertium non Datur dem Mathematiker zu nehmen, wäre etwas, wie wenn man dem Astronomen das Fernrohr oder dem Boxer den Gebrauch der Fäuste untersagen wollte.

Das ist sicher nicht richtig, denn der Mathematiker arbeitet mit logischen Strukturen, in denen das Tertium non Datur nicht gilt. Hingegen ist das Tertium non Datur vor allem ausserhalb der Mathematik unumstritten. An seinen Festen zu rütteln ist tabu!

Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten - KI generiert
Das ist ein Symbolbild, welches das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten darstellen soll. Wieder generierte mir ChatGPT einen Prompt für Midjourney. Der Prompt lautet so: „Create an abstract, symbolic image representing the Law of Excluded Middle in logic. The artwork should feature a distinct, clear dichotomy—one side black and the other white, with a sharp line dividing them. Include subtle elements that suggest logic and reasoning, such as geometric shapes or mathematical symbols, but avoid clutter. The image should convey the idea that something must be either true or false, with no middle ground.“

Wie hat Unendlich in Ihrem Kopf Platz?

Das Unendlichkeitsproblem erregte schon immer die Aufmerksamkeit der Philosophen. In der Mathematik hat die Unendlichkeit fast wie selbstverständlich Einzug gehalten. Z.B. gibt es unendlich viele natürliche Zahlen. „Unendlich“ ist auch so eine Platonsche Idee, die angeblich ausserhalb Raum und Zeit und unabhängig des menschlichen Denkens existiert. Die Inuitionalisten sagen, dass die Menge der natürlichen Zahlen potentiell unendlich sei und es das platonsche aktual Unendliche gar nicht gebe. 0 ist eine natürliche Zahl und zu jeder natürlichen Zahl gibt es genau einen unmittelbaren Nachfolger. Um nun die Problematik der Unendlichkeit zu demonstrieren, argumentiert Boucsein, dass es dann auch einen Nachfolger von „Unendlich“ geben muss. Aber „Unendlich“ ist keine natürliche Zahl! Es gibt keinen natürlichen Nachfolger von „Unendlich“. Andererseits gibt es in der Tat eine Unendlichkeit, die grösser als Unendlich ist. Es gibt sogar unendlich viele Unendlichkeiten, die jeweils grösser sind, als die Unendlichkeit davor. Aber das hat dann nichts mehr mit den natürlichen Zahlen zu tun, von denen Boucsein ausgegangen ist. Und dieser unheimlichen Unendlichkeitshierarchie, die ich eben erwähnt habe, misstrauen die Konstruktivisten und Intuitionalisten ohnehin!

In seinem Artikel Warum die Mathematik keine ontologische Grundlegung braucht –
Wittgenstein und die axiomatische Methode
geht Simon Friederich auf die Behauptung Wittgensteins ein, dass mathematische Erkenntnisse und Sätze normativen Charakter haben, ähnlich wie Strassenverkehrsregeln. Haben Sie ein Problem mit der Regel, stets rechts zu fahren? Fragen Sie danach, woher diese Regel stammt und ob sie auch in einer weit entfernten Zivilistaion gilt? Warum ist die Regeln für Sie denn bindend? Klar, weil Sie sonst eine Busse erhalten. Das unterscheidet die Strassenverkehrsregeln von den mathematischen Gesetzen. Aber Sie halten die Rechtsfahrregel vor allem deshalb ein, weil Sie ein vitales Interesse daran haben, dass alle die Regel einhalten und Sie dadurch heil nach hause kommen. Das ist in der Mathematik genauso. Dank der Tatsache, dass sich alle u.a. an den Satz des Pythagoras halten, kann man kreativ neue mathematische Tatsachen ergründen und verargumentieren. Ein neuer mathematischer Lehrsatz, der bewiesen ist, ist einfach so. Er ist normativ und braucht keine „Heimatadresse“.

Ist der Strukturrealismus das Beste aus den beiden Welten?

In einem grossen Teil seines Artikels geht Boucsein auf den Strukturrealismus ein, den er als „very best of both worlds“ bezeichnet. Welchen Welten? Der mathematische Strukturalismus scheint im Moment so ewtas wie der State of the (metamathematical) Art zu sein.

Die Internet Encyclopedia of Philosophy (iep) macht in ihrem Artikel über den Mathematischen Strukturalismus folgendes Beispiel für ein System:

Let us define a system to be collection of objects together with certain relations on those objects.  For example, an extended family is a system of people under certain blood and marital relations—father, aunt, great niece, son-in-law, and so forth.

Offensichtlich ist hier von einer relationalen Datenbank die Rede. Stammbaumdatenbanken sind nicht ganz einfach, aber schauen wir uns das einmal an! Es werden Vater, Tante, Grossnichte (oder Grossneffe) und Schwiegersohn genannt. Die Familie könnte somit so aussehen:

Stammbaum 1

Fritz und Emma sind die Eltern von Hans und Elsa, die unverheiratet blieb. Hans und Frieda sind die Eltern von Ruth und mir. Damit ist Elsa meine Tante. Nicola ist der Sohn von Ruth und somit mein Neffe und der Grossneffe von Elsa. Rahel ist meine Tochter und hat den Sebulon geheiratet, der somit mein Schwiegersohn ist.

Die Grafik ist schön übersichtlich, aber wenig formal. Damit Computer die Daten in einer Datenbank bereitstellen können, müssen wir die Zusammenhänge formalisieren, z.B. in Tabellen.

Pers-ID Name ist KindvonMutter Ist TeilvonPaar
1 Fritz 1
2 Emma 1
3 Hans 2 2
4 Frieda 2
5 Elsa 2
6 Ruth 4
7 Nicola 6
8 Ich 4 3
9 Nina 3
10 Rahel 9 4
11 Sebulon 4
Die Personentabelle

Da der Stammbaum bei Fritz beginnt, sind seine Eltern nicht bekannt oder sie können zwar benannt werden, sind aber nicht Mitglied der Personenliste.

Auch Sebulons Eltern tauchen hier nicht auf.

Paar-ID Paar-Name Pers-ID-1 Pers-ID-2
1 R-S 1 2
2 R-T 3 4
3 R-U 8 9
4 W-R 11 10
Die Paartabelle

Es gibt also 4 Paare. Ich habe angenommen, die Familie heisse väterlicherseits R, anverheiratete Frauen heissen S, T und U. Der Vater von Nicole sei nicht bekannt, also bildet Ruth auch kein Paar. Sebulon habe den Familienname W, so dass das Paar Rahel/Sebulon den Familiennamen W-R trägt.

Hier sieht man eine Schwierigkeit, die sich durch die Konvention ergibt, dass der Familienname derjenige des Mannes ist. Diese Konvention hat sich zwar längst aufgeweicht. Allerdings ist dadurch die Namensgebung uneinheitlich und muss jedesmal festgelegt werden. Das spielt hier aber keine Rolle.

Nicht allen Personen kann ein Paar zugeordnet werden, was auf eine partielle Funktion hinausläuft. Das ist etwas diffizil, kann jedoch mit etwas Aufwand dennoch sauber definiert werden.

Wir können den Sachverhalt, den die Tabellen ausdrücken, auch grafisch darstellen (etwas vereinfacht):

Datenbank Schema Metamathematik 1

Ein solches Schema wird von den Philosophen Struktur genannt. Mathematiker bezeichnen es als (Basis-)Kategorie, die sauber definiert wird und in einen bestimmten axiomatischen Rahmen gestellt ist. Ich habe Kategorien bereits in Was haben Rentner, Fussballspieler und Informatiker gemeinsam? erwähnt.

Während die Struktur allgemein gültig ist, bezeichnen die Philosophen jede Instanz davon, also jede Anwendung des Schemas auf eine bestimmte Familie, als System. In unserem Fall ist jede Sammlung von Personen und Paaren eine Menge. Somit besteht ein (Familien-)System aus einer Menge von Personen und einer Menge von Paaren. Für jeden Stammbaum, also für jede Instanz der Tabellen, sind die beiden Mengen – die Menge der Personen und die Menge der Paare – anders zusammengesetzt. Mathematiker sagen, eine Stammbauminstanz sei ein Funktor von der Basiskategorie in die Kategorie der Mengen.

Datenbankstrukturen sind angewandte Kategorientheorie, wie Brendan Fong und David I. Spivak hier demonstrieren.

Mathematiker fragen sich, woher die philosophischen Begriffe Struktur und System kommen und wo sie „wohnen“, während Philosophen genau dieselben Fragen über Kategorien stellen. Geoffrey Hellman hat 2003 in Does Category Theory Provide A Framework For Mathematical Structuralism? behauptet,

that these theories require a background logic of relations and substantive assumptions addressing mathematical existence of categories themselves.

Zum Glück gab Steve Awoday An Answer to Hellmans Question: Does Category Theory Provide A Framework For Mathematical Structuralism?, nämlich: Yes, of course!

Kategorien sind in der Mathematik streng definiert und axiomatisiert und stellen so etwas wie eine grobe Heimadresse für Begriffe und Strukturen dar. Jedes mathematische Objekt, das etwas von sich hält, ist Objekt einer Kategorie. Wenn Sie also einen Kaubel in der Kategorie der Busmels verorten können, dann ist die Existenz des Kaubels bloss schon dadurch gesichert. (Kaubel und Busmel sind Phantasienamen für irgendetwas).

Zum Schluss des lesenswerten Artikels gibt Boucsein eine Art Ausblick auf verschiedene neuere Strömungen. So erwähnt er auch die Typentheorie, meint aber, diese sei bloss eine Art Neuauflage von Platons Ideen. Ich kann zum Beispiel mit dem Typ der natürlichen Zahlen die Unendlichkeit umschiffen, denn ich brauche nicht alle natürlichen Zahlen zu kennen. Es genügt, wenn ich ihre Eigenschaften genau kenne. Von einer Ersetzung der Platonschen Idee kann nicht die Rede sein. Typen sind etwas ganz Handfestes!

Ich habe nicht begriffen, was der mathematische Strukturalismus zur Frage der Ontologie mathematischer Begriffe beitragen kann oder was er sonst für einen Zweck hat. Er erscheint mir als verklausulierte Kategorientheorie, die „Struktur“ und „System“ perfekt definiert und anwendet. Ich kann auch nicht erkennen, dass der Strukturalismus eine Weiterentwicklung des Dialogs zwischen Platonikern und Intuitionalisten oder zwischen Formalisten und Konstruktivisten ist.

© Einleitung: Dirk Boucsein, Text: Peter Addor

Ich bin immer mit meiner „Diogenes-Lampe“ unterwegs, um Menschen zu finden, die sich auch nach ein wenig „Licht der Erkenntnis“ sehnen. Also wenn Ihr eigene Beiträge oder Posts für meinen Wissenschaft-/Philosophie-Blog habt, immer her damit. Sie werden mit Eurem Namen als Autor auf meiner Seite veröffentlicht, so lange sie den oben genannten Kriterien entsprechen. Denn nur geteiltes Wissen ist vermehrtes Wissen.
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Dirk
Dirk
24 Tage zuvor

Hi Wolfgang,
es wäre sehr schön, wenn Du wenigstens noch ein paar erläuternde Worte dazu schreiben könntest, damit es nicht zu stark nach Werbung aussieht 😉.
Liebe Grüße
Dirk

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
24 Tage zuvor
Reply to  Dirk

Kurz zum Inhalt der verlinkten Seite: Der Artikel diskutiert, ob wir angesichts komplexer Themen wie Leben und KI eine neue Logik benötigen. Ich argumentiere, dass unsere klassische zweiwertige Logik aus unserer Wahrnehmung der vierdimensionalen Realität und Kausalität entsteht. Obwohl unser Gehirn komplex arbeitet, ist unser Denken und Handeln grundsätzlich zweiwertig („entweder-oder“).
Mehrwertige Logiken können zwar operativ genutzt werden, aber unsere kognitive Logik bleibt zweiwertig. Ich behaupte, dass eine wirklich mehrwertige Kognition oder Philosophie nicht möglich sei, da dies zu Chaos und Indeterminismus führen würde. Ich schlussfolgere, dass wir keine neue Logik brauchen und dass alle Logik letztlich auf die klassische zweiwertige Logik reduzierbar ist.

Peter Addor
Peter Addor
24 Tage zuvor

Einverstanden! Wir brauchen keine „neue“ Logik, schon gar keine mehrwertige. Ich weiss nicht, was genau du unter „klassischer zweiwertiger Logik“ genau verstehen willst. Dazu müsstest du mir erklären, ob und wie ~~a -> a herleitbar ist (aus zweifachem Komplement von a folgt a). Wenn das in deiner Logik herleitbar ist, erhältst du „Monster“, deren Herkunft nicht geklärt werden kann und also zu Chaos und Indeterminismus führen.

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
24 Tage zuvor
Reply to  Peter Addor

„…was genau du unter „klassischer zweiwertiger Logik“ genau verstehen willst.“

Such es dir aus:

Boolesche Logik

  • Benannt nach George Boole, dem Begründer der mathematischen Logik.

Binäre Logik

  • Bezieht sich auf die zwei möglichen Werte (binär = zweifach).

Klassische Logik

  • Weil sie die traditionelle Form der formalen Logik darstellt.

Aristotelische Logik

  • In Anlehnung an Aristoteles, der grundlegende Prinzipien dieser Logik formulierte.

Bivalente Logik

  • Von lateinisch „bi“ (zwei) und „valens“ (Wert).

Wahrheitswertlogik

  • Da sie mit den zwei Wahrheitswerten wahr und falsch arbeitet.

Aussagenlogik

  • Obwohl dieser Begriff etwas breiter gefasst ist, wird er oft synonym verwendet, da die klassische Aussagenlogik zweiwertig ist.

Digitale Logik

  • In Bezug auf ihre Anwendung in der digitalen Technik.
Peter Addor
Peter Addor
24 Tage zuvor

Alles klar, aber welchen Kalkül, welche Schlussregeln wendest du an! Wie leitest du ~~a => a her? Die Schlussregeln in einem Kalkül sollten ja doch intuitiv zu rechtfertigen sein, also unserer Kognition entsprechen.
In deinem Artikel sprichst du immer von mehrwertigen Logiken, die abzulehnen sind. Intuitionistische Logik ist *keine* mehrwertige Logik. Jede boolsche Logik ist intuitionistisch (aber nicht umgekehrt).

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
24 Tage zuvor
Reply to  Peter Addor

Ich möchte klarstellen, dass es in meiner ursprünglichen Aussage um den Unterschied zwischen zweiwertiger und mehrwertiger Logik ging. Die Debatte um klassische versus intuitionistische Logik war nicht Gegenstand meiner Betrachtung.
Mein Fokus lag auf der Verwendbarkeit der klassischen zweiwertigen Logik (mit den Werten wahr und falsch) im Gegensatz zu mehrwertigen Logiken, die zusätzliche Wahrheitswerte einführen. Die Unterscheidung zwischen klassischer und intuitionistischer Logik, obwohl zweifellos wichtig, war nicht Teil meiner ursprünglichen Überlegung.
Ich wollte lediglich betonen, dass für viele Anwendungen und Überlegungen die zweiwertige Logik ausreichend ist, ohne die Notwendigkeit, mehrwertige logische Systeme einzuführen und dass aus einem philosophischen Blickwinkel eine mehrwertige Logik keinen Sinn ergibt.

peter addor
peter addor
24 Tage zuvor

Das sehe ich auch so und habe deinen Artikel auch so verstanden. Im übrigen bin ich auch deiner Meinung, dass wir eine Logik brauchen, die „unsere Wahrnehmung der vierdimensionalen Realität und Kausalität“ beschreibt. Aber die grobschlächtige Bauernlogik eines Boole ist dafür zu grob.

Heinz Luediger
Heinz Luediger
21 Tage zuvor

Ich stimme der Zweiwertigkeit menschlicher Logik zu, behaupte aber gleichzeitig das tertium non datur. Kurz: Menschliches Räsonieren läuft auf der Basis der Deselektion spontaner, spekulativer Ideen ab. Dabei bedeutet ‚de-selektiert‘ soviel wie widersprüchlich und somit ‚falsch‘ im Sinn klassischer Logik. Ein ‚selektiert‘, analog zum logischen ‚wahr’, gibt es hingegen nicht. Die Negation von ‚deselektiert‘ ist ‚nicht-deselektiert‘ und bedeutet Absolut widerspruchsfreien Fortschritt über das Gegebene hinaus. Damit steht das Neue in keinem anderen angebbaren Verhältnis zum Hergebrachten als dem Absoluter Widerspruchsfreiheit. Es folgt, daß <nicht-deselektiert> nicht mit <selektiert> identisch ist. Das Absolut widerspruchsfreie Neue kann nicht selektiert werden, weil es mit keinem anderen (positiven) Maßstab als der Absoluten Widerspruchsfreiheit meßbar ist. Das Absolut-Neue kann uns nur als Nicht-Deselektierbares zu-fallen.

Die Asymmetrie zwischen ‚deselektieren‘ und ‚nicht-deselektieren‘ liegt in der (Geistes)Aktivität des deselektierens und der Passivität des nicht-deselektierens. Das heißt, ein Absolut widerspruchsfreies System, welches nur ein orthogonales (kategoriales*) sein kann, ist gegen seine orthogonale (kategoriale) Erweiterung ‚wehrlos‘, weil dabei die Absolute Widerspruchsfreiheit gewahrt bleibt. Diese ‚Wehrlosigkeit’ kann als a priori Pragmatismus verstanden werden, denn die Nützlichkeit und Harm-losigkeit dieser Erweiterung ist momentan offensichtlich und bedarf weder empirischer Überprüfung noch deduktiver Herleitung. Diese Art des Räsonierens ist mit klassischer (positiver) Logik nicht darstellbar. Die Aversion der Moderne gegen das ‚Ganze‘ ergibt sich aus der Unfähigkeit jeder positiven Logik das ‚Ganze‘ zu thematisieren. Aus diesem Grund ist Logik entweder Machtanspruch oder blanke Ironie.

*Kategorie im philosophischen, nicht im mathematischen Sinn

Heinz Luediger
Heinz Luediger
21 Tage zuvor
Reply to  Heinz Luediger

Der erste Satz sollte lauten: …bestreite aber gleichzeitig das tertium non datur.

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
21 Tage zuvor
Reply to  Heinz Luediger

Die Akzeptanz der Zweiwertigkeit der Logik steht für mich im Widerspruch zur Ablehnung des tertium non datur, da diese Prinzipien eng miteinander verbunden sind.
Wenn man die Zweiwertigkeit akzeptiert (jede Aussage ist entweder wahr oder falsch), impliziert dies normalerweise auch das tertium non datur.
Die gleichzeitige Ablehnung des tertium non datur bei Akzeptanz der Zweiwertigkeit erscheint mir logisch inkonsistent.

Es scheint eine Art „Prozesslogik“ zu sein, in der „nicht-deselektiert“ einen Zwischenzustand im Denkprozess darstellt, nicht aber einen dritten Wahrheitswert im strengen logischen Sinne.

Heinz Luediger
Heinz Luediger
21 Tage zuvor

Das Problem scheint mir folgendes zu sein:

Logisch ‚wahr‘ bedeutet immer: ‚wahr‘ entsprechend meiner logischen Voraussetzungen/Definitionen/Axiome, während ‚nicht-deselektiert‘ Absolut-nicht-falsch im Kontext des Ganzen bedeutet. 

Die ‚Deselektion‘ ist schlicht voraussetzungslos. Daher die Asymmetrie zwischen ‚deselektiert’ und ‚nicht-deselektiert’ statt der logischen Symmetrie von ‚wahr’ und ‚falsch’. Wir können die ‚Nicht-Deselektion‘ nicht aktiv betreiben wie etwa einen Beweis in klassischer Logik. Schon Hegel beklagte, daß die klassische Logik von außen ein Denkgerüst an die in der Sprache längst geklärten Dinge heranträgt. In diesem Sinn ist Logik immer Denken in zweiter Instanz, ein Nach-Denken. Ich streite ihr eine Berechtigung in engen Grenzen nicht ab, aber Gödel zwingt die Logik ihre Wahrheiten in sehr, sehr kleinen Töpfen zu kochen.

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
21 Tage zuvor
Reply to  Heinz Luediger
  1. In der klassischen Logik sind Zweiwertigkeit und das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur) eng miteinander verknüpft. Man kann nicht das eine akzeptieren und das andere ablehnen, ohne in Widersprüche zu geraten.
  2. Jeder Denkprozess, auch die „Deselektion“, basiert auf gewissen Vorannahmen oder Kriterien. Eine vollständige Voraussetzungslosigkeit ist in der Praxis kaum vorstellbar.
  3. Warum diese Konzepte asymmetrisch sein sollten, ist mir nicht klar. Vielmehr scheinen sie ebenso binär und symmetrisch wie „wahr“ und „falsch“.
  4. Es scheint eher eine Art alternative Erkenntnistheorie oder Metaphysik zu sein, als ein logisches System im strengen Sinne.
  5. Die Argumentation ist eher vage und metaphorisch, was in der Philosophie zwar nicht unüblich ist, aber für ein logisches oder erkenntnistheoretisches System halte ich es für problematisch.
  6. Es ist unklar, wie man die Konzepte von „Deselektion“ und „Nicht-Deselektion“ in der Praxis anwenden oder überprüfen könnte.
  7. Der Ansatz vermischt Elemente aus Logik, Erkenntnistheorie und Metaphysik, ohne klare Abgrenzungen zu ziehen.
  8. Die Argumentation scheint mir teilweise zirkulär zu sein, indem sie Konzepte verwendet, die sie erst zu begründen versucht.
Heinz Luediger
Heinz Luediger
17 Tage zuvor

Zur Abrundung:
Es geht mir ja gerade darum, einen nicht-logischen Denkansatz zu finden. Daß sich dabei begriffliche Grenzen ändern ist notwendig, wenn man den anmaßenden Begriff der Wahrheit aus dem wissenschaftlichen Denken entfernen will. Ob sich dieser Ansatz formalisieren läßt, weiß ich (noch) nicht. Es geht mir zunächst einmal um seine klare Denkbarkeit. Überprüfbarkeit hingegen ist logisch und daher uninteressant. Ferner halte ich die Metapher (das als-ob) für den legitimen Vorläufer der klassischen Wissenschaft – nicht die Logik.

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
17 Tage zuvor
Reply to  Heinz Luediger

Was soll ein nicht-logischer Denkansatz bedeuten? Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Logik sich aus der Orthogonalität unserer Existenz ergibt, also nichts Transzendentes ist, dann ist Logik quasi unverzichtbar, besser: immer präsent, jedenfalls in Zuständen geistiger Klarheit. Metaphern stehen oft am Anfang jeglicher Erkenntnis. Sie folgen aber derselben Logik, nur eben nicht sprachlich, sondern bildlich. Nicht-Logik kommt in Träumen oder vergleichbaren Zuständen vor.

Heinz Luediger
Heinz Luediger
17 Tage zuvor

Ich glaube es war klar, daß ich mit ‚Logik‘ nicht irgendein systematisches Denksystem meinte, sondern die klassische affirmative Logik. Die wurde etwa 500 v.Chr. als Sophismus aus grammatikalischen Neuerungen im Tempussystem der griechischen Sprache entwickelt und dann überwiegend von Aristoteles als syllogistische Logik ‚mechanisiert‘ (Figuren, Modi). Man könnte sich nun fragen, welches Denksystem die Erfindung der Logik ermöglichte, bzw. ihr vorausging.

Die Schwierigkeit eines Verständnisses z.B. der alt-ägyptischen Kultur, insbesondere ihrer Invarianz über mehr als 3000 Jahre auf hohem Niveau, deutet darauf hin, daß sie mit klassischer Logik nicht zu erschließen ist. Ein Nachdenken darüber rechtfertigt sich allein durch die Tatsache, daß uns die klassische Logik ein nicht durchhaltbares Wirtschafts- und Wissenschaftssystem beschert hat. Sie ist der Träger der „Entwertung aller Werte“.

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
17 Tage zuvor
Reply to  Heinz Luediger

Die Annahme, alte Kulturen hätten fundamental andere Denkweisen gehabt, ist spekulativ und romantisierend.

Auch in komplexen Kulturen wie dem alten Ägypten gab es grundlegende logische Prinzipien (wie der Satz vom Widerspruch), die unseren sehr ähnlich, wenn nicht gleich waren, um Alltagsprobleme zu lösen und technologische Fortschritte zu erzielen.

Heinz Luediger
Heinz Luediger
16 Tage zuvor

Ich könnte nun antworten, daß „Auch in Kulturen wie dem alten Ägypten…“ spekulativ und logifizierend ist, aber es würde nirgendwo hinführen. 

Ich bin nicht der Meinung, daß frühere Kulturen:

einen esotherischen Zugang zur ‚Wahrheit‘ hatten
nicht systematisch gedacht haben
nicht zweiwertig gedacht haben

Aber ich bin aber der Meinung, daß frühere Kulturen vernünftig gedacht haben – vernünftig denken mußten – weil ihr Überleben (im Gegensatz zu heutigen Universitätsprofessoren) davon abhing. Für die alten Ägypter stand der Erhalt des Status Quo meilenweit über dem spekulativen Fortschritt. Sie waren in heutiger Sprechweise extrem ‚rückwärtsgewandt’.

Die Logik spricht den Verstand an, aber nicht die Vernunft, die laut Kant „nie auf die Dinge geht“, sondern sich ausschließlich mit ihren eigenen Prinzipien beschäftigt. Ob es sich dabei wirklich um zwei getrennte Prinzipien handelt oder um ein integrales, ist schwer zu entscheiden. Nur eins ist sicher: an dieser Stelle hört Kognition auf und fängt Philosophie an.

Peter Addor
Peter Addor
21 Tage zuvor

Nein! Die Ablehnung des Tertium non daturs (Tnd) braucht keine dritte Wertigkeit. Es gibt viele Systeme, in denen das Tnd einfach nicht gilt, die aber dennoch einer zweiwertigen Logik folgen. Das Problem liegt in der Behauptung: „jede Aussage ist entweder wahr oder falsch“. Womit wir wieder bei der Ideenlehre Platons sind. Was ist denn „wahr“? Ist z.B. die Aussage „es gibt (in den Weiten des Universums) mindestens einen Exoplaneten, der aus grünem Smaragd besteht“ wahr oder nicht? Plato würde sagen, dass der Aussage unabhängig von unserem Wissen ein Wahreheitswert zukommt. Aber ich akzeptiere eine Antwort erst, wenn Sie entweder einen solchen Planeten gefunden oder alle Planeten im Universum geprüft haben. Ich akzeptiere keine Wahrheitswerte, nur Nachweise, Beweise, Schlüssigkeiten. Wer jedoch glaubt, dass Aussagen ein Wahrheitswert zukommen kann, der unabhängig von menschlicher Beobachtung ist, dann ist das Tnd problemlos. Aber dann muss man auf einige Systeme verzichten, in denen das Tnd nicht gilt.

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
21 Tage zuvor
Reply to  Peter Addor

Ich denke, du vermischt die Ebenen: Reine Logik beschäftigt sich mit formalen Strukturen des Denkens.
Empirie, (Exoplanet) bezieht sich auf Beobachtungen und Erfahrungen in der realen Welt.
Sprachlogik betrifft die Bedeutung und Verwendung von Aussagen in der Sprache (wahr).
Du verwechselst die logische Gültigkeit einer Aussage mit ihrer empirischen Verifizierbarkeit. In der Logik kann eine Aussage wahr oder falsch sein, unabhängig davon, ob wir sie beweisen können.
Die Systeme, die du ansprichst, basieren entweder auf einer mehrwertigen Logik (Fuzzy-Logik) oder auf einer zweiwertigen Logik als Erweiterungen oder Anwendungen.
Reine Logik befasst sich mit den Prinzipien gültigen Schließens und operiert mit klar definierten Symbolen und Regeln.
Viele Ansätze, insbesondere wenn sie Unschärfe oder Wahrscheinlichkeiten einbeziehen, bewegen sich in Richtung Erkenntnistheorie oder angewandte Philosophie.
Systeme wie Fuzzy-Logik versuchen, die Komplexität und Unschärfe realer Phänomene zu modellieren, statt sich auf abstrakte logische Strukturen zu beschränken.
Die reine Logik, wie gesagt, beschäftigt sich nicht mit dem empirischen Gehalt von Aussagen, sondern mit der Struktur von Argumenten.

Peter Addor
Peter Addor
20 Tage zuvor

Richtig! Reine Logik folgt immer einem Logikkalkül und darauf kommt es an. Wenn das Tertium non Datur immer richtig wäre, dann wäre jede Aussage entscheidbar, was entweder Ausdrucksschwäche oder Inkonsistenz nach sich zieht. Anstelle der rein formal gemeinten Aussage mit dem Exoplanet kann ich gerne auch eine analytisch-apriori Aussage nehmen: „Es gibt keine Menge mit einer Mächtigkeit zwischen derjenigen der natürlichen und derjenigen der reellen Zahlen“. Diese Aussage ist eben nicht entscheidbar und weder entweder wahr noch falsch. Aber ok; selbstverständlich kann ich nicht sagen: entweder gilt das Tnd oder es ist falsch, denn damit würde ich es ja gerade anwenden. In deiner Welt gilt es, in meiner nicht.

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
20 Tage zuvor
Reply to  Peter Addor

Halten wir zum Schluss fest, jeder darf die Welt so sehen, wie er es möchte. In meiner Welt gibt es eine reine Logik, in der Antinomien sprachlich konstruiert sind. Wenn wir Logik als Produkt unserer Existenz sehen, würden reelle Antinomien unsere Existenz ad absurdum führen. Meine Welt ist axiomatisch geschlossen, aber empirisch offen.😉