Gastbeitrag von Dr. Bernhard Weßling: „Ursprung von Zufall, Komplexität, Krisen und Zeit“
Der folgende Gastbeitrag von Herrn Dr. Bernhard Weßling ist diesmal kein „Zufallsprodukt“, wie sein erster bei mir erschienener Gastbeitrag „Was für ein Zufall!“. Es geht diesmal nämlich um die konsequente Fortführung und Erweiterung seines in der 1. Auflage seines gleichnamigen Buches, das nun als 2. Auflage mit dem Untertitel „Zum Ursprung von Unvorhersehbarkeit, Komplexität, Krisen und Zeit“ erschienen ist.
Herr Weßling weitet hierin sein bereits erläutertes, neuartiges Konzept zu Zufall und Komplexität aus und untersucht dabei die grundlegende Ursache von Krisen. Zu diesem Zwecke verwendet er ebenfalls wiederum das Konzept der Entropie um es als Kriterium für Nachhaltigkeit zur Diskussion zu stellen.
Die in seinem neuen Buch enthaltenen Thesen würde ich hier auf meinem Wissenschaftsblog ebenfalls gerne einmal zur Diskussion stellen. Daher bin ich nun auf mögliche, auch zufällige Resonanzen sehr gespannt und freue mich – ebenso wie Herr Dr. Weßling – über zahlreiche Kommentare. Aber hier zunächst einmal sein Thesenpapier, das natürlich nur einen Ausschnitt darstellt und nicht die informative und argumentative Tiefe seines Buches abbilden kann:
Bernhard Weßling: „Was für ein Zufall! Zum Ursprung von Unvorhersehbarkeit, Komplexität, Krisen und Zeit“ – thesenartige Zusammenfassung
Mit den folgenden Thesen lässt sich der rote Faden des neuen Buches beschreiben:
1) Leben wir wirklich derzeit („erstmalig in der Geschichte der Menschheit“) in einem neuartigen Zeitalter der „Polykrisen“, der „Multikrisen“? Das habe es noch nie gegeben, kann man fast überall lesen. Dem widerspreche ich und weise mit historischen Fakten nach, warum Krisen und „Polykrisen“ – so schwer lösbar, so kompliziert oder gar existenziell bedrohlich und schrecklich sie sind – ganz normale Begleiterscheinungen sämtlicher Vorgänge im Universum und auf der Erde sind.
– Derzeit bedrohen uns v. a. die Krise der Artenvielfalt und der Klimawandel (abgesehen von politischen und wirtschaftlichen Krisen, die im Buch nicht näher behandelt werden, aber ebenso „normale“ Phänomene in der Entwicklung der Menschheit sind).
2) „Zufall und Komplexität sind Geschwister, und Krisen sind ihre Begleiter,“ mit diesem Zitat aus dem Buch (siehe Einführung) fasse ich die Verwandtschaft der ersten 3 Phänomene zusammen. Sie haben auch die gleichen Wurzeln wie die „Zeit“. Diese liegen in den Nicht-Gleichgewichts-Eigenschaften unserer Welt, die seit der Entstehung des Universums dessen Entwicklung diktieren, und somit auch die Entwicklung des Lebens auf der Erde und all der Komplexität, die wir überall beobachten. Im Buch wird dies Schritt für Schritt erläutert und ist einfach verständlich.
3) Die Tatsache, dass Krise „normal“ sind, ändert nichts daran, dass wir alles dazu unternehmen müssen, um die aktuelle Krise der Artenvielfalt und des Klimas zu lösen, im Gegenteil. „Alles“ heißt aber nicht „irgend etwas“, nur um wenigstens irgend etwas zu unternehmen, sondern es muss auch nachhaltig sein. Was aber bedeutet „nachhaltig“? Qualitativ formuliert: Eine Maßnahme zur Eindämmung des Klimawandels darf nicht zu schwerwiegenden Kollateralschäden in anderen Bereichen der Umwelt führen.
– Wie aber messen wir, wie beurteilen wir objektiv, ob ein Schaden „schwerwiegend“ ist oder nicht?
4) Ich schlage in Kapitel 7 des Buches vor: Entropie kann als Kriterium für Nachhaltigkeit dienen. Hierzu darf Entropie nicht (wie allzu vereinfachend üblich) als „Maß für Unordnung“ verstanden werden, sondern richtigerweise vollständig als „Maß für minderwertige (nicht nutzbare) Energie“, und weil Materie eine andere Form von Energie ist, manifestiert sich Entropie auch in Form minderwertiger (nicht oder nur schwer – also mit übermäßig hohem Enrgieaufwand – nutzbarer) Stoffe: Abfälle, Abraum, Verbrennungsrückstände, Abwasser, Abwärme, verschmutztes Grundwasser, Feinstaub, CO2, Korrosion, uvam. Ebenso manifestiert sich Entropie im Verlust von Funktionsfähigkeit komplexer Systeme (wie z. B. bei der Zerstörung von Ökosystemen).
5) Mit Hilfe eines grundlegenden Prinzips der Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik (dem „Entropieexport“) wird in Kapitel 7 einfach nachvollziehbar berechnet, ob technologische Verfahren zur Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre oder aus Industrieabluft nachhaltig sind. Es zeigt sich, dass DAC / CCS und ebenso die chemische Nutzung von CO2 (CCU) in krassem Umfang nicht nachhaltig sind, sondern massive Kollateralschäden in der Umwelt verursachen.
– Diese thermodynamisch theoretisch hergeleitete These wird im Buch mit zahlreichen Daten und Fakten zum Energiebedarf dieser Verfahren aus unterschiedlichsten Studien bestätigt.
6) Als Alternative zu industriellen Maßnahmen wird in Kapitel 8 die Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre und seine Speicherung in den Böden durch die Vorgänge in verschiedensten natürlich arbeitenden Ökosystemen und zusätzlich auf Äckern und Weiden biologisch arbeitender landwirtschaftlicher Betriebe dargelegt; die zahlreichen Quellen zeigen, dass die Vorgänge in den Böden, die Kohlenstoff aus CO2 langfristig speichern, bisher nicht richtig verstanden sind und deshalb unterschätzt werden. Deshalb wird immer noch einseitig und fälschlich CO2-Speicherung durch Aufforstung von zumeist Monokulturen mit schnellwachsenden Bäumen beworben und betrieben, was ebenfalls alles andere als nachhaltig ist.
– Die Ökosysteme (auch auf biologische bewirtschafteten Äckern / Weiden) die CO2-Entnahme und -Speicherung ausführen zu lassen, stabilisiert zugleich die Artenvielfalt und regeneriert sie.
– Dem Klimawandel und dem Verlust der Artenvielfalt muss gleichzeitig und mit den gleichen Maßnahmen Einhalt geboten werden. „Der Klimawandel entscheidet darüber, wie wir leben, der Artenschwund entscheidet darüber, ob wir leben.“ (Katrin Böhning-Gaese, Leiterin des Forschungszentrums Klima und Biodiversität, Senckenberg-Naturkundemuseum Frankfurt a. M.)
7) An das tiefere Verständnis der Entropie und der Grundprinzipien der Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik führt das neue Buch in locker erzählender Form Schritt für Schritt in den ersten 6 Kapiteln heran, über den „Zufall“ und die prinzipielle Unvorhersehbarkeit der Zukunft zur Komplexität und zum tieferen verständnis der Entropie. Diese sind in Thesenform hier nachzulesen:
– https://www.bernhard-wessling.com/thesen_zum_buch oder
– https://philosophies.de/index.php/2022/11/12/was-fuer-ein-zufall/.
Damit wird auch klar, dass nicht-lineares Verhalten der dynamischen Prozesse in unserer Welt und ihre komplexen Wechselwirkungen genauso wie den Zufall auch Krisen erzeugen, die somit die gleichen Wurzeln haben wie Zufall und Komplexität.
8) Im Buch wird großen Wert darauf gelegt, dass Reduktionismus keine für das Verständnis der komplexen Nicht-Gleichgewichts-Welt hilfreiche wissenschaftstheoretische Herangehensweise ist. Unter „Reduktionismus“ fällt auch und besonders der Traum der meisten Physiker, wonach „sehr bald“ eine Weltformel auf quantenphysikalischer Basis zu erwarten sei. Die neue Theorie von Jonathan Oppenheim zeigt jedoch, dass die Gravitation nicht quantisiert ist, also eine Theorie der Quantengravitation nicht erforderlich und nicht möglich ist. Diese neue Theorie wird hinreichend verständlich erläutert, sodass ebenso klar wird: Der Zufall kann nicht durch die Unschärfe der Quanteneigenschaften verursacht werden; dem steht die Dekohärenz entgegen, die schon lange bekannt ist und durch Oppenheims neue Theorie nun auch von anderer Seite bestätigt wurde. Die Theorie bestätigt auch die von mir dargestellte Verbindung von Zufall und Zeit.
9) Es wird an vielen Stellen deutlich gemacht, dass „Emergenz“ ein entscheidendes Phänomen im Aufbau immer komplexerer Systeme ausgehend von den Atomen ist. Auch die Zeit, so wird in den abschließenden Kapiteln 9 und 10 deutlich, ist ein emergentes Phänomen. Sie entsteht durch den Fluss der Entropie durch den Raum und ist gewissermaßen das „Flussbett“, eine „Matrix“, worin Entropie fließt. Zeit ist proportional zum Entropiefluss, also gibt es keine absolute Zeit, sondern in jedem Subsystem seine eigene Zeit.
– Daraus folgt die Möglichkeit der experimentellen Überprüfung meiner Hypothese im Weltraum bei hohen Geschwindigkeiten bzw. geringer Gravitation (Relativitätstheorie).
10) Das Empfinden von Zeit bei uns Menschen darf nicht verwechselt werden mit dem Wesen der Zeit, genausowenig, wie wir unser Empfinden von Farben und Formen nicht mit dem Wesen des Lichts (elektromagnetische Wellen) bzw. mit dem Empfinden von Geräuschen und Tönen mit dem Wesen des Schalls (Luftdichteschwankungen) in einen Topf werfen dürfen.
© Einleitung: Dirk Boucsein, Text: Dr. Bernhard Weßling
Klasse Frage: „Wie aber messen wir, wie beurteilen wir objektiv, ob ein Schaden „schwerwiegend“ ist oder nicht?“
Ich würde dazu anschließen mit der Frage: „Wie können Universitäten helfen, Leistung zu messen“ … und wie diese gerade in Zeiten von KI honorieren? Man kann fehllaufen, doch warum Fehlläufer für Fehlleistung honorieren? In, mit und durch die institutionelle Wissenschaft bzw. durch ihr Verhalten vor allem zur Geisteswissenschaft stoßen wir massiv auf Fehlleistungen, welche eben zu schwerwiegenden Schäden führen. Die Arbeit mit dem Titel „Zwergenaufstand“ https://www.it-ministerium.de/link060225/Zwergenaufstand.pdf zeigt dieses Phänomen bzw. will es aufzeigen. Danke über den obigen Artikel und für die Inspiration!
Sehr geehrter Herr Lehmann, vielen Dank für Ihren Dank. Es freut mich, daß mein Beitrag sie inspiriert hat, vielleicht möchten Sie ja noch tiefer ins Buch einsteigen, wozu ich Sie natürlich einlade, denn darin warten noch mehr Inspirationen. Jedoch muß ich gestehen, daß ich zu Ihrer Frage keinen Antwortbeitrag liefern kann. Ich kenne mich viel zu wenig mit der universitären(institutionellen) Wissenschaft aus, habe mich eher als aktiv forschender Wissenschaftler von außen mit den universitären Forschern auseinandergesetzt (ich habe in meinem mittelständischen Unternehmen geforscht, Grundlagen- und angewandte Forschung betrieben, siehe https://www.bernhard-wessling.com). In Kapitel 5 meines Buches setze ich mich mit der Rolle und dem Wesen von Paradigmen auseinander, aus eigener leidvoller Erfahrung und basierend auf Thomas Kuhns Buch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“, aber auch das in den Naturwissenschaften und nicht in der Philosophie (ich streife ja die Philosophie nur).
Vielen Dank für Ihren Text! Ich allerdings bin E-Techniker und habe deshalb normalerweise erst recht nichts mit Philosophie zu schaffen. Wie es der Zufall 🙂 so will, glaube ich an den Schmetterlingsschlag (Chaostheorie) und deshalb auch an s.g. „freie Radikale“, zu denen ich den Philosophiekongress im Oktober gern zählen möchte. Zufälle, Schicksale, Fügungen lassen sich demnach schlecht Fakten zuordnen, eher scheint der Glaube zum Ziel zu führen. Sie kennen das sicher aus Ihrer eigenen wissenschaftlichen Arbeit und nur so konnten und wollten Sie eigene Wege gehen. Mein neues Buch ist in PDF-geschrieben und das Baisimaterial für Papier ist ebenso ein Baum (Baumgleichnis) : https://www.it-ministerium.de/190425/Baumgleichnis.pdf
Ich wollte schon seit einger Zeit einen Artikel über (institutionelle) Wissenschaftskorruption schreiben und wie sie in den modernen Zeiten schadet und bereitete schon gut dazu vor. Es braucht aber noch, damit es qualitativ wird. Vielleicht haben wir hier eine gemeinsame Arbeitsbasis zu Ihrem Thema/Buch.
Nun, als Chemiker bin ich ungefähr genauso weit von Philosophie entfernt wie Sie als E-Techniker. Den Zufall (an Schicksal und Fügungen glaube ich als Naturwissenschaftler nicht) habe ich in meinem Buch (ich vermute: erstmalig; ich kenne jedenfalls keine andere Quelle) auf thermodynamischer Basis untersucht, genauer: auf nicht-gleichgewichts-thermodynamischer Basis. Natürlich haben meine Erkenntnisse auch philosophische Implikationen, aber die Grundlage ist Naturwissenschaft.
Eine Zusammenfassung können Sie hier https://philosophies.de/index.php/2022/11/12/was-fuer-ein-zufall/ finden, aber für eine echte Diskussion wäre es schon angemessen, wenn Sie sich das gesamte Buch (die neue Auflage, siehe https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-46427-1) zu Gemüte führen. Ich diskutiere ungern über unvollständig wahrgenommene Darlegungen, die Thesen sind echt nur als anregende Einführung gedacht, nicht als vollkommene, ausreichende Diskussionsbasis.
Lieber Herr Lehmann,
vielen Dank für Ihrem bemerkenswerten Kommentar auf meiner Seite, über den ich mich sehr gefreut habe.
Ich muss Ihnen gestehen, dass ich auf Ihre berechtigte Frage „Wie können Universitäten helfen, Leistung zu messen“ … und wie diese gerade in Zeiten von KI honorieren?“ auch keine passende Antwort geben kann. Das ist und wird ein immer größeres Problem die eingereichten Texte auf Ihren urheberrechtlichen Gehalt oder individuelle Leistung messen und bewerten zu können.
Mittlerweile sind sogar Master- oder Doktorarbeiten erlaubt, die mit Hilfe von KI-Systemen hergestellt worden sind, erlaubt und zugelassen. Man muss nur noch als Quelle ordnungsgemäß angeben, dass sie unter deren Zuhilfenahme erstellt worden sind. Aber vielleicht darf man das Ganze auch gar nicht so kritisch sehen, da die Maschine eben nur den Text erstellt hat und nicht den Inhalt. Die Forschungsergebnisse werden dann einfach nur durch die KI verschriftlicht. Das Denken können sie ja, zumindest zum momentanen Zeitpunkt, noch nicht für uns übernehmen. Aber die weitere Entwicklung bleibt spannend.
In diesem Sinne alles Gute auch für Ihren „Zwergenaufstand“ und
liebe Grüße
Dirk Boucsein
Wenn Zufall etwas nicht Vorherbestimmbares sein soll, so könnte ich ihn mit der Zukunft verbinden, die uns im Ungewissen über bestimmte Dinge lässt.
Verwende ich den Zufall als Produkt dessen, was mir zufällt, so könnte ich ihn mit einem gewissen Vortrag verbinden, der darin enthalten ist und auf Resonanze oder Erweiterung wartet.
Ist Zufall jedoch einer bestimmten Konstante unterworfen, so bleibt er dieser Konstante verbunden, bis er sich erklären lässt, oder sich in ihr auflöst. Durch die Konstante entstünde als Konsequenz eine Gewissheit über den Zufall, der sich durch die Gleichzeitigkeit all der Inhalte, die sich verifizieren ließen, auflöst und neu definiert werden müsste.
Im Weiteren geht die Aufklärung aus Ihrem Text über meinen geistigen Horizont hinaus und ich möchte mich einzig dem Zufall und den Möglichkeiten widmen, die ihm gemäß meiner begrenzten Auffassung anhaften. Ich hoffe damit die Diskussion über das Thema „Zufall“ und seine Verortung in der Wissenschaft bereichern zu können.
Vielen Dank. Abgesehen davon, dass der beste Zugang zu dieser Frage für Sie natürlich darin bestünde, sich das gesamte Buch anzuschauen (ich garantiere Ihnen: es geht nicht über Ihren Horizont hinaus), empfehle ich, wenigstens die von mir genannten Links anzuschauen:
– https://www.bernhard-wessling.com/thesen_zum_buch oder
– https://philosophies.de/index.php/2022/11/12/was-fuer-ein-zufall/
Vielen Dank, Herr Weßling!
Ich überlege ernsthaft, mir dieses Buch in der 2. Auflage zu bestellen, denn es betrifft genau die zwei Themen (Entropie und Zeit), die mich in den vergangenen 15 Jahren so fesselten, dass ich kaum mehr Zeit für meine alltäglichen Arbeiten übrig hatte. Beim Hineinlesen über Ihre Website wurde mein Interesse bereits geweckt. Sie schreiben sehr verständlich für mich, sodass ich gerne lese, was Sie geschrieben haben. Auf LinkedIn folge ich Ihnen jetzt, damit ich keine Neuigkeiten über Ihre Themen verpasse.
das freut mich natürlich (jeder Buchautor freut sich, wenn sein Buch Interesse findet), und nach der Lektüre dürfen Sie gern kritisch kommentieren, ob ich recht damit hatte zu sagen: „ich garantiere Ihnen: es geht nicht über Ihren Horizont hinaus„. Viel Vergnügen beim Lesen!