Social Cocooning

Social Cocooning

„Social Cocooning“ – die „neue Lust an der Einsamkeit“ oder an dem „kultivierten Alleinsein“

Nachdem die ach so heimelige Weihnachtszeit mit all ihrer sozialen und gesellschaftlichen „Hyggeligkeit“ (auch so ein neues Modewort, allerdings aus dem Dänischen ;-)) im trauten Familien- und Freundschaftskreis vor dem genusslastbiegenden Essens- und dem geschenkeberstenden Gabentisch angebrochen ist, wäre jetzt vielleicht noch einmal der richtige Moment des Innehaltens. Aber „oh je“, von wegen „Innehalten“ und „O du Fröhliche…“ in gemeinsamer Trausamkeit unter dem „Oh Tannenbaum,…“. Einigen Mitmenschen ist es mittlerweile einfach schlichtweg zu viel mit dieser „Menschentümelei“; diese müssen deshalb noch nicht einmal pathologische Soziopathen, bärbeißige Misanthropen oder eingefleischte Singles sein. Nein, im Gegenteil, es ist scheinbar diese neue Lust, an der mehr oder weniger frei gewählten Einsamkeit, als kultiviertes Alleinsein,  dem sogenannten „Social Cocooningals neuer Zukunftstrend. Diesem aktuellen „Zeitgeist-Phänomen“ möchte ich aus gegeben Anlass daher einmal im folgenden Essay im Rahmen einer sozialtheoretischen Analyse auf die Spur gehen.

Der Menüvorschlag zum „Social Cocooning“

Als „Vorspeise“ oder „kleinen Gruß aus der Trend-Küche“ soll zunächst einmal der Begriff „Social Cocooning“ geklärt und erläutert werden. Darauf soll als „Hauptgericht“ die philosophischen Grundlagen mit Hilfe des „neomarxistischen HoffnungsträgersErnst Bloch folgen. Schließlich als „Dessert“ werden dann die Gedanken und Aphorismen des „misanthropischen WillenskämpferArthur Schopenhauer kredenzt. Na dann, einen guten Appetit und eine fröhliche Bescherung!

Die Vorspeise als „kleiner Gruß aus der Trend-Küche“ zur Begriffsklärung

Der Begriff Social Cocooning“ stammt laut dem „zukunftsInstitut“ aus der „Liste der „Wörter des Jahres 2016“ des britischen Wörterbuchs Collins („Top 10 Collins Words of the Year 2016“, collinsdictionary.com, HarperCollins Publisher)“, da unter den Top Ten die beiden Begriffe „Hygge“ und „JOMO“ gelistet werden. Hygge ist:

Gemütlichkeit, Gefühl von Wohlbefinden, Hygge impliziert eine komplexe Emotion und Situation, die nur auf der Grundlage einer Wir-Qualität entstehen kann Entspannung sowie angenehme Atmosphäre, besonders in Gemeinschaft mit Familie oder Freunden und gerne verbunden mit gemeinsamen Mahlzeiten, Spielen oder Vergleichbarem (Store norske leksikon, snl.no/hygge). Hygge ist also mehr als das Aufsuchen eines Ruheortes, um Erholung zu erhalten, […]“ (https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/lebensstile/die-neue-heimeligkeit/)

Sogar in die deutsche Sprache hat es der heimelige Begriff als „hyggelig“ geschafft und scheint laut den Trendforscher*innen ein soziologisches „Zeitgeist-Phänomen“ der Zukunft zu werden. Ergänzt wird dieser Begriff allerdings noch durch den ebenso innovativen Ausdruck der Jugendsprache „JOMO„. Dieser scheint aber irgendwie gar nicht so recht in die kuschelige Atmosphäre der Gemeinsamkeit in der trauten „Peer-Group zu passen, da er das vermeintliche Gegenteil von sozialer Interaktion darstellt:

JOMO ist die Abkürzung für „The Joy Of Missing Out“ (Freude am Verpassen) und beschreibt den Trend, dass immer mehr Menschen jeglichen Alters das Risiko eingehen, einen tollen Event zu verpassen, um stattdessen die Zeit beschaulich zu verbringen. Angelehnt ist das Kürzel an FOMO für „Fear Of Missing Out“ – einer Verpassensangst, die seit der Eventisierung und Verbreitung von sozialen Medien um sich greift. Statt der Suche nach Resonanz im Außen, beim Weggehen oder der Selbstdarstellung, wird beim Joy Of Missing Out erlebt, dass die Resonanz nicht in einer inszenierten, temporären Event- und Freizeitkultur zu finden ist.“ (https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/lebensstile/die-neue-heimeligkeit/)

Aber genau in diesem Spannungsverhältnis zwischen „hyggeliger Interaktion“ und „jomotischer Isolation“ liegt der Begriff des „Social Cocooning„, da er das frei-gewählte „Schneckenhaus“ einfach wie ein „Einsiedlerkrebs“ mit sich fort trägt. Besonders in Zeiten des starken Wandels oder der chaotischen Umbrüche bekommt dieses „Social Caravaning“ eine noch größere Bedeutung, da es doch ein wenig Stabilität und Sicherheit in der gewohnten Umgebung verspricht und als „Resonanzphänomen auf ein unsicheres Weltgefühl“ gelten kann:

„Das Zukunftsinstitut beschreibt Social Cocooning als ein „auf Kontakt basierendes Zusammentreffen von Menschen in entspannter Wohnzimmeratmosphäre„. Dabei wird dem schon seit den 1980er Jahren bekannten Begriff Cocooning, der den Rückzug aus einer komplexen, unkontrollierbaren Umwelt in die eigenen vier Wände beschreibt, eine soziale Komponente hinzugefügt. Der Spieleabend mit Freund:innen, ein Glas Wein in guter Gesellschaft auf der Couch – Social Cocooning ist ein geplantes Zusammensein, bei dem eine Verbindung, welcher Art auch immer, zum Gegenüber entsteht.“ (https://www.emotion.de/leben-arbeit/gesellschaft/social-cocooning)

Hier kommt sie wieder durch, die uralte „Sehnsucht nach dem „Tribe“, all jenen Zusammenschlüssen, die Halt geben, Gehör schenken, Verbindung ermöglichen“ auf, die uns doch wieder als Gemeinschaftswesen oder „Herdentiere“ (Schopenhauer) kennzeichnet, die nicht ohne soziale Interaktionen existieren können. Denn „Einsamkeit ist tödlich„, wie der renommierte Psychiater und Hirnforscher Manfred Spitzer in seinem 2019 erschienen Buch „Einsamkeit – die unerkannte Krankheit: schmerzhaft, ansteckend, tödlich“ mit empirischen Daten dargestellt hat.

Also woher kommt dann diese neue Sehnsucht nach dem frei-gewählten, „kultivierten Alleinsein“ in der „zölibatären Zurückgeschiedenheit“ der „heimischen vier Wände“ oder dem „Physical Distancing“ der „digitalen Videocalls“ am „Personal Computer„. Ist es vielleicht doch nur wieder ein Resonanzphänomen auf das böse C-Wort (es ist schon genug über diese Pandemie geschrieben worden, sodass eine Abkürzung reichen sollte) oder ist es gar die Spießigkeit eines „Neuen Biedermeiers“? Doch vielleicht ist jetzt erst einmal genügend Appetit auf mögliche Antworten in dem „philosophischen Hauptgericht“ angeregt .

Das „philosophische Hauptgericht“ à la „Prinzip Hoffnung“ nach Bloch

Die im Vorwort zutage tretende Dialektik des Begriffes der Einsamkeit in oder durch die Gesellschaft taucht nicht nur als „doppeltes Kerzenlicht am Tannenbaum“, sondern zum Beispiel auch als „Doppellicht“ in Blochs „Prinzip Hoffnung auf: „Meiden, Isolieren, Lösen sind ebenso soziale Akte wie Binden und Vereinigen; […].“ (Ernst Bloch: „Das Prinzip Hoffnung. In drei Bänden. 3. Band, Kapitel 43-55. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1959/69, S. 1125).

Ernst Blochs Differenzierung von Einsamkeit

Ernst Bloch stellt hier dem Begriff der Einsamkeit den der Freundschaft gegenüber, wobei er die Einsamkeit in zwei Formen differenziert:

„– Erstens als Qual, d. h. als ungewollte Einsamkeit, als Zwang, als ein Nicht-können oder Nicht-dürfen, aber auch als Verlassenheit oder als Gefangenschaft, z. B. in einer Gefängniszelle. Einsamkeit kann also Elend bedeuten.
– Zweitens als Wunschbild, d. h. als gewollte Einsamkeit des Ichs, als Narzissmus oder als Wunsch nach Störungslosigkeit, z. B. in einer Klosterzelle. Die gewollte Einsamkeit ist ein Wunsch des Ichs bzw. des Egos. Es benötigt sie für sein Selbstverhältnis, also für eine Auseinandersetzung mit sich selbst.“ (https://johannakosch.de/freundschaft-und-einsamkeit-bei-ernst-bloch/#_ftn2)

Der erste Typus der „Einsamkeit“ stellt wohl eher nicht den Inhalt von „Social-Cocooning“ dar, da er eher unfreiwillig ist und zudem noch die qualvolle, pathogene Form des „Social-Distancing“ darstellt. Der zweite Typus kommt diesem Trend deutlich näher, da hier die „gewollte Einsamkeit des Ichs, als Narzissmus oder als Wunsch nach Störungslosigkeit“ stärker bedient wird.

An dieser Stelle soll nun aber zunächst noch einmal Blochs neomarxistische Kapitalismuskritik als Zwischengang aufgetischt werden. Er nennt dies in diesem Zusammenhang auch den „wirtschaftliche[n] Atom-Pathos“ (Ernst Bloch: „Das Prinzip Hoffnung. In drei Bänden. 3. Band, Kapitel 43-55. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1959/69, S. 1127), da er die frei-gewählte Einsamkeit in Form des Alleinseins als Instrument und Motor für die Bedürfnisbefriedigung des Individuums im 21. Jahrhundert sieht.

Der vereinsamte, egoistische Mensch der Postmoderne (oder was auch immer nach der Moderne kommen mag 😉  neigt stärker zum Konsum, da er ein „emotionales Surrogat“ für seine sozialen Defizite benötigt. Frei nach dem cartesischen Wahlspruch „Emero, ergo sum“ (lat.=“ich kaufe, also bin ich“) kaufen wir uns unsere Glücksgefühle, die idealiter durch soziale Interaktionen und Bindungen entstehen würden. Da das „emotionale Methadon“ aber sehr schnell seine Wirkung verliert, sind wir auf einen „neuen Schuss“ von Konsumgütern angewiesen; also ein „Weihnachten ohne Ende„. Wenn das kein Grund zum Feiern am kapitalistischen Hochaltar und somit ein weiterer Grund für das „Social Cocooning„.

Das „aphoristische Dessert“ mit den intellektuellen Freuden der Einsamkeit nach Schopenhauers Manier

Der „olle MiesepeterArthur Schopenhauer kommt als bekennender Misanthrop und Buddhismus-Interessierter da schon ein wenig bescheidener, um nicht zu sagen intellektueller daher, wenn er davon philosophiert, dass wer:

„…sie lieb gewinnt, eine Goldmine erworben. Aber keineswegs vermag dies jeder. Denn wie ursprünglich die Not, so treibt, nach Beseitigung dieser, die Langeweile die Menschen zusammen. Ohne beide bliebe wohl jeder allein; schon weil nur in der Einsamkeit die Umgebung der ausschließlichen Wichtigkeit, ja, Einzigkeit entspricht, die jeder in seinen eigenen Augen hat, und welche vom Weltgedränge zu nichts verkleinert wird; als wo sie, bei jedem Schritt, ein schmerzliches dementi erhält. In diesem Sinne ist die Einsamkeit sogar der natürliche Zustand eines jeden: sie setzt ihn wieder ein, als ersten Adam, in das ursprüngliche, seiner Natur angemessene Glück.“(Arthur Schopenhauer: „Aphorismen zur Lebensweisheit“, Kapitel V, 1851 auf: https://www.projekt-gutenberg.org/schopenh/aphorism/chap007.html, B.9)

Hier kommt doch das „Social-Cocooning“ zu seiner vollen Entfaltung, da es die Tendenzen zur Unterstreichung der Individualität in ganzem Maße unterstützt. Schopenhauer gilt die „Liebe zur Einsamkeit als Maßstab des intellektuellen Wertes„, daher soll er hier auch mal in vollem Maße zu Worte kommen, um das „Dessert“ richtig genießen zu können:

Ganz er selbst sein darf jeder nur so lange er allein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit: denn nur wenn man allein ist, ist man frei: Zwang ist der unzertrennliche Gefährte jeder Gesellschaft, und jede fordert Opfer, die umso schwerer fallen, je bedeutender die eigene Individualität ist. Demgemäß wird jeder in genauer Proportion zum Werte seines eigenen Selbst die Einsamkeit fliehen, ertragen, oder lieben. Denn in ihr fühlt der Jämmerliche seine ganze Jämmerlichkeit, der große Geist seine ganze Größe, kurz, jeder sich, als was er ist. Ferner, je höher einer auf der Rangliste der Natur steht, desto einsamer steht er, und zwar wesentlich und unvermeidlich.

Dann aber ist es eine Wohltat für ihn, wenn die physische Einsamkeit der geistigen entspricht: widrigenfalls dringt die häufige Umgebung heterogener Wesen störend, ja, feindlich auf ihn ein, raubt ihm sein Selbst und hat nichts als Ersatz dafür zu geben. Sodann, während die Natur zwischen Menschen die weiteste Verschiedenheit, im Moralischen und Intellektuellen, gesetzt hat, stellt die Gesellschaft, diese für nichts achtend, sie alle gleich, oder vielmehr sie setzt an ihre Stelle die künstlichen Unterschiede und Stufen des Standes und Ranges, welche der Rangliste der Natur sehr oft diametral entgegenlaufen.

Bei dieser Anordnung stehen sich die, welche die Natur niedrig gestellt hat, sehr gut; die wenigen aber, welche sie hoch stellte, kommen dabei zu kurz; daher diese sich der Gesellschaft zu entziehen pflegen und in jeder, sobald sie zahlreich ist, das Gemeine vorherrscht.“ (Arthur Schopenhauer: „Aphorismen zur Lebensweisheit“, Kapitel V, 1851 auf: https://www.projekt-gutenberg.org/schopenh/aphorism/chap007.html, B.9)

Dies könnte dann vielleicht mit einer der Gründe gewesen sein, warum Schopenhauer lieber das Gespräch mit sich – oder seinem Pudel – auf seinen Spaziergängen der sozialen Interaktion und Kommunikation mit seinen Mitmenschen vorzog.

Apropos „Kommunikation“, wer nun nach diesem „philosophischen Menü“ Appetit auf mehr bekommen hat, dem sei auch noch einmal mein anderer Essay „Die neue Sprachlosigkeit – mediale Kommunikation“  als weiteres, kleines „Amuse gueule“ empfohlen.

Bon appetit!

Ich bin immer mit meiner „Diogenes-Lampe“ unterwegs, um Menschen zu finden, die sich auch nach ein wenig „Licht der Erkenntnis“ sehnen. Also wenn Ihr eigene Beiträge oder Posts für meinen Wissenschaft-/Philosophie-Blog habt, immer her damit. Sie werden mit Eurem Namen als Autor auf meiner Seite veröffentlicht, so lange sie den oben genannten Kriterien entsprechen. Denn nur geteiltes Wissen ist vermehrtes Wissen.
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4 Comments
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cbuphilblog
1 Jahr zuvor

Hyggelige Weihnachten wünsche ich dir und deiner Frau, Dirk!

Axel Stöcker
1 Jahr zuvor

Lieber Dirk,
eine schöner Artikel zur rechten Zeit, durch den ich einige neue Begriffe gelernt habe.
Ich finde JOMO eine absolut gesunde Gegenbewegung zu FOMO, die mir darüberhinaus – so sich dieser Trend durchsetzt – die Hoffnung beschert, bald wieder wieder „in“ zu sein.
Ausgenommen von JOMO sollten selbstredend die Beiträge auf unseren Blogs und auf ZOOMPOSIUM zu sein, aber das ist ein anderes Thema.
In diesem Sinne einen guten Rutsch, frohes Feuerwerksverpassen und bis bald.
Axel