Die Biologie des Bewusstseins

Zoomposium mit Ulrich Krohs: „Die Biologie des Bewusstseins – Sind Qualia wissenschaftlich fassbar?”

Zoomposium mit Ulrich Krohs: „Die Biologie des Bewusstseins – Sind Qualia wissenschaftlich fassbar?”

1. Informationen zur Person:

„Ulrich Krohs (* 8. Juli 1961 in Göttingen) ist Professor für Philosophie an der Universität Münster. Ulrich Krohs studierte Biochemie und Philosophie in Tübingen, Brighton, Aachen und Hamburg. 1989 erhielt er sein Diplom in Biochemie (Universität Tübingen). 1994 wurde er zum Dr. rer. nat. promoviert (RWTH Aachen). 2004 habilitierte er sich im Lehrgebiet Philosophie
(Universität Hamburg). Nach Lehr- und Forschungstätigkeiten an der Universität Hamburg, am Konrad Lorenz Institut
für Evolutions- und Kognitionsforschung in Altenberg/Österreich, an der Universität Wien, am Center for Philosophy of Science der University of Pittsburgh, an der Universität Bielefeld und an der Universität Bern wurde er im September 2012 Universitätsprofessor für Philosophie mit Schwerpunkt Wissenschaftstheorie und Naturphilosophie an der Universität Münster.
Seine Arbeitsschwerpunkte sind allgemeine Wissenschaftstheorie, Philosophie und Geschichte der Biowissenschaften, Technikphilosophie, Naturphilosophie und Erkenntnistheorie.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Krohs)

2. Informationen zum Interview: „Die Biologie des Bewusstseins – Sind Qualia wissenschaftlich fassbar?”

Auf unseren neuen Gesprächspartner Ulrich Krohs war ich im Zusammenhang mit einer sehr spannenden und interessanten Ringvorlesung „Willensfreiheit und Bewusstsein – Ein philosopischer Dialog“ im Sommersemester 2025 aufmerksam geworden, die vom Zentrum für Wissenschaftstheorie (ZfW) an der Universität Münster organsiert worden ist.

Herr Professor Krohs ist seit 2012 Mitglied des Vorstands des Zentrums für Wissenschaftstheorie an der Universität Münster und seit 2013 dessen Sprecher und war an der Planung und Organisation dieser Ringvorlesung beteiligt und selbst mehrmals als Vortragender beteiligt. Da ich an der Ringvorlesung und deren Thematik sehr interessiert war und den großen Vorteil habe, dass ich in Münster lebe, war ich natürlich zu einigen der Vorlesungen von Herrn Krohs und den anderen Vortragenden gegangen und war vom Inhalt und der Form begeistert.

Das hatte mich auf die Idee gebracht Herrn Professor Krohs doch einmal für ein Interview zum Thema „Biologie des Bewusstseins“ in unserer Zoomposium-Reihe „Erkenntnistheorie und die Philosophie des Geistes“ zu gewinnen und so diese sehr spannenden Inhalte auch anderen interessierten Menschen zur Verfügung zu stellen. Freundlicherweise hatte er diesem zugestimmt und so konnten Axel und ich auch einmal ein neues „Hybrid-Format“ auszuprobieren, da unser Zoomposium diesmal live im Büro von Herrn Krohs in Münster stattfand und Axel über Zoom aus Alicante (Spanien) zugeschaltet werden konnte. Das Interview hat mir sehr viel Freude bereitet, da man live viel mehr Optionen hat und vielleicht ergibt sich ja nochmals die Möglichkeit dies an anderer Stelle zu wiederholen. Aber jetzt lieber erst mal zu den Inhalten des Interviews. 

3. Interviewfragen zur Naturphilosophie, Bewusstsein und künstliche Intelligenz: „Die Biologie des Bewusstseins – Sind Qualia wissenschaftlich fassbar?”

In diesem ausführlichen Interview sprechen wir mit Prof. Dr. Ulrich Krohs, Professor für Philosophie an der Universität Münster mit dem Schwerpunkt Wissenschaftstheorie, Naturphilosophie, Technikphilosophie sowie Philosophie der Biowissenschaften. Seine Arbeiten widmen sich unter anderem der erkenntnistheoretischen Einordnung biologischer und technischer Systeme sowie dem Phänomen des Bewusstseins – einem Thema, zu dem er jüngst das Buch „Gehirn und Freiheit – Eine Naturphilosophie des Bewusstseins“ (2025) veröffentlicht hat. Im Zentrum des Gesprächs stehen grundlegende Fragen zu Geist, Körper, Emergenz, künstlicher Intelligenz und der Zukunft unserer Erkenntnisformen. Ein Gespräch über Philosophie, Biologie, Technik – und das, was uns als Menschen vielleicht auszeichnet: unser Bewusstsein. 

1. Willensfreiheit – lösbares Problem oder Illusion? Wir beginnen mit einer scheinbar einfachen, tatsächlich aber hochkomplexen Frage:

  • Ist das klassische philosophische Problem der Willensfreiheit prinzipiell lösbar? Oder handelt es sich dabei um ein unlösbares Rätsel – vielleicht sogar nur um ein Scheinproblem, das durch sprachliche oder theoretische Missverständnisse erzeugt wird?

2. Reduktionismus, Emergenz und Strukturrealismus in Philosophie und KI In Arbeiten wie dem Buch „Philosophie der Biologie“ (2005) oder dem Aufsatz „Structure and Coherence of Two-Model-Descriptions of Technical Artefacts“ (2009) kritisiert Krohs klassische reduktionistische Modelle in Biologie und Technikphilosophie. Stattdessen plädiert er für einen Strukturenrealismus, in dem Funktionen als emergente Eigenschaften komplexer Systeme verstanden werden.

  • Ist das Paradigma des Reduktionismus überholt – und braucht es eine strukturellere Sichtweise?
  • Was bedeutet das für die Kritik am Instrumentalismus?
  • Und: Ist das populäre „Big Data“-Paradigma der KI-Forschung nicht auch eine Form modernen Reduktionismus, der Komplexität mit Kompliziertheit verwechselt?
  • Könnte ein strukturenrealistischer Ansatz – mit Fokus auf dynamische Prozesse – hilfreicher sein, um kognitive Phänomene oder gar „künstliches Bewusstsein“ (AC/DC = artificial consciousness / digital consciousness) besser zu modellieren? Und: Sollte man das überhaupt wollen?

3. Computersimulationen als erkenntnistheoretisches Werkzeug Bereits in seinem Artikel „A priori measurable worlds“ (2006) befasst sich Prof. Krohs mit der erkenntnistheoretischen Rolle von Computersimulationen. Diese könnten als „nicht-materielles Maßstabsmodell“ dienen – als Möglichkeit, dem „epistemischen Flaschenhals“ zu entkommen, der unsere Beschreibung dynamischer Prozesse begrenzt.

4. Das Zustandsmodell des Bewusstseins – Naturalismus gegen Dualismus? In „Gehirn und Freiheit“ entwirft Prof. Krohs ein dynamisches Zustandsmodell des Bewusstseins. Dort beschreibt er bewusste Zustände als aktive neuronale Prozesse – etwa als Synchronisation feuernder Neuronen.

  • Könnte ein solcher Ansatz die ontologische Lücke zwischen neuronaler Aktivität und subjektivem Erleben (Qualia) schließen?
  • Wie funktioniert dieses Modell? Ist es instrumentalistisch oder bereits strukturenrealistisch?
  • Welche biologischen Eigenschaften müsste ein System besitzen, um als „bewusst“ zu gelten? Und: Verbirgt sich hier nicht doch ein neuer Dualismus – in einem naturalistischen Gewand?

Im Anschluss diskutieren wir die „4E“-Ansätze der Philosophie der situierten Kognition, insbesondere „Embodiment“ und „Embeddedness“, die den Bewusstseinsbegriff erweitern.

5. Multiple Realisierbarkeit von Bewusstsein – zwischen Neuromorphie und AGI Wenn Bewusstsein nicht zwingend an neuronale Substrate gebunden ist, stellt sich die Frage nach der multiplen Realisierbarkeit:

  • Kann Bewusstsein auch auf anderen materiellen Grundlagen entstehen – etwa in künstlichen Systemen?

Im „Neuromorphic Engineering“ wird an „künstlichen neuronalen Netzwerken (KNN)“ gearbeitet. Modelle wie „spiking neuronal networks (SNN)“ orientieren sich am biologischen Gehirn und simulieren komplexe neuronale Prozesse.

  • Erleben wir einen Paradigmenwechsel – weg vom reduktionistischen „Supervised Learning“ hin zur „Biologisierung der KI“?
  • Was bedeutet das für die Idee einer starken Allgemeinen Künstlichen Intelligenz (AGI)?
  • Lässt sich Bewusstsein funktional simulieren?
  • Gibt es Indikatoren für bewusste Zustände in künstlichen Netzwerken?
  • Könnte es sein, dass Maschinen bereits Bewusstsein entwickelt haben – ohne unser Wissen? 

Das komplette Interview ist unter folgendem Link auf unserem Youtube-Kanal „Zoomposium“ zu sehen: https://youtu.be/W77QCB4AC2I

Ich bin immer mit meiner „Diogenes-Lampe“ unterwegs, um Menschen zu finden, die sich auch nach ein wenig „Licht der Erkenntnis“ sehnen. Also wenn Ihr eigene Beiträge oder Posts für meinen Wissenschaft-/Philosophie-Blog habt, immer her damit. Sie werden mit Eurem Namen als Autor auf meiner Seite veröffentlicht, so lange sie den oben genannten Kriterien entsprechen. Denn nur geteiltes Wissen ist vermehrtes Wissen.
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Wolfgang Endemann
Wolfgang Endemann
3 Monate zuvor

Wieder ein sehr gehaltvolles Gespräch, diesmal mit Ulrich Krohs. Es freut mich natürlich persönlich, daß meine Ansichten weitgehende Bestätigung finden, aber das ist kein Argument. Bemerkenswert ist jedoch, wie dieses Konzept argumentationsökonomisch vertreten wird. Auch ich berufe mich darauf, daß Bewußtsein sich aufgrund seines hohen Energiebedarfs nicht als Epiphänomen abtun läßt und daher eine Identitätstheorie vom Tisch sein sollte. Andrerseits ist nach aller Entzauberung der Welt in der / durch die menschliche(n) Geistesgeschichte der Glaube an einen materiefreien, autonomen Geist so erschüttert, daß wir feststellen müssen, die Illusion eines dualen Geistes war extrem naheliegend, davon übriggeblieben ist ein Rest Pantheismus, der sich sogar zu Recht weigert, die hochkomplexe Welt auf eine res extensa einzuebnen, ein Einspruch gegen den positivistischen Reduktionismus, der jedoch nüchtern betrachtet den Einwand nicht entkräften kann, eine Projektion eines unterstellten autonomen Geistes aufs Materielle zu sein, so wie ein absoluter Geist/Gott als eine haltlose Projektion in das Denken, die Vorstellungswelt erscheint.

Leider bricht das Gespräch ab in dem Moment, wo es richtig spannend wird. Es ist noch nicht die Konsequenz gezogen, inwiefern Bewußtsein eine neue Qualität des Seins ist, die sich biofunktional und erkenntnistheoretisch erklären/verstehen läßt. Das Spezifische des reflexiven Bewußtseins, was das Denken als Denken des Seins im Unterschied zum Spiegeln des Seins charakterisiert, ist noch unerwähnt. Auf der bisherigen Ebene kann man Bewußtsein noch als epiphänomenalen Reflex sehen, und so läßt sich ein rein phänomenales Bewußtsein, wie es im bloßen Wahrnehmen und im Fühlen als integrierter Wahrnehmung vorliegt, durchaus noch reduktionistisch verstehen, darauf habe ich schon in der Diskussion des positivistischen Ansatzes von Philipp verwiesen. Da greift auch das ökonomistische Argument noch nicht, denn alle vom reflexiven Bewußtsein unabhängige Steuerung des Organismus über ein ZNS muß in irgend einer Form auf die Gesamtsituation reagieren, also alle Wahrnehmungen integrieren. Diese Form des Bewußtseins hat also eine reduktionistische funktionale (biologische) Erklärung.

Vielleicht ist diese Vorstufe zum Bewußtsein der Grund, warum noch nicht der sprachliche Doppelcharakter des Denkens (reflexiven Bewußtseins) ins Spiel gebracht wurde. Denn das ist der vielleicht prinzipiell unaufklärbare Grund unseres Verständnisproblems. Daß wir ein kreatives Bewußtsein haben, ist selbstevident, Krohs verweist hier zu Recht auf Descartes, daß wir es funktional verstehen können, daß wir immer genauer erfassen, wie es mit neuronalen Vorgängen korreliert ist, auch. Wahrscheinlich wird man sogar demnächst verorten können, wann wie und wo autonome physiologische Prozesse im Cortex stattfinden. Vielleicht werden wir uns dann damit begnügen, daß Bewußtsein stattfindet, ohne daß wir nach einem letzten Grund für diesen Sprung von einem einfachen zu einem komplexen Sachverhalt suchen.

Es ist und bleibt ja auch rätselhaft, wenn wir nach einem stetigen Übergang beim Verständnis eines schwierigen mathematischen Beweises suchen. Es ist der berühmte Groschen, der fällt oder nicht fällt. Ich möchte hier nur ohne weitere Begründung anmerken, daß wir mit diesem Werden (wie auch dem inversen Verfall) als sinnsuchende und sinnfindende (und dekonstruierende), verstehende und mißverstehende Organismen ständig konfrontiert sind.

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
3 Monate zuvor

Die Philosophie des Geistes und große Teile der Bewusstseinsforschung produzieren bis heute unlösbare Rätsel, weil zwei methodische Fehler wiederholt werden. Beide Fehler sind vermeidbar, beide sind begrifflicher Natur – und beide lassen sich mit wenigen, aber konsequenten Korrekturen beheben.

1. Beschreibungsperspektiven werden zu Ontologien gemachtPhysiologische und psychologische Beschreibungen sind Perspektiven auf denselben Gegenstand: lebende, kognitive Systeme. Was in der Alltagssprache als bequeme Abkürzung funktioniert („Neuronen verursachen Bewusstsein“), wird in der Theorie zur Falle. Aus einer sprachlichen Ellipse wird ein ontologischer Anspruch, aus Korrelation wird Kausalität. Das Resultat ist die bekannte Erklärungslücke: Wie sollen Prozesse, die wir in der Sprache der Physik und Biologie beschreiben, ein Phänomen hervorbringen, das wir in der Sprache der Erfahrung beschreiben? Aus dieser Perspektivvermischung speist sich das sogenannte Hard Problem (Chalmers).
Die Korrektur ist einfach, aber strikt: Beschreibungsebenen nicht ontologisieren und nicht vermischen. Wer einen physiologischen Begriff für Bewusstsein finden will, muss den entsprechenden physiologischen Zusammenhang ganz ausarbeiten und am Ende sagen: Dieser Zusammenhang entspricht dem, was wir phänomenal Bewusstsein nennen. Das ist keine dualistische Flucht, sondern begriffliche Hygiene. Zwischen physiologischer und phänomenaler Beschreibung bestehen Abbildungs- und Korrespondenzbeziehungen, keine innerweltlichen Ursache–Wirkung-Relationen im Sinne zweier Substanzen. In der philosophischen Tradition lässt sich das als Vermeidung eines Kategoriefehlers beschreiben (Ryle) – und als Umsetzung von Wittgensteins Hinweis, dass viele philosophische Probleme aus der Verhexung unseres Sprachgebrauchs entstehen (Wittgenstein).
Wer dagegen Ebenen verschaltet, erzeugt Pseudo-Probleme: Ein und dasselbe System wird zweimal beschrieben, und dann fragt man, wie Beschreibung A Beschreibung B „hervorbringt“. Das ist, logisch gesehen, eine Selbstverwirrung. Methodologisch sauber ist es, innerhalb einer Ebene zu erklären und zwischen Ebenen Korrespondenzen auszuweisen. In der Praxis heißt das: Wir suchen neurophysiologische Invarianzen, die mit klar spezifizierten Bewusstseinszuständen ko-varieren, und wir testen diese Invarianzen experimentell. Wir nennen sie dann Korrelate – nicht Ursachen – des Bewusstseins. Kausal wird es innerhalb der jeweiligen Ebene: im neuronalen Netzwerk hinsichtlich Erregungsdynamik, im phänomenalen Bereich hinsichtlich der Struktur erlebter Zustände.

2. Reduktion auf Partikel verwechselt Rekonstruktion mit De-OrganisationDer zweite Fehler ist die unreflektierte Reduktion von Komplexität auf physikalische Partikel, aus der dann die Frage entsteht, wie aus Partikeln Bewusstsein entstehen könne. Diese Frage reproduziert die Metaphysik, die man vermeiden wollte. Denn was bei der Reduktion verschwindet, ist gerade das, was das Lebendige ausmacht: organisierende, rekursive, sich selbst erhaltende und sich selbst intensiviernde Prozesse. Wer vom Ende der Reduktionsleiter aus wieder hochbauen will, rekonstruiert „Materie plus Komplexität“ – aber nicht das, was Leben und damit Bewusstsein spezifisch macht.
Die Korrektur lautet: Die kleinste relevante Einheit ist im Bereich des Lebendigen nicht das Partikel, sondern der minimal organisierte, autokatalytische Kreislauf. Autokatalyse ist das Prinzip, nach dem Produkte von Reaktionen wiederum die Bedingungen für weitere Reaktionen schaffen und verstärken. Dadurch entstehen geschlossene, sich selbst tragende Dynamiken, aus denen Autonomie und funktionale Zentrierung hervorgehen (Kauffman, Prigogine & Stengers, Luisi). Auf biologischer Ebene wurde dieses Organisationsprinzip mit dem Begriff der Autopoiesis gefasst: Lebende Systeme erhalten ihre Organisation durch kontinuierliche, netzwerkartige Produktions- und Transformationsprozesse (Maturana & Varela).
Wenn man diese Einsicht ernst nimmt, wird die Bewusstseinsfrage neu formuliert. Bewusstsein ist nicht das „Mehr“ der Materie, sondern eine Organisationsleistung in lebenden, hochintegrierten Systemen. Reize erregen das Gehirn nicht als lose Ansammlung von Bausteinen, sondern als autokatalytische Maschinerie. In ihr verschmelzen Erregungen rekursiv zu kohärenten Gesamtzuständen. In metaphorischer Kürze: Erregung spürt Erregung. Damit ist nicht gemeint, dass Erregung „sich selbst“ im mystischen Sinne erkennt, sondern dass rekursive Kopplungen interne Sensitivität für den eigenen Dynamikzustand erzeugen. In einer solchen Dynamik entstehen globale, einheitliche Aktivationsmuster, die auf phänomenaler Ebene als einheitliches Erleben erscheinen.

Was damit gewonnen istDie beiden Korrekturen – Ebenen nicht ontologisieren; Leben von Autokatalyse her bestimmen – schieben das zentrale Rätsel beiseite, ohne es zu bagatellisieren. Die Frage „Warum erleben wir überhaupt etwas und nicht nichts?“ verliert ihren mystischen Zug. Sie wird zu einer systemtheoretischen Frage nach Bedingungen, unter denen rekursive Erregungsnetze interne Kohärenzzustände erzeugen, die auf der phänomenalen Seite als Bewusstsein korrespondieren. Das berührt klassische Positionen, ohne in sie zurückzufallen: Es ist weder reduktionistischer Physikalismus (weil die Organisationsprinzipien der Biologie nicht auf Partikeldekomposition reduzierbar sind), noch Dualismus (weil keine zweite Substanz eingeführt wird), noch Behaviorismus (weil die phänomenale Seite als eigenständige Beschreibungsebene ernst genommen wird).
Empirisch folgt: Wir suchen keine „Ursache Bewusstsein“ in einem Neuron oder Modul, sondern Stabilitätsbedingungen für globale Zustände. Dass sich solche Bedingungen messen lassen, zeigen methodische Ansätze, die nicht kausal zwischen Ebenen springen, sondern Korrespondenzen quantifizieren, etwa Komplexitäts- und Perturbationsmaße, die die Fähigkeit eines Systems erfassen, reichhaltige, integrierte, aber differenzierte Zustände zu erzeugen. Solche Maße sind Korrelate – nicht Identitäten – des phänomenalen Integrationsniveaus. Genau diese begriffliche Klarheit verhindert, dass aus Messgröße Ontologie wird.

Wolfgang Endemann
Wolfgang Endemann
3 Monate zuvor

ad 1.
Das ist nach meinem Verständnis falsch. „Beschreibungsperspektiven werden zu Ontologien gemacht“ – nein, Beschreibungsperspektiven=Modelle werden mit einer unterstellten Ontologie identifiziert (solange keine Widersprüche zu Erfahrung und Experimenten gefunden sind). Die Wahrheit der Modelle ist ja ihre Widerspruchsfreiheit, an der ändert sich nichts, auch wenn sich herausstellt, daß das Modell die Wirklichkeit nicht trifft. Wahrheit sollte man als epistemische Kategorie fassen, nicht als ontologische. Denn das wäre albern, so wie die Pseudodefinition „etwas ist wahr, wenn es gilt, a ist wahr, wenn a“, wenn man Sein in Sein+Wahrsein verdoppelte, wenn etwas Seiendes wahr oder unwahr sein könnte. Wahrheit ist nur sinnvoll zu gebrauchen als Qualität des Denkens. Woraus folgt, daß es keine absolute Wahrheit geben kann, weil es keine vollkommene Modellierung der Wirklichkeit geben kann. Das wurde schon mit dem Kantschen Ding-an-sich formuliert. Man könnte nur von einer Wahrheit des Denkens an Ontologie sprechen, einer vernünftigen Modellierung des Verhältnisses von Denken zu Wirklichkeit. Aber wenn man das ontologische Wahrheit nennt, ist das wiederum unpräzise, es ist eine epistemische Wahrheit einer angemessenen Vorstellung von dem, was ist. Die Spezifizierungen in Wesen (Substanz), Erscheinung, Determinismus, Ding, Struktur sind Unterscheidungen in der Modellierung, die selbstverständlich nicht willkürlich gewählt werden können.

Wenn man das auseinanderhält, kommt es zu keinem Kategorienfehler. Und genau so albern wie das Verdoppeln in Sein und Wahrsein ist die Trennung von Modellierung und angemessener Beschreibung der Realität. Letzteres mag Utilitaristen als clever erscheinen, aber es ist eine armselige Regression und widerspricht fundamental der evolutiv gewachsenen Funktion des Denkens (Bewußtseins), daß wir nicht nur nützlich handeln können, sondern auch vergleichsweise richtig, daß wir uns immer besser an die (objektive, hier darf nicht vergessen werden, daß die Wirklichkeit, in der Subjekte agieren, keine rein objektive Welt mehr ist) Wirklichkeit anpassen können, je objektiver wir sie uns vorstellen können. Daran arbeitet systematisch die Wissenschaft. Unsere Modellierungen nähern sich asymptotisch der Wirklichkeit (freilich ohne sie erreichen zu können). Auf diese Weise entwickelt sich das Denkorgan wie die speziellen Wahrnehmungsorgane, die die Welt im Organismus abbilden. Isomorphie ist das regulative Ideal.

„Wir suchen neurophysiologische Invarianzen, die mit klar spezifizierten Bewusstseinszuständen ko-varieren, und wir testen diese Invarianzen experimentell. Wir nennen sie dann Korrelate – nicht Ursachen – des Bewusstseins.“
Dem stimme ich zu.

ad 2.
Dem stimme ich im Prinzip auch zu. Allerdings ist die Erläuterung zu wenigsagend. Autokatalytische Systeme gibt es auf der untersten Ebene, damit wird weder das Spezifische der Biologie noch das des Geistigen erfaßt. Das ist nur die Emergenz von konvergenten Strukturmannigfaltigkeiten. Schon ein Sonnensystem ergibt sich autokatalytisch aus einer großen ungleichmäßigen Masseagglomeration. Wenn man dabei stehenbleibt, erfaßt man nur den deterministischen physikalischen Zusammenhang, der selbstverständlich auch auf der biologischen wie der Bewußtseinsebene realisiert ist.

Es ist klar, daß man, wenn man dabei stehenbleibt, auf kein hartes Bewußtseinsproblem stößt, man stößt so ja gar nicht auf die Bewußtseinsebene vor, Bewußtsein bleibt ein leeres Wort, wie Gott. Oder es muß, wie ich schon mehrfach erwähnt habe, als Epiphänomen gedacht werden. Wenn sich Denken nicht in Gegensatz zu etwas setzen kann, kann es nichts erkennen.

Philipp
Philipp
3 Monate zuvor

 Oder es muß, wie ich schon mehrfach erwähnt habe, als Epiphänomen gedacht werden.“

Bewusstsein kann man nur als Epiphänomen betrachten wenn man dualistisch denkt. Man impliziert hier wieder zwei parallel laufende Prozesse: 1 einmal die neuronale Aktivität des Gehirns die dann kausal wirksam sei und 2 das Bewusstsein als Folge der neuronalen Aktivität das nicht wirksam in einer Art Sackgasse endet.

Die Bedingung für die Möglichkeit eines solchen Epiphänomenalismus ist ein verstecker Dualismus im Denken; ansonsten käme man gar nicht erst auf die Idee solche Gedankengebäude wie den Epiphänomenalismus überhaupt noch zu betrachten.

Das gleiche gilt für die Frage nach der mentalen Verursachung die einen Kategorienfehler darstellt und ebenfalls auf dualistischem Denken beruht.

——

Nun zum Interview „die BIOLOGIE des Bewusstseins“

Bei der im Interview vorgestellten Idee „mikrobewusste Zustände“ in das Feuern einzelner Neurone zu legen sehe ich Probleme.

Erstens handelt es sich dabei aus meiner Sicht ganz sicher nicht um eine biologische Idee, sondern um eine klar philosophische. Man nimmt ein philosophisches Konzept „mikrobewusster Zustand“, oder sagen wir es direkt frei heraus, „Bewusstsein“, und legt dieses in die Beschreibungs- und Erklärungsebene von neurophysiologischen Prozessen rein. Das ist meiner Ansicht nach ein Kategorienfehler zwischen zwei verschiedenen Beschreibungs- und Erklärungsebenen.

Zweitens scheint es mir etwas zirkulär zu sein wenn man das was es zu erklären gilt, und sei es auch nur in der Form von sogenannten Mikrozuständen, bereits in die einzelne Bausteine der unabhängigen Variable (Aktivität einzelner Zellen) hineinlegt.

Drittens wird man mit einer solchen Strategie die Kluft zwischen physiologischen Prozessen und Bewusstsein auch nicht überbrücken können; denn man verlegt das Problem nur. Das Problem, nämlich dass man versucht zwei letztendlich unterschiedliche „Sprachsysteme“ zu verlinken, wird so nicht ausgehebelt.

Viertens spiegelt sich hier meiner Ansicht nach das dualisistische Denken wieder. Die Philosophie des Geistes (oder zumindest viele Philosophen des Geistes) gehen davon aus, dass Bewusstsein irgendwie besonders, speziell, oder anders als alles andere in der Welt sei. Subjektivität sei etwas ganz besonderes.

Nun sucht man natürlich auch nach „besonderen“ neuronalen Zuständen, beispielsweise in Form von postulierten mikrobewussten Zuständen in einzelnen Zellen. Hier sieht man, wie eigene ontologische Vorstellungen natürlich die Modelle prägen. Es wird dann implizit oder explizit postuliert, dass es für Bewusstsein neuronale Aktivitätsformen gäbe die prinzipiell anders seien als der Rest der neuronalen Aktivität. Das führt aus meiner Sicht zu einem neuronalen Cartesianisms. Man wiederholt den Dualismus auf der neuronalen Ebene; man hat dann einen Dualismus im Kopf der einem am Ende trotzdem nicht weiterbringt.

Der Ansatz ist daher aus meiner Sicht leider nicht biologisch gedacht, sondern beruht nach wie vor auf philosophischen Vorannahmen die dann in die Biologie gelegt werden.

Wolfgang Endemann
Wolfgang Endemann
3 Monate zuvor
Reply to  Philipp

Das ist in Zement gefaßter Positivismus. Du wiederholst immer wieder, was Du voraussetzt. Wenn diese Voraussetzung zuträfe, gäbe es keinen Epiphänomenologismus (ich bin, wie Du bemerkt haben dürftest, selbst kein Epiphänomenologist). Was wäre dann die Epiphänomenologie? Richtig: ein epiphänomenologischer Sachverhalt. Und welche Gründe hast Du, Epiphänomenologie zu leugnen? Die Immunisierung des Poisitivismus, eine zirkuläre Selbstrechtfertigung.
Naja, meine Argumentation könnte ein logischer Taschenspielertrick sein. Ich möchte hier keinen Keingottesbeweis vorlegen, der ist so absurd wie ein Gottesbeweis. Ich gestehe Dir Deinen Positivismus zu, aber man sollte ihn wenigstens als solchen erkennen.

Ich will hier nicht die Debatte aufrollen, warum ich den Positivismus für unhaltbar halte, es gibt selbstverständlich keinen schlagenden Beweis, keine smoking gun. Und ich verstehe sogar, daß man solchen fundamentalen Fragen pragmatisch – systematisch – aus dem Weg geht, gemäß des Wittgensteinschen Diktums. Das ist dann neben dem philosophischen der lebenspraktische Positivismus. Diese Selbstbeschränkung des Denkens ist nicht nach meinem Geschmack, aber sie ist legitim. Damit beende ich diese Debatte meinerseits.

Philipp
Philipp
3 Monate zuvor

 Und welche Gründe hast Du, Epiphänomenologie zu leugnen? Die Immunisierung des Poisitivismus, eine zirkuläre Selbstrechtfertigung.“

Weil ich nicht wie du an einen Geist (oder moderner „das Bewusstsein“) glaube das ZUSÄTZLICH neben der neuronalen Aktivität HINZUkommt. Ich denke nicht dualistisch. Ich denke nicht wie du (und so viele Leute in dieser Diskussion) im metaphysischem Paradigma des Leib-Seele-Problems.

Deshalb missverstehst du meine Position auch immer als „naiven Positivismus“ – du steckst so tief im Treibsand dieses Paradigmas, dass du gar nicht mehr außerhalb dieses Paradigmas über das Thema Bewusstsein nachdenken kannst. Damit bist du nicht alleine; es trifft wie gesagt auf soviele Leute in dieser Diskussion zu.

Ihr wollt alle keine Dualisten sein, aber ihr seid es dennoch. Das ist euer philosophisches Kernproblem; deshalb entstehen die endlosen philosophischen Probleme um die ihr euch ewig im Kreis dreht ohne auch nur einen Schritt vorwärts zu kommen.

„Wir sind doch keine Dualisten, wir sind Monisten!“ Ja, alles klar, aber dann diskutiert ihr euch über metaphysische Probleme kaputt die klar zeigen, dass ihr es letztendlich doch seid! Ich würde mich nichtmal als Monisten bezeichnen, weil die Dichotomie Dualismus versus Monismus selbst sinnlos wird wenn man das Problem philosophisch/konzeptuell ganz anders (außerhalb des Leib-Seele Paradigmas) angeht.

Der Einzige in dieser Diskussion der hier wissenschaftlich denkt ist Wolfgang Stegemann. Du und Heinz – ihr diskutiert euch wieder über alles philosophische kaputt, kommt aber gar nicht zum Kern des Themas.

Heinz schreibt als Kritik an Stegemann beispielsweise, dass die Neurowissenschaften neuronale Daten mit Stimulusdaten korrelieren und sie eigentlich phänomenale „Daten“ mit neuronalen Daten korreliren müssten, um zu zeigen, dass phänomenales Erleben mit bestimmten neuronalen „Mustern“ übereinstimmt.

An der Aussage sieht man schon, dass Heinz nicht weiß wovon er spricht – wundert mich nicht, denn habe ich nicht erwartet, dass Heinz neurowissenschaftliche Paper liest. Erstens ist die Verbindung von Stimulusdaten (deren explizite Analyse) mit neuronaler Aktivität noch sehr selten und geradezu exotisch. Zweitens und was es dagegen schon lange gibt ist die Verbindung von psychologischen und behavioralen Daten die zeigen dass bestimmte neuronale „Muster“ eben mit bestimmten phänomenalen „Daten“ oder Verhalten systematisch korrelieren. Was Heinz fordert wurde schon längst tausendfach gezeigt.

Du kannst jetzt auch wieder den von mir gerade aufgebrachten Begriff „wissenschaftlich“ aufgreifen und mir verklickern was das eigentlich sei, sodass man sich wieder endlos philosophisch über die Wissenschaftsphilosophie kaputtdiskutiert. Interessiert mich nicht.

Mein Tipp: vergisst mal für zwei Jahre die Philosophie und konzentriert euch wirklich auf Biologie, Neurowissenschaften, etc. und geht erst dann zurück zur Philosophie. Ihr verzettelt euch immer in philosophischen Endlosdiskussionen ohne zu einem einzigen konkreten Punkt zu kommen. Das ist so typisch für diese Diskussion im Internet… Ihr sitzt auf einem sehr hohen Ross und betrachtet alles von einer überheblichen Metaebene. Von den Dingen auf die es eigentlich ankommt wenn man das Thema Bewusstsein mal konkreter angehen möchte scheint nie viel Wissen da zu sein.

Wolfgang Endemann
Wolfgang Endemann
3 Monate zuvor
Reply to  Philipp

Ich bedauere, daß meine Argumente als Kränkungen aufgefaßt wurden und somit die Fragen, die in ihnen enthalten waren, nicht rezipierbar waren. Die Diskussion ist, was ich hier nicht erwartet hatte, offensichtlich so emotional aufgeladen, daß es ohne wehrhaftes Strammstehen nicht geht.
Vielleicht wäre unser Gespräch fruchtbarer verlaufen, wenn ich ohne die Wortschubladen Bewußtsein, Sein, Physiologie, Phänomenologie usw zu bemühen einfach gefragt hätte, ob in der Kette von äußeren und inneren Reizen, der Reizverarbeitung und eines Reaktionsoutputs überall das Geschehen naturgesetzlich zu erklären ist oder an irgend einer Stelle nicht mehr ausreicht.
Nun, wenn Du in Deinem Bereich ordentlich arbeitest, wirst Du, so meine Überzeugung, selbst auf diese Stelle stoßen, wenn Dich der Positivismus nicht blind dafür macht.

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
3 Monate zuvor
Reply to  Philipp

Sehe ich ähnlich:
Der Begriff „mikrobewusste Zustände“ erinnert stark an das, was ich in meinem Modell des kausalen Kollapses Kollapsinseln nenne (https://doi.org/10.5281/zenodo.15350050 und https://doi.org/10.5281/zenodo.15351381). Dabei handelt es sich um lokal integrierte Reiz-Reaktions-Ereignisse, die durch spezifische, modale Reize ausgelöst werden – etwa ein Piks, der zu einem Fluchtreflex führt.
Solche Ereignisse sind funktional vollständig: Sie verarbeiten den Reiz, lösen eine angemessene motorische Antwort aus und können kurzfristig handlungsleitend sein. Bewusstsein im eigentlichen Sinn entsteht daraus jedoch nicht, denn die Aktivität bleibt auf eine einzelne funktionale Insel beschränkt. Sie wird nicht in einen globalen kausalen Kollaps integriert, in dem viele solcher Ereignisse synchronisiert und in ein kohärentes, selbstbezogenes Erleben eingebettet werden.

Kollapsinseln entstehen in allen komplexeren Nervensystemen: Teilnetzwerke synchronisieren sich für kurze Zeit, um einen Reiz zu verarbeiten und eine passende Reaktion auszulösen. Diese Integration ist lokal und modal gebunden – sie bezieht sich etwa nur auf einen taktilen, auditiven oder visuellen Reiz – und endet, sobald die Reaktion abgeschlossen ist.
Der entscheidende Unterschied zum Bewusstsein liegt in der Systemintegration. Erst wenn solche lokalen Ereignisse in einen globalen kausalen Kollaps einfließen, werden sie Teil eines kohärenten, selbstbezogenen Erlebens. Der globale Kollaps integriert Reize unterschiedlicher Modalitäten, verknüpft sie mit Gedächtnisinhalten, emotionalen Bewertungen und Handlungsplänen und bezieht sie auf den Gesamtzustand des Organismus.

Aus dieser Sicht ergibt sich ein klarer evolutionärer Rahmen:
Einfachere Organismen (z. B. Insekten, Würmer, Muscheln) arbeiten fast ausschließlich mit Kollapsinseln. Sie reagieren präzise auf spezifische Reize, aber ohne globale Integration. Hier gibt es keine phänomenale Erfahrung im eigentlichen Sinn, sondern reine Funktionsabläufe.

Frühe Wirbeltiere zeigen bereits Ansätze zu übergreifender Integration, bleiben aber meist noch modular.

Höhere Wirbeltiere (Vögel, Säugetiere, insbesondere Primaten, Delfine, einige Papageien) verfügen über hochgradig vernetzte, autokatalytisch stabilisierte Nervensysteme, die globale Kollapse ermöglichen. Hier tritt erstmals volles Bewusstsein auf.

In diesem Licht lassen sich „mikrobewusste Zustände“ funktional so deuten, dass sie den Kollapsinseln entsprechen: Sie sind lokal integrierte Reiz-Reaktions-Module, aber kein Bewusstsein.

Neurophysiologisch erinnern Kollapsinseln an die EEG-Microstates: kurzlebige, quasi-stabile Muster der Gehirnaktivität, die 60–120 Millisekunden andauern, bevor sie abrupt in ein neues Muster wechseln. Diese Microstates wurden ursprünglich als „Atoms of thought“ bezeichnet, weil sie globale Konfigurationen repräsentieren, in denen bestimmte neuronale Netzwerke synchron arbeiten.
Im Kontext des Kollapsmodells sind Microstates vor allem deshalb interessant, weil sie zeigen, dass selbst hochintegrierte Gehirne fortlaufend in diskrete, zeitlich begrenzte Zustände gegliedert sind. Die entscheidende Frage ist dabei, welche dieser Zustände in den globalen Kollaps einbezogen werden und so zu Bewusstsein beitragen.

Ein theoretischer Ansatz, der in diesem Zusammenhang diskutiert wird, ist Active Inference. Dieses Modell beschreibt, wie Systeme versuchen, die Diskrepanz zwischen internen Erwartungen und eingehenden Sinnesreizen zu minimieren – entweder durch Anpassung der internen Modelle oder durch aktive Veränderung der Umwelt. Für adaptive Informationsverarbeitung ist das ein nützliches Rahmenmodell.
Als Bewusstseinstheorie bleibt es jedoch uninteressant:

Kategorienfehler – Es beschreibt einen Rechen- oder Regelmechanismus, nicht das Phänomen des Erlebens.

Teleologischer Fehler – Formulierungen wie „das System will Vorhersagefehler minimieren“ verleihen Prozessen eine Zielgerichtetheit, die ihnen physikalisch nicht innewohnt (Homunkulus-Problem).

Fehlende biologische Spezifik – Wenn jede Form von Reiz-Reaktions-Anpassung Active Inference ist, erklärt das Prinzip nicht, warum manche Systeme bewusst sind und andere nicht.

Gerade diese Unterscheidung zwischen Funktion und Erfahrung ist im Kollapsmodell entscheidend:
Kollapsinseln – rein funktionale, lokal integrierte Reiz-Reaktions-Module.
Globaler Kollaps – zentrale, systemweite Integration, die Erleben ermöglicht.
Fazit
Der Begriff „mikrobewusste Zustände“ kann, funktional verstanden, helfen, über die elementaren Bausteine neuronaler Verarbeitung zu sprechen. Entscheidend ist jedoch, ihn nicht mit Bewusstsein im eigentlichen Sinn gleichzusetzen. Erst wenn viele solcher lokalen Ereignisse in einem globalen kausalen Kollaps integriert werden, entsteht ein kohärentes, selbstbezogenes Erleben. Phylogenetisch ist dieser Übergang eine späte Entwicklung, die erst bei hochintegrierten Nervensystemen auftritt – während einfachere Organismen mit isolierten, funktionalen Kollapsinseln arbeiten, die zwar reagieren, aber nicht bewusst sind.

Wolfgang Endemann
Wolfgang Endemann
3 Monate zuvor

„Für adaptive Informationsverarbeitung ist das ein nützliches Rahmenmodell.“
Bis zu diesem Satz gibt es für mich keinen Grund zu Kritik. Dann aber scheust Du die Konsequenzen und nimmst alles wieder zurück: „Als Bewusstseinstheorie bleibt es jedoch uninteressant:
Kategorienfehler
Nein, es beschreibt keinen Rechen- oder Regelmechanismus, sondern gerade das Gegenteil, einen Bruch eines Mechanismus, Algorithmus. Mit der Aussage „adaptive Informationsverarbeitung“ wird eine Ebene gesetzt, die nicht mehr mechanisch, also als naturgesetzlicher Kausalzusammenhang zu erklären ist – „adaptiv“ bedeutet eine irreduzible andere Wirklichkeit. Freilich folgt daraus nicht, daß es ein metaphysisches Anderes gibt, wohl aber ein kategorial anderes Sein. „Erleben“ läßt sich nicht auf physiologische Prozesse zurückführen, wohl aber muß es in solchen verkörpert sein. Es ist ein Kategorienfehler, wenn man diese beiden Formen von Sein, Sein und Bewußtsein, also eine nicht mechanische, sondern eine autogene, sich adaptiv* verhalten könnende subjektive Instanz, die sich an die Objektivität anpassen oder sie verändern kann, identifiziert.
Du begehst einen Kategorienfehler, was um so verwunderlicher ist, als Du selbst den kategorialen Unterschied ansprichst: eine autogene Ordnung im neuronalen System, genauer im Cortex, ohne eine solche wäre der Begriff „adaptive Informationsverarbeitung“ sinnlos. Der neutrale (informationstheoretische) Begriff Information wird so zu Sinn, wie Du richtig schreibst, einer Integration zu Komplexen, und der subjektive Sinn ist die autopoietische Integration der bedeutungslosen Sinnesdaten zu einem individuellen Erleben. Da wir Subjekte wesentlich Objekte sind, sind die individuellen Erlebensformen weitgehend intersubjektiv, an den objektiven input gebunden, also ähnlich bis gleich.
Btw, ich hatte schon angesprochen, daß die Sachlage auf der Ebene des Erlebens nicht so eindeutig ist. Ich hatte Bewußtheit und Bewußtsein unterschieden, das erstere kann man ohne das letztere verstehen. Daher kann man auch Teile des Erlebens ohne autopoietisches Eigensein fassen, als „Erleben des wahrgenommenen Seins“. Das ist der Grund, warum positivistische Ansätze beim „Erleben“ stehenbleiben, das „Bewußtsein“ ausklammern oder konsequenterweise leugnen.

Teleologischer Fehler
müssen vermieden werden. Das geschieht aber gerade dadurch, daß der Sinn nicht auf der physiologischen Ebene auftritt, sondern auf der (autopoietischen) Subjektebene, nicht als Teleologie, sondern als Intentionalität, die sich aus der Möglichkeit des Eigensinns ergibt. Ziele existieren nicht objektiv, sie werden sinnhaft gesetzt.

Fehlende biologische Spezifik
Genau das ist mein Punkt. Biologie beschreibt die Funktionalität von Lebensvorgängen. Die werden im Wesentlichen bei allen Lebewesen, auch noch beim Menschen, durch das genetische Programm realisiert, ohne Bewußtsein. Bewußtsein ist der Schritt zu einer relativen Autonomie von Subjekten, die nicht nur sind, was sie sind, sondern eine Eigenrolle in ihrem Sein entwickelt haben, also eine freilich sehr bescheidene Selbstbestimmung.
Das kann man bestreiten, aber was tut man damit? Man wäre in einer cia.

Dem Fazit kann ich zustimmen, umso weniger verstehe ich die Aversion gegen die zwei Formen des Seins, eines unmittelbaren (auch komplexen) objektiven Seins und eines (relativ) autonomen Eigenseins, das erst auf einer sehr hohen Entwicklungsstufe möglich und in meinen Augen nicht zu leugnen ist.
Infolge dieses Ansatzes ist es notwendig, die Schnittstelle in dem physiologischen Geschehen zu finden, an der der subjektive Eigensinn sich realisiert. Das ist die Korrelation von Sein und Bewußtsein, man kann gerne vom Kollaps analog zum quantentheoretischen Schnitt sprechen.

* Schon der Begriff „adaptiv“ ist hier verräterisch. Man kann ihn verwenden, aber als Oberbegriff mit den beiden Seiten des „adaptiv“ im engeren Sinn und des „akkomodativ“. Auch adaptiv i.e.S. erlaubt schon, von Subjekten, ich würde präzisieren: „Quasisubjekten“ zu sprechen. Im vollen Sinn des Wortes sind Subjekte adaptiv und akkomodativ, also keine Einbahnstraßen. Das Bewußtsein hat die Funktion, nicht nur zwanghaft auf Reize zu antworten, Kausalketten epiphänomenal zu begleiten, sondern sinnvolles Handeln in Freiheitsgraden zu ermöglichen.

Heinz Luediger
Heinz Luediger
3 Monate zuvor

Hallo Wolfgang S.

Invarianz ist mE keine Relation. Bei der Invarianz geht es um ontologische Invarianten. Die Dinge unserer euklidischen Erfahrungswelt sind beispielsweise invariant unter der Gruppe der Translationen und Rotationen. Das bedeutet aber nicht, daß Ort und Lage dieser Dinge (ihre Relationen) invariant sind, sondern die Dinge selbst.

Fragen:

Was bedeutet Invarianz in Bezug auf Darstellungsebenen (physiologisch – phänomenal)?

Invarianzen sind Erhaltungssätze: was bleibt im physiologischen/phänomenalen System unter welchen Bedingungen (Operationsgruppen) erhalten?

Kann das, was miteinander korreliert („ko-VARIERT“) invariant sein?

Oder bedeutet Invarianz schlicht experimentelle Widerholbarkeit?

Heinz

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
3 Monate zuvor
Reply to  Heinz Luediger

Hallo Heinz,
ich verstehe Invarianz zwischen physiologischer und phänomenaler Ebene nicht im ontologischen Sinn einer „Dinge-an-sich“, sondern als Stabilität in der Abbildung zwischen zwei Beschreibungsebenen. Das heißt: Bestimmte Zuordnungen – etwa zwischen neuronalen Aktivitätsmustern und phänomenalen Qualitäten – bleiben unter Veränderungen des Systems erhalten.
Ko-Variation schließt Invarianz nicht aus: Wenn sich zwei Größen gemeinsam verändern, kann ihr funktionales Verhältnis oder ihre strukturelle Form dennoch invariant sein. Im Erleben zeigt sich das z. B. in der Konstanz von Objektidentität trotz wechselnder Perspektiven.
Die Erhaltungssatz-Analogie passt, solange klar bleibt, dass es hier nicht um physikalische Erhaltungsgrößen im Gehirn geht, sondern um Regelhaftigkeiten in der Relation physiologisch–phänomenal. Experimentelle Wiederholbarkeit ist eine methodische Konsequenz daraus, nicht die Definition selbst.
Viele Grüße
Wolfgang

Heinz Luediger
Heinz Luediger
3 Monate zuvor

Hallo Wolfgang,

Phänomene (Kantsche Erscheinungen) kann man weder auf Festplatten speichern noch in Buchform bringen – man kann sie erleben bzw. haben. Ich bezweifele daher Deine Aussage, daß Du neuronale Muster (Daten) mit Phänomenen („phänomenalen Qualitäten“) korrelierst. Was Du wirklich korrelierst sind neuronale Muster (Daten) mit MODELLEN von Phänomenen (Daten). Damit verlierst Du mE die unabhängige Evidenzinstanz der Phänomene und begibst Dich in die tautologische Evidenz des Modells.

Heinz

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
3 Monate zuvor
Reply to  Heinz Luediger

Hallo Heinz,
physiologische Daten ohne Bezug zum Erleben sind bedeutungslos – sie sind dann bloß Messwerte ohne interpretativen Gehalt. Erst die Korrelation mit phänomenalen Qualitäten verleiht ihnen eine funktionale und wissenschaftliche Bedeutung.
Natürlich kann man Phänomene im kantischen Sinn nicht „speichern“. Aber man kann sie im Rahmen von Operationalisierungen erfassen – zum Beispiel durch Berichte oder Verhaltensindikatoren – und so mit neuronalen Mustern in Beziehung setzen. Das ist keine „tautologische Evidenz“, sondern die Grundlage jeder empirischen Bewusstseinsforschung.
Wer die phänomenale Ebene prinzipiell von der physiologischen trennt, entzieht sich jeder Möglichkeit, die Relation zwischen beidem überhaupt zu untersuchen.
Viele Grüße
Wolfgang

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
3 Monate zuvor
Reply to  Heinz Luediger

Hallo Heinz,
ich habe dich möglicherweise falsch verstanden. Du meinst, mein Erleben, wenn ich unterm Hirnscanner liege, ist gar nicht mein Erleben, sondern ein Modell meines Erlebens? Ist das nicht ein bißchen arg absurd?

Heinz Luediger
Heinz Luediger
3 Monate zuvor

Hallo Wolfgang,

Ich habe nicht bezweifelt, daß neuronale Muster mit Phänomenen korrelieren, sondern daß Du Zugriff auf das phänomenale Erleben des Probanden hast. Was Du kennen kannst sind neuronale Muster einerseits und Stimuli (‚objektive’ Modelle von Phänomenen) andererseits. Stimuli sind aber keine Phänomene, sie erzeugen subjektiv unterschiedliche Phänomene. Eine erste neuronal-wissenschaftliche Aussage wäre erst dann gemacht, wenn der Nachweis gelänge, daß gleiches phänomenales Erleben! zu gleichen neuronalen Mustern führt – bei ALLEN Probanden!

Heinz

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
3 Monate zuvor
Reply to  Heinz Luediger

Hallo Heinz,

du verlangst, dass das qualitative Erleben selbst physiologisch „abgebildet“ wird, um eine Korrelation zu rechtfertigen. Das ist der klassische Kategoriefehler: Der qualitative Aspekt liegt auf einer anderen Beschreibungsebene als die physiologischen Daten. Korrelation heißt nicht, dass beide Ebenen dieselbe Form haben müssen, sondern dass es eine regelhafte Relation zwischen ihnen gibt.
Zusätzlich stellst du eine empirische Forderung, die prinzipiell nicht erfüllbar ist: identisches Erleben bei allen Probanden müsse zu identischen neuronalen Mustern führen, bevor man überhaupt eine Aussage machen könne. In der Praxis ist absolute Intersubjektivität im Erleben weder feststellbar noch notwendig – wissenschaftliche Aussagen beruhen auf statistischen Regelmäßigkeiten, nicht auf metaphysischer Gewissheit.

Wolfgang

Heinz Luediger
Heinz Luediger
3 Monate zuvor

Hallo Wolfgang,

ich habe nicht behauptet, daß ein solcher „erster Nachweis“ per Modell und Messdaten (sogenannter empirischer Wissenschaft) erbracht werden kann. Ein solcher bliebe wohl
einer klassischen Theorie vorbehalten, die dann zwei kategorial (orthogonal) und somit invariante Ebenen (wie Du richtig verlangst) im Sinn eines Als-Ob sprachlich miteinander verbindet und erst damit instrumentell zugänglich macht.

Es gilt Einsteins Spruch: erst die Theorie entscheidet WAS gemessen werden kann [und WIE].

Heinz

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
3 Monate zuvor
Reply to  Heinz Luediger

Hallo Heinz,

du rückst jetzt von deiner ursprünglichen Forderung ab, wonach identisches Erleben bei allen Probanden identische neuronale Muster liefern müsse. Stattdessen soll der „erste Nachweis“ nun nur noch theoretisch im Sinn eines Als-Ob möglich sein. Damit entziehst du der Empirie jede Möglichkeit, die Relation physiologisch–phänomenal zu prüfen, und machst die Theorie unangreifbar – was wissenschaftlich steril wäre.
Im Kern geht es hier um die Frage, ob Qualia empirisch zugänglich sind. Ich stimme zu, dass Qualia nicht direkt messbar sind – sie liegen auf einer völlig anderen, rein subjektiven Beschreibungsebene als die physiologischen Daten. Aber sie sind operationalisierbar: durch Berichte, Reaktionsmuster, Entscheidungsverhalten, Vergleichsurteile. Diese Operationalisierungen sind kein Ersatz für das Erleben, sondern methodische Werkzeuge, über die man empirisch mit der phänomenalen Ebene arbeiten kann.
Dass Qualia beschrieben werden und daraus Therapien abgeleitet werden, ist ein anderes Thema – ein rein phänomenologisches. Hier geht es um methodische Zugänglichkeit, und ohne diese verliert jede Theorie den Kontakt zur Erfahrung.

Wolfgang

Heinz Luediger
Heinz Luediger
3 Monate zuvor

Hallo Wolfgang,

Das Als-Ob der Theorie entkräftet nicht ihre Allgemeingültigkeit, sondern nur das affirmative Wissen des Wissens. Newton glaubte nicht daran, daß Massen sich anziehen und stützte sich alleinig auf die Unwidersprüchlichkeit (das Als-Ob) seiner Theorie. Trotzdem ist sie allgemeingültig und zweifellos empirisch überprüfbar. Das Agens ist das freie Spielbein jeder Theorie! Wer versucht es zu reifizieren (Materialismus, Positivismus und Naturalismus), verstrickt sich in Aporien, weil das Agens für das Wissen steht, auf das man (notwendig) verzichten muss um die Theorie unwidersprüchlich (‚wahr‘) zu machen. Die Theorie funktioniert also wie die Metapher: niemand nimmt sie für wahr – jeder gebraucht sie erfolgreich. Würden der natürlichen Sprache über Nacht alle Metaphern (Als-Ob’s) entzogen, könnten wir am nächsten Tag die Bücher unseres Daseins auf diesem Planeten schließen. 

Heinz

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
3 Monate zuvor
Reply to  Heinz Luediger

Heinz,
zuerst verlangst du einen empirisch unerfüllbaren 1:1-Nachweis zwischen Erleben und neuronalen Mustern, jetzt soll der „erste Nachweis“ plötzlich nur noch theoretisch im Als-Ob möglich sein. Ebenso hast du erst bestritten, dass man überhaupt korrelieren kann, und nun akzeptierst du die Verbindung der Ebenen.
Und Newton? Der stand nicht wegen seines schönen Modells, sondern wegen der empirischen Bestätigung seiner Vorhersagen für Allgemeingültigkeit. Ohne Rückkopplung bleibt jedes Als-Ob reine Metapher.

Heinz Luediger
Heinz Luediger
3 Monate zuvor

Wolfgang,

Dein Begriff ‚empirischer Evidenz‘ bezieht sich positivistisch auf logisch konstruierte Modelle und Messdaten. Mein Begriff ‚empirischer Evidenz‘ bezieht sich auf Phänomene und damit via Sprache auf die Gesamtheit des Wissens. Mit dem Phänomenbegriff ist das sinnliche sich-zeigen verbunden und das sich-zeigende kann nicht widersprüchlich sein, weil es sich-zeigt (denn der Widerspruch IST nicht!). Damit ist der Zusammenhang menschlichen Wissens gesichert und zwar durch reine Negation. Das ist das Wesen der klassischen Theorie, der wissenschaftlichen Metapher!
Mein Verständnis von ‚empirischer Evidenz‘ beruht auf Phänomenen, Deines überspringt sie.

Die Neurowissenschaften korrelieren (wie schon besprochen) Stimulidaten mit neuronalen Messdaten. Dazwischen liegt aber eine für die Neurowissenschaften unerreichbare Transformation – nämlich die vom Stimulus zum Phänomen. Daher rührt das gewaltige „Rauschen“, daß scheinbar! neuronale Messdaten überlagert. Aber dem ist nicht so, denn genau genommen schalten die Neurowissenschaften den Denk- oder Wahrnehmungsprozess (der ja das eigentliche Target ist) aus und springen vom Stimulus zu neuronalen Messdaten. Wenn man aber Äpfel mit Birnen korreliert, kommt im wesentlichen Rauschen heraus. Die „Operationalisierbarkeit“ von Phänomenen halte ich mit allem Respekt für pseudowissenschaftlich.

Heinz

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
3 Monate zuvor
Reply to  Heinz Luediger

Hallo Heinz,
wenn ich dich richtig verstehe, gehst du von einer reinen Theorie aus und misst der Empirie keine entscheidende Rolle zu – das erinnert stark an den hegelianischen Ansatz. Mich würde interessieren: Wie kommst du selbst zu deinem Wissen? Nur durch Nachdenken? Und falls ja – woher weißt du, dass deine Überlegungen (oder die der Theoretiker, auf die du dich berufst) zutreffen? Oder bekommst du die Theorien vom Weltgeist auf einem Silbertablett serviert?
Viele Grüße
Wolfgang

Heinz Luediger
Heinz Luediger
3 Monate zuvor

Wolfgang,

zunächst zur Empirie: im Begriff experimentum crucis ist der ursprüngliche Gedanke der Empirie (als Gegensatz zum Dogma) noch enthalten, nämlich als NACHWEIS der Widerspruchslosigkeit einer Theorie. Zur GEWINNUNG von Wissen dagegen taugt das Experiment nicht, weil man ja nicht weiß, was man eigentlich beobachten soll. Dem experimentum crucis geht ein a priori Denk- und Deselektionsprozess voraus, der idealerweise eine Überprüfung nur noch formal benötigt. Streng genommen ist die Überprüfung sogar eine Messfehlerquelle, die eine widerspruchsfreie Theorie scheitern lassen kann. Perfekte Kreise gibt es nur in der Mathematik!

Empirie bedeutet für mich, eine Theorie, oder sagen wir eine Vermutung, solange durch den Fleischwolf zu drehen, bis hinten genau das wieder herauskommt was ich vorne hineingesteckt habe. D.h. ich versuche sie ernsthaft zu widerlegen – nicht zu beweisen. In diesem Widerlegungsversuch lerne ich meine Vermutung sehr genau kennen und in einigen Fällen wird daraus eine Gewissheit. Das kann aber nur in der völligen Abwesenheit von wirtschaftlichen, akademischen, gesellschaftlichen oder anderen Interessen gelingen. Ich habe an der ganzen Sache nur ein desinteressiertes Interesse. Anders ausgedrückt: mich stört einzig der Widerspruch.

Also: Empirie? Ja natürlich – so viel wie möglich – aber bitte gedanklich und nur in unendscheidbaren Fällen oder als Demonstration experimentell. Denn gedanklich kann ich meine Vermutung in kürzester Zeit zig Experimenten aussetzen, selbst solchen die physikalisch oder wirtschaftlich nicht oder nur schwer zu realisieren sind. D.h. ich kann sie dem kompletten Wissen aussetzen – und jetzt kommt die entscheidende Randbedingung – solange es sprachlich fassbar, d.h. theoretisch ist. Denn, ist es theoretisch, ist es zusammenhängend. Aus diesem Grund lehne ich rein numerisch verbürgtes ‚Wissen‘ prinzipiell ab, es raubt mir die Denkfähigkeit und zwingt mich in ein Glaubensbekenntnis.

Woher meine Theorien? Die gibt es nicht. Es gibt in meinem Denken keinen einzigen Gedanken, der nicht schon in der Philosophiegeschichte in der ein oder anderen Gestalt aufgetaucht wäre. Ich habe diese bits and pieces nur gut durchgeschüttelt und in eine für mich verständliche Form gebracht…

Heinz

Wolfgang Endemann
Wolfgang Endemann
3 Monate zuvor

Für mich sind meine Einwände gegen Deine Position nicht ausgeräumt, im Gegenteil werden sie durch Deinen Dialog mit Heinz noch bestärkt. Freilich nicht der ursprüngliche eines naiven Positivismus (das habe ich schon konzediert), denn Du sagst ja <ich verstehe Invarianz zwischen physiologischer und phänomenaler Ebene nicht im ontologischen Sinn einer „Dinge-an-sich“, sondern als Stabilität in der Abbildung zwischen zwei Beschreibungsebenen>. Aber von welchem System redest Du, wenn Du sagst <bleiben unter Veränderungen des Systems erhalten>?. Das meint doch wohl das organismische, nicht das physikalische System der naturgesetzlichen Entwicklung, dessen Spur Du in den unterschiedlichen Beschreibungsmodi aufscheinen siehst. Da hat doch Heinz einen Punkt, wenn er davon redet, daß die Wirklichkeit sich verhält, als-ob sie der modellierten Struktur folge. Tatsächlich ist es umgekehrt, das Denken folgt gegebenenfalls erfolgreich der als gegeben unterstellten Struktur. Als Theorie wählt es die Strukturenmannigfaltigkeit aus, die zu den empirischen Befunden paßt, wobei die Empirie selbst eine konstruierte ist.
Hier schleicht sich der Positivismus wieder ein, wenn Du empirische Unmittelbarkeit unterstellst. Das wundert mich angesichts der heutzutage geläufigen Einsicht „man mißt nicht, was ist, sondern was man mißt“.
Wir können weder das Subjekt unterschlagen, noch den Anspruch einer gewissen Objektivität. Ohne beides keine kritische Wissenschaft.

Ein weiterer Punkt von Heinz ist, daß komplexe Zusammenhänge nicht unmittelbar gegeben sind. Sie müssen rekonstruiert werden. Das bezeichnen wir als „Sinn“. Ich möchte ein paradigmatisches Beispiel geben, das vielleicht den Unterschied von Mustererkennen und sinnhaftem Erkennen illustrieren kann. Es gibt das berühmte Vexierbild eines jungen Mädchens und einer alten Frau. Wenn jemand dieses Bild erblickt, sieht er zunächst nur eine Variante. Manchen gelingt es leicht, zur anderen Perspektive überzugehen, anderen nicht. Das entscheidende ist: es wird immer ein Muster in dem Bild erkannt, der Inhalt des Musters, der Sinn ist jedoch grundverschieden.
Die gleiche Unbestimmtheit finden wir bei funktionalen Äquivalenten. Der mathematische Begriff der Abbildung hat seine Bedeutung nicht in der trivialen analogen Ähnlichkeit, sondern in der Äquivalenz ganz unterschiedlicher Beschreibungsmuster. Das gilt schon in der linearen Algebra, da untersucht man Dualräume (die nicht notwendig isomorph sind).

In unserem Zusammenhang geht es um Korrelationen zwischen neuronalen Aktivitätsmustern und phänomenalen Objekten/Qualitäten. Ein Muster wird zu einem Objekt, indem es mit Sinn belegt, interpretiert wird. Das Beispiel der Qualia ist dabei im Grunde ungeeignet, denn daß Reizungen integral als Reizklassen apperzeptiert werden, ist noch ohne sinnstiftendes Bewußtsein verstehbar. So ist die Qualität „rot“ nur die Dominanz des roten Spektrums. Und selbstverständlich verfälscht unsere Perzeption, selbst ein objektiver Sachverhalt, den objektiven Sachverhalt der Frequenzenvielfalt.

Was mich etwas verwirrt, ist, daß Du manche meiner Argumente selbst bringst, aber daraus nicht die Konsequenzen ziehst. So sagst Du richtig: <Korrelation heißt nicht, dass beide Ebenen dieselbe Form haben müssen, sondern dass es eine regelhafte Relation zwischen ihnen gibt.> Wenn es diese regelhafte Relation gibt, dann handelt es sich um eine Abbildung, ist sie strikt, ist das Abgebildete auf das Urbild zurückführbar. Die Funktion des Denkens, Bewußtseins ist der Ausbruch aus diesem Reduktionismus. Andrerseits bleibt das strikte Abbilden die Grundlage des reizverarbeitenden Organismus.

Wolfgang Endemann
Wolfgang Endemann
3 Monate zuvor

Wenn ich mich hier einmischen darf:
„Invarianz ist mE keine Relation.“
Die Mathematik versucht doch, den Begriff relational zu präzisieren. Absolute Invarianz ist Identität, das Symbol dafür ist ≡. Kovarianz liegt vor bei einer theoretischen Beschreibung mit einer Gleichheitsrelation, symbolisch =, oder in einem verallgemeinerten Sinne der logischen Äquivalenz ↔ (Reflexivität, Kommutativität und Transitivität). Weder Invarianz noch Kovarianz bedeutet: Inkompatibilität/Inkommensurabilität. Dabei kann man nicht mehr von Objekten sprechen, ohne jegliche Kovarianz, also mindestens numerische, funktionale, algebraische oder logische Gleichheit gibt es nichts, was einen naturwissenschaftlichen Gegenstand ausmacht, das Denken verliert seine Gegenständlichkeit, Extensionalität.
„Erhaltungssätze“ sind Beschreibungen von Konstanz innerhalb von Varianz, einem gleichbleibenden Wert in einem dynamischen Zustand.
„Kovarianz“ enthält den Begriff der Invarianz, ist ohne Invarianz gar nicht möglich. Haben wir eine Kovarianz auf zwei unterschiedlichen Beschreibungsebenen, dann gilt diese (mit einer Abbildungsinversion) auch für das Beschriebene.

Also: Wenn es eine „Regelhaftigkeit in der Relation physiologisch–phänomenal“ gibt, gibt es mindestens einen beschreibbaren Morphismus, dh einem Erhaltungssatz auf der phänomenalen Ebene entspricht eine Erhaltungsgröße auf der physiologischen. Mit der Regelhaftigkeit der Relation physiologisch-phänomenal erfaßt man den Determinismus von Denken und Sein, den man materialistisch oder idealistisch auflösen kann, nicht aber die Funktion des Denkens, in der es überhaupt erst begründet ist.

Heinz Luediger
Heinz Luediger
3 Monate zuvor

Hallo Wolfgang,

ich glaube Einstein hat einmal gesagt: gib einem Mathematiker ein Problem und du wirst es nachher nicht wiedererkennen. Soviel ich weiß, hat er z.B. die ‚Raumzeit‘ Minkowskis nie abgenickt.

siehe auch meinen heutigen Kommentar an Wolfgang S.

Aristoteles war davon überzeugt, daß das stärkste logische Argument die Negation ist. Dann aber setzte er eine affirmative (positive) Logik in die Welt. Ich bezeichne das als den größten anzunehmenden Unfall in der Entwicklung der Sprache, weil die Logik mehr zu wissen vorgibt als es zu wissen gibt. Menschliches Wissen entsteht unabdingbar durch Wissensverzicht – es ist in Anlehnung an Heidegger die Lichtung im Wald, die den Wald zuallererst sichtbar macht. Logische Welten dagegen sind verzichtsfreie Welten und deshalb nur im Legoformat widerspruchsfrei zu haben. Umfassende logische Welten kann es nicht geben, weil ihr Zustandsraum unbeherrschbar groß würde. Daran muß jede Komplexitätstheorie scheitern.

Für alle, die an vorderster Wissenschaftsfront arbeiten, d.h. nicht an betreutem Denken und der bloßen Permutation von Wissen interessiert sein können, gilt daher aus meiner Sicht: Hände weg von der Logik.

Heinz

Wolfgang Endemann
Wolfgang Endemann
3 Monate zuvor
Reply to  Heinz Luediger

Nach wie vor verstehe ich diese Diskussion nicht, ich werde auch Wolfgang Stegemann noch antworten, hier meine Stolpersteine in Deinem Kommentar.

„Dann aber setzte er eine affirmative (positive) Logik in die Welt. Ich bezeichne das als den größten anzunehmenden Unfall in der Entwicklung der Sprache, weil die Logik mehr zu wissen vorgibt als es zu wissen gibt.“
Mir ist nicht klar, was Du damit meinst. Ich denke, Negation ist eine Zurückweisung, entweder partiell oder total oder eine der Ebene, auf der das Zurückgewiesene formuliert wird (Kategorienfehler). Nehmen wir an, die Aussage (für ein Realobjekt A) „A hat die Geschwindigkeit v“ wird negiert. Das kann heißen „v(A) ≠ v“, bestimmter „v(A)<v“ oder „v(A)>v“, das kann 2. die totale Negation „v(A) ≠ c“ oder „v(A) < c“ sein, das kann 3. bedeuten, daß man für A überhaupt keine Geschwindigkeit angeben kann, eine Geschwindigkeitsaussage sinnlos ist. Für letzteren Typ ein schönes Beispiel: Für Vektoren ⱱ und ⱳ gilt: |ⱱ+ⱳ|<|ⱱ|+|ⱳ|, falls sie nicht in der Richtung übereinstimmen, für das Kreuzprodukt, den Vektor ⱬ = ⱱxⱳ, gilt, er hat zwar den Betrag |ⱱ+ⱳ|, steht aber orthogonal zu ⱱ und ⱳ, hat in der ⱱ-ⱳ-Ebene keinen Wert. In diesem Sinn sind partielle, vollständige und transzendierende Metanegation zu verstehen.
Dies sind klar voneinander abgetrennte Negationsformen, ohne die eine Sprache nahezu sprachlos bleibt. Die Problematik der unbegrenzten vollständigen Negation wurde freilich erst mit Russell und Hilbert explizier- und relativ lösbar.

„Umfassende logische Welten kann es nicht geben, weil ihr Zustandsraum unbeherrschbar groß würde.“
So kann man das nicht sagen. Ich möchte darauf drei Antworten geben.
I Allgemein bekannt ist, daß es keine komplexen mathematischen Theorien geben kann, die zugleich vollständig und entscheidbar sind (Gödel). Das Ziel einer vollständigen und entscheidbaren komplexen Theorie ist mathematisch nicht erreichbar, und damit dem menschlichen Denken unzugänglich. Denn jede andere Form des komplexen Denkens ist schon a priori inkonsistent bzw nicht auf Konsistenz prüfbar. Wir können also nicht auf eine vormathematische Sprache zurückgreifen.
II Soweit ich auf ein konsistentes Axiomensystem zugreifen kann (bei komplexen Systemen ist oft nur eine relative Widerspruchsfreiheit in Bezug auf für widerspruchsfrei gehaltene Referenztheorien zu beweisen), habe ich einen beliebig erweiterbaren Rahmen für immer komplexere Theorien, denn ich kann jede vom Axiomensystem unabhängige (nicht selbstwidersprüchliche) Aussage (wie ihr Gegenteil) widerspruchsfrei dem System hinzufügen. Mit entsprechenden die Aussage bestätigenden empirischen Befunden komme ich so zu einer vollständigeren Theorie des Realbereichs.
III Allerdings ist die Nutzbarkeit/Anwendbarkeit der Theorie, je vollständiger sie ist, desto problematischer. So sind bspw die Differentialgleichungen, von denen wir annehmen, daß sie die Wirklichkeit beschreiben, nur noch unter immer einschränkenderen Voraussetzungen berechenbar. Der Erkenntnisgewinn wird immer teurer erkauft. Hier hilft nur der Einsatz der KI, die nicht intelligent ist, aber mit sehr komplizierten Modellen die theoretische Komplexität simulieren läßt (gewissermaßen ein Maschinenmodell des theoretischen Modells) und so mechanisch die Theorie in Näherungsverfahren überprüfbar macht. Damit nähert man sich einer Situation, in der verständlich wird, daß man nicht mehr nach der substantiellen Wahrheit einer Theorie, sondern nur noch nach der Praktikabilität des Berechnungsmodells fragt. Philosophisch gesehen ist das eine höchst problematische Entwicklung, aber nichts Neues, eine Verschiebung vom Verstehen zum Vernutzen. Ich denke, daß sich im heutigen Zeitgeist, an „vorderster Wissenschaftsfront“ viele dazu verführen lassen, dem Nutzen vor dem Erkennen den Vorzug zu geben.

Heinz Luediger
Heinz Luediger
3 Monate zuvor

Hallo Wolfgang,

Es hat gute Gründe, warum es auf der Erde keine tlön-artigen Sprachen gibt. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, daß seine Umwelt gezielt, d.h. selektiv beeinflussen kann. Unser Erkenntnissystem ist daher nicht irgendein System von Zuordnungen, sonder muß die Randbedingung der Kategorialität bzw. Orthogonalität des Erkannten erfüllen um den selektiven Zugriff auf das Erkannte zu gewährleisten. Das wiederum bedeutet, daß das selektiv Erkannte additiv sein muß. 

Soviel ich weiß, sind sich Mathematiker nicht einig darüber, ob Orthogonalität und Nullkorrelation völlig äquivalent sind. Sei‘s drum. Die räumliche Korrelation zweier getrennter Körper im euklidischen Raum ist null, solange sie kein gemeinsames Volumenelement beanspruchen. Unter dieser Bedingung sind Körper im euklidischen Raum additiv und folglich selektiv erkennbar und manipulierbar. Neben der Raumeigenschaft kommen jedem dieser Körper weitere orthogonale Eigenschaften zu, die jeweils additiv und folglich selektiv erkennbar und wenigstens prinzipiell manipulierbar sind. 

Damit ist ein starres aber beliebig erweiterbares kategoriales System gesetzt, in dem keine Eigenschaft eine andere beeinflussen kann. 

Hallo Wolfgang,

Du hast Recht, ‚Negation‘ ist zu kurz gegriffen und missverständlich. Was ich eigentlich meinte war Aristoteles‘ Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, den er als sicherstes logisches Argument erachtete. Der besagt, daß der Widerspruch NICHT ist. Diese Aussage ist negativ im Gegensatz zu seinem offensichtlich weniger sicheren Satz von der Identität, der affirmativ ist. Und Du wirst mir Recht geben, daß die Seele der Logik nicht die Negation, sondern die Affirmation ist.

Gödel (hatten wir schon) bestätigt meine intuitive Aussage, daß es keine beherrschbaren hoch-komplexen Systeme geben kann. Rein praktisch (nicht-formal) zeigt z.B. unsere positive Rechtssprechung mit ihrer galoppierenden Tendenz zu „Deals“, daß umfassende ‚logische‘ Systeme zu Widersprüchen und Unentscheidbarkeiten neigen. Deshalb werden schon lange große logische Systeme durch Hierarchiebildung vermieden, wobei die Hierarchieebenen funktional orthogonalisiert werden. 

Axiome hatten wir auch schon. Meine nicht neue Meinung: Zeig‘ mir deine Axiome und ich sag‘ dir, was du beweisen willst. An Aussagen, die zwar logisch korrekt konstruiert sind, aber keinen Gegenstand haben, kann niemand interessiert sein (das ‚niemand‘ sollte ich vielleicht zurücknehmen…?)

Zuletzt: ‚Form‘ (Logik) und ‚Inhalt, (Bedeutung) sind orthogonale Dimensionen. Damit sind sie nicht aufeinander reduzierbar. Eine affirmative, wie auch immer geartete, mathematische Relation zwischen beiden ist ausgeschlossen, weil ihr Skalarprodukt NULL ist. Die logische Beziehung zwischen beiden ist die Nullbeziehung. Über diesen Impass setzt sich die a-logische Metapher (Als-Ob) nicht nur spielend hinweg, es ist die Bedingung ihrer Existenz. 

Genau an dieser Stelle teilen sich die Auffassungen von Bernd, Wolfgang, Philipp und Dir (obwohl sie bei weitem nicht identisch sind) auf der einen Seite und mir auf der anderen. 

—————————-

Nachdem mE die gesamte Philosophie seit der Antike zurückführbar ist auf die Unvereinbarkeit von Sein und Werden, d.h. von SEIN und ZEIT, und, wenn ich mich recht erinnere, Du ein Evolutionist bist (Geist aus Materie!), bleibt Dir die Gretchenfrage nach dem, was die Zeit ist, natürlich nicht erspart. Wir sind ganz Ohr!

Heinz

Heinz Luediger
Heinz Luediger
3 Monate zuvor
Reply to  Heinz Luediger

Achtung copy and paste Salat. Vergiss den ersten Teil…

Heinz

Wolfgang Endemann
Wolfgang Endemann
3 Monate zuvor
Reply to  Heinz Luediger

In welchem Sinn komplexe, also ganzheitliche logische Systeme nicht beherrschbar sind, habe ich ja schon mit Bezug auf Gödel erläutert. Ich möchte aber schon hier auf den verräterischen Term „beherrschbar“ verweisen, er hat nichts zu suchen in der Philosophie (des Denkens), Wahrheit und Herrschaft widersprechen sich; man sagt zwar, „es möge Vernunft herrschen“, gemeint ist jedoch die sanfte Überzeugung des Passenden, kein Zwang.
Freilich erlaubt die Naturerkenntnis, da sie Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten ist (Gesetz ist Zwang), den erzwingenden Eingriff in die Natur, das ist der technische Verstand, die zielgerichtete Rationalität, in der sich Subjekt und Objekt asymmetrisch gegenüberstehen. Die reflektierende Vernunft dagegen erzeugt eine gedeihliche Ordnung von Subjekt und Objekt, dafür gibt es keinen objektiven Maßstab. Die Vernunft strebt nach dem Optimum des Verträglichen, und das sieht für jedes Subjekt ein bißchen anders aus.

Ich finde es ja sehr erfreulich, daß es dieses viel zu seltene Format gibt, wo nüchtern und wissenschaftlich orientiert grundlegende, vor allem erkenntnistheoretische Sujets zur Sprache kommen. Aber, wo Du es schon angesprochen hast, muß ich mich auch einmal auf das politische und lebenspraktische Glatteis begeben. Das Irrlicht crazy Trump hat eine Sache begriffen, die den Horizont der woken Moralisten übersteigt, nämlich daß ein deal besser ist als kein deal. Das reicht nicht, die Lebenswelt lebenswert zu machen, aber wenigstens reicht es zum Überleben, es ist ein notdürftiger Ausweg aus der bürgerlichen Aporie von Freiheit und Sozialität. Das ist die gesellschaftliche Vernunft, daß deals an die Stelle des Dogmatismus bzw. Zynismus des positiven Rechts gesetzt werden. Aber man sollte das Argument auch nicht überziehen, deals werden nötig, wo im Sinn des Freiheitsanspruchs subjektive „Wahrheiten“ kollidieren, ist man frei, muß man Dissens akzeptieren und kann ihn nur durch deals besänftigen. Aber im Fall naturwissenschaftlicher Objekte haben wir es nicht mit Subjekten zu tun. Erst auf einer hohen Reflexionsstufe kommen auch die erkennenden Subjekte mit ins Spiel, und damit die Notwendigkeit, sich zu einigen. Das ist dann die Stufe der Konsenstheorie der Wahrheit.

Mit „Hierarchiebildung“ meinst Du wohl den Russellschen Ausweg aus der mengentheoretischen Antinomie, der die Grenzenlosigkeit der Mengenbildung in der Typentheorie, also durch Hierarchisierung eindämmt. Die Mathematik ist dem übrigens iA nicht gefolgt.

„Zeig‘ mir deine Axiome und ich sag‘ dir, was du beweisen willst.“ Diese Meinung verstehe ich nicht, denn hier sind ja nicht formale, mathematische Theorien gemeint, über deren Wert ich auch noch etwas sagen will. Hier sind inhaltliche Theorien gemeint, in denen die Syntax interpretiert ist. Interpretationen können richtig, besser: angemessen oder falsch/unangemessen sein. Mit Interpretationen kann ich aber nichts beweisen. Es wäre absurd, mit der Empirie eine axiomatisierte Theorie beweisen zu wollen, man kann nur logisch-mathematisch die Konsistenz der Theorie beweisen, und das sagt umgekehrt nichts über die Wirklichkeit aus.
Die Forderung, man solle sich nur für Theorien mit einer inhaltlichen Interpretation, also solche, die sich mit handfester Wirklichkeit beschäftigen, interessieren, halte ich für unklug und kontraproduktiv. Wissenschaftlicher Fortschritt, insbesondere der wirklich gravierende, spektakuläre, ist in der Regel an tiefe Einsichten in unbedachte und unverstandene Strukturmuster gebunden, auf die wir unabhängig vom bisherigen Verständnis oder durch Abstraktion aus ihm kommen. Selbstverständlich stellt jede Naturwissenschaft Theorien über einschlägige inhaltliche Grundbegriffe auf. Aber die Basiswissenschaften aller Wissenschaften sind Logik und Mathematik, die wohldefinierte Struktur muß interpretationsunabhängig sein. Der obige Satz würde auf einen Verzicht auf Mathematik hinauslaufen. Das kann nicht Dein Ernst sein.

Zum Letzten. Ich glaube aber nicht, daß ich damit irgend jemandem etwas neues erzähle.
„Es gibt kein Sein ohne Werden und kein Werden ohne Sein.“ Das wird mancher einschränken wollen auf: „“…“ im Denken“. Da sind wir bei Kants „Raum und Zeit“ als synthetischen Apriori des Denkens, und moderner: „Raum als mit Dingen gefüllter, durch Dinge im Raum definierter, strukturierter, und Zeit“, relativistisch die Einheit der Raumzeit mit einer bestimmten Metrik.
Dieses Sein ist ein dynamisches Sein, und es hat sogar eine Richtung, durch die Entropie. Daher hat Zeit nicht nur eine relativistische, sondern auch eine absolute Komponente, sie ist gerichtet, ein irreversibler Wandel, der sich im biologischen Werden spiegelt, kurz: biologischer (lokaler) Ordnungsaufbau im physikalischen Ordnungszerfall.

LG

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
3 Monate zuvor

Bewusstsein ist zunächst ein Zustand, den wir in unterschiedlichen Dimensionen beschreiben können: etwa als wach – komatös, bewusst – unbewusst, fokussiert – diffus, oder anhand anderer funktionaler Gegensätze, je nachdem, welcher Aspekt hervorgehoben wird. Diese Zustände sind nicht nur subjektiv erfahrbar, sondern lassen sich auch neurophysiologisch messen und empirisch einordnen.

Alles, was darüber hinausgeht und Bewusstsein in eine ontologische Sphäre hebt – sei es als eigenständige Substanz, als metaphysisches Prinzip oder als transzendentale Grundlage – überschreitet die Ebene wissenschaftlich begründbarer Beschreibung und bewegt sich notwendig im Bereich des Metaphysischen, Esoterischen oder Religiösen.

Diese Abgrenzung ist keineswegs Ausdruck eines naiven Positivismus. Sie gründet vielmehr auf einer metatheoretischen Einsicht: Wissenschaftliche Theorien müssen die Trennung von Beschreibungsebenen achten, um kategoriale Fehler zu vermeiden.

Ontologien, die über eine solche deskriptive Rahmung hinausgehen und versuchen, Bewusstsein durch rein kategoriale Erweiterungen (z. B. „Bewusstsein als Eigenschaft der Materie“ oder „Bewusstsein als universales Prinzip“) zu definieren, bleiben letztlich sprachliche Konstruktionen ohne empirische Fundierung. In aller Regel beruhen sie auf unreflektierten Vermischungen von Abstraktionsebenen, Beobachterperspektiven und Kategoriesystemen. Dadurch entsteht keine Erklärung, sondern eine semantische Illusion: ein Geflecht von Assoziationen, das als ontologische Aussage missverstanden wird.

Die Philosophie des Geistes ist durchzogen von solchen semantischen Illusionen. Immer wieder werden metaphysische Setzungen nach Belieben eingeführt und als theoretische Probleme deklariert: sei es in Gestalt des sogenannten hard problem , des klassischen Leib-Seele-Problems, der Reduktion auf „physikalische Information“, der Hypothese eines „Global Broadcasting“, der Idee homunkularer Prädiktion, der Reduktion des Geistes auf eine „Rechenmaschine“ oder auch seine willkürliche Ausweitung auf die Umwelt verwischt.

Allen diesen Modellen ist ein strukturelles Defizit gemeinsam: Sie projizieren Kategorien aus einem bestimmten Diskursbereich (Physik, Semantik, Logik, Technik, Systemtheorie) in ein anderes, ohne die kategorialen Grenzen zu reflektieren. So entsteht nicht Erkenntnis, sondern eine semantische Scheinwelt, in der die Begriffe selbst die Probleme erzeugen, die sie vermeintlich zu lösen beanspruchen.

Neben diesen kategorialen Illusionen gibt es noch eine weitere Neigung, die nicht minder problematisch ist: die Suche nach einer vermeintlich „tieferen Wahrheit“, die das unmittelbar Erfahrbare noch einmal hinterfragt – jedoch nicht auf der Basis begrifflicher oder empirischer Analyse, sondern aus reiner Intuition heraus, unreflektiert und letztlich konzeptlos. Diese Haltung beruht auf der Annahme, dass das Gegebene nur „Oberfläche“ sei, hinter der sich ein eigentlicher, verborgener Kern verberge, der durch spekulatives Denken oder innere Schau erschlossen werden müsse. Solche Versuche sind nicht selten in mystifizierenden oder esoterischen Kontexten zu finden, finden aber auch in philosophischen Traditionen ihren Ausdruck, wenn etwa die Abwertung des Phänomenalen zugunsten eines unbestimmten „Seins“, „Geistes“ oder „Transzendenten“ betrieben wird. Doch auch hier gilt: aus der Abwesenheit von Konzepten und Methoden wird keine Erkenntnis gewonnen, sondern lediglich die Illusion einer Tiefe erzeugt, die allein aus dem Gefühl des Unzulänglichen gespeist wird.

Wolfgang Endemann
Wolfgang Endemann
3 Monate zuvor

Für mich ist das ein naturwissenschaftliches Glaubensbekenntnis, und daher, ob richtig oder falsch, nicht sinnvoll zu diskutieren. In seiner Apodiktik allerdings merkwürdig abgeschlossen und vormodern. Da bestehen keine Unterschiede mehr zwischen religiös, esoterisch und metaphysisch, nicht einmal zwischen formal und inhaltlich, alles derselbe Kram, worüber man nicht sprechen kann und daher schweigen sollte. Das ist die bewußte Einschränkung auf instrumentelle Vernunft. Nun, immerhin ehrlich, Wissenschaft als Beschreibung einer nicht verstehbaren Welt, also wer’s mag.

Absolut ungerechtfertigt bzw nur auf einen imaginären Gegner beziehbar, also ein Kampf gegen Windmühlen ist die Aussage
„die Suche nach einer vermeintlich „tieferen Wahrheit“, die das unmittelbar Erfahrbare noch einmal hinterfragt – jedoch nicht auf der Basis begrifflicher oder empirischer Analyse, sondern aus reiner Intuition heraus, unreflektiert und letztlich konzeptlos. Diese Haltung beruht auf der Annahme, dass das Gegebene nur „Oberfläche“ sei, hinter der sich ein eigentlicher, verborgener Kern verberge, der durch spekulatives Denken oder innere Schau erschlossen werden müsse.“
Ich kenne niemanden, der das Denken nicht auf instrumentelle Vernunft beschränken will und darum Esoterik und Religion Tür und Tor öffnet, das gilt auch für metaphysische Philosophien, denen ich nicht anhänge, denen ich aber auch nicht auf die Idee käme, diesen Vorwurf zu machen. Das naturwissenschaftliche Denken gipfelt in der mathematischen Modellierung. Ihre Begriffe müssen verstanden werden, ihre semantische Bedeutung (das muß man nicht „tiefere“ Wahrheit nennen, es ist aber oft eine qualitativ anspruchsvollere Wahrheit), übrigens auch, ein unverzichtbarer Aspekt des Verstehens, wenn sich diese Bedeutung in der Erfahrungswelt nicht findet. Dafür ist Riemanns Entdeckung einer allgemeineren Geometrie ein besonders schönes Beispiel. Ein Meilenstein in der Entwicklung des Denkens, der irgendwann auch eine bedeutende Anwendung fand.

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
3 Monate zuvor

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich in letzter Zeit ein derartiges geistiges Wirrwarr gelesen habe. Mehr lässt sich nicht erwiedern.

Wolfgang Endemann
Wolfgang Endemann
2 Monate zuvor

So antworten manche, die einen Text nicht verstehen, das dem Textautor zurecht oder zu unrecht zur Last legen und unbedingt widersprechen wollen. Man hätte einfach den Hauptpunkt, den man für unsinnig hält, erwähnen und klarstellen können. Ob das die Diskussion belebt hätte, kann man nicht voraussagen. Aber es ist eine Stilfrage.

Heinz Luediger
Heinz Luediger
3 Monate zuvor

Hi Wolfgang,

die pessimistische Induktion sagt mir folgendes: das Human Genom Projekt trat mit dem Versprechen an, Erbkrankheiten auszurotten und endete statt dessen mit billigen Gen-Sequenzieren. Das Human Brain Projekt trat mit dem Versprechen an, einen funktionalen Teil eines Gehirns in-silico zu bauen und endete statt dessen mit superschnellen Rechnerarchitekturen. In den 1990er Jahren trat Daniel Dennett an um, mit einem C64 einen wenigstens rudimentär bewußten Roboter namens COG zu bauen. Was ist bis heute passiert? Kein künstliches Bewusstsein in Sicht! Warum? Weil die Logik eine menschliche Schöpfung ist, die nicht zirkulär auf die Konstitution des Menschen angewandt werden kann ohne Absurditäten heraufzubeschwören. Um das zu erkennen, ist das philosophische Eis, auf dem sich die Neurowissenschaften bewegen, aber viel zu dünn.

Bleibt also die Frage: wenn schon kein künstliches Bewusstsein, qui bono?

Heinz

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
3 Monate zuvor
Reply to  Heinz Luediger

Heinz, wenn man deine pessimistische Induktion ernst nimmt, dann hätten wir auch nie Elektrizität, Antibiotika oder Raumfahrt entwickeln dürfen – alles Projekte voller gescheiterter Anläufe. Aus Fehlschlägen eine Unmöglichkeit zu machen, ist selbst die eigentliche Absurdität.

Heinz Luediger
Heinz Luediger
2 Monate zuvor

Wolfgang,

ich bin der letzte der etwas für unmöglich erklärt, das liegt in der Offenheit meines kategorialen Ansatzes…aber ich gehöre nicht zu denen, die zu Fuß zum Mond wollen und, nachdem sie wieder von einem hohen Baum herabgestiegen sind, sagen, daß soweit alles nach Plan verläuft.

Ich glaube, Du verstehst was ich meine.

Heinz

Wolfgang Endemann
Wolfgang Endemann
2 Monate zuvor
Reply to  Heinz Luediger

Ich möchte Dir hier antworten, auch wenn das etwas off topic ist (bezüglich des Beitrags, nicht für ein philosophisches Forum).

Ich teile Deine technologische Skepsis. Aber das führt mich nicht zum Pessimismus, denn ich habe nie, seit ich der kindlichen Grenzenlosigkeit entwachsen bin, in Technik mehr gesehen als eine nützliche und nicht ungefährliche Sache, wobei ich alles in allem den technologischen Fortschritt begrüße. Allerdings befinden wir uns, das ist nicht nur meine Meinung, sondern wird von immer mehr klugen Leuten unüberhörbar artikuliert, schon länger in einer wirklich gefährlichen Schieflage, der globale Klimawandel ist zu einem großen Teil die Folge einer unreflektierten, im Dienste partikularer Interessen forcierten Technologieentwicklung, die den natürlichen Reichtum der Diversität des Lebens schädigt, viele Lebensarten vernichtet und auch den Menschen stark bedroht. Selbstverständlich ist es Unsinn, der Technik die Schuld zu geben, wir werden noch viel Kraft darein stecken müssen, die Technologie technologisch umzubauen. Aber dazu benötigen wir das, was wir bisher vernachlässigt haben, die Entwicklung einer das Ganze in den Blick bekommenden und die menschlichen Ziele neu reflektierenden, den technologischen Verstand übersteigende Vernunft. Denn das ist die Schieflage, wir denken viel zu instrumentell, zu wenig integral.

Ein besonders erschreckendes Beispiel hast Du angesprochen, die Entwicklung der sogenannten KI. Nicht, daß „KI“ kein extrem nützliches Werkzeug sein kann. Das Problem ist nicht die Atombombe, sie kann vielleicht einmal unser Leben schützen, wenn ein großes Masseobjekt aus dem All auf uns niederzustürzen droht und diese Bombe das verhindern kann. Aber wir würden doch nicht die Bombe oder besser gesagt den schön leuchtenden roten Knopf in Kinderhand legen, oder? Gewaltige Technologien brauchen entsprechend vernünftige Menschen, die über sie verfügen. Es ist zu befürchten, daß den nerds, die die komplizierte Technik einsetzen und bedienen können, so wie der Allgemeinheit die Vernunft fehlt, die Folgen zu überblicken.

Bei KI zeigt sich besonders krass die allgemeine Gefahr, daß man Dinge machen kann, die man vernünftigerweise nicht verantworten kann. Das Denken hat ja zwei Seiten, eine mechanische und eine kreative. Das mechanische Denken kann von der KI extrem viel besser simuliert werden als es Menschen je könnten. Das verführt schon jetzt dazu, dieses mechanische Denken den Maschinen zu über- und bei sich selbst verkümmern zu lassen. Das hat aber auch Auswirkungen auf das kreative Denken. Es wäre nicht so schlimm, wenn man an diesem sinngebenden und reflektierenden Denken intensiv arbeiten würde. Man braucht vielleicht kein großes Einmaleins beherrschen, das kleine tut’s auch; aber man braucht schon ein Gefühl für Größenordnungen, und wichtiger als die Speicherung der Einmaleins-Tabelle ist das Verständnis der Linearität in der elementaren Arithmetik. Dieses Verständnis aber hängt nicht unwesentlich von der Praxis des mechanischen Rechnens ab. Wir können heutzutage beobachten, wie wir schleichend zu einer Gesellschaft der verbalen und mathematischen Analphabeten werden. Das kann man sich nicht damit schönreden, daß die Kompetenzen im Umgang mit den informationsverarbeitenden Maschinen gerade bei unseren Jüngsten durchaus bemerkenswert wachsen.

Wir haben es jedoch in der Hand, die Schieflage zu überwinden. Daran können nur wir selbst uns hindern, es ist kein unvermeidliches Schicksal. Und, wie gesagt, die Entwicklung der Menschheit ist bislang immer noch eine Erfolgsgeschichte, wir haben trotz der dunklen Wolken Grund zu hoffen, daß es so bleibt.