Stellungnahme zu den strukturenrealistischen Überlegungen in der Physik

Stellungnahme zu den strukturenrealistischen Überlegungen in der Physik

Gastbeitrag von Dr. Bernd-Jürgen Stein als

„Stellungnahme zu den strukturenrealistischen Überlegungen in der Physik“

Der hier veröffentlichte Gastbeitrag stammt von Dr. Bernd-Jürgen Stein, einem Physiker, der nicht im Wissenschaftsbetrieb tätig ist, sondern selbständig als Consultant arbeitet. In diesem Artikel hat er seine „Beratertätigkeit“ aber einmal anders eingesetzt und eine „Stellungnahme zu den strukturenrealistischen Überlegungen in der Physik“ verfasst, die sich zum Teil auf das Zoomposium-Interview „„Bewusste Strukturen oder Strukturen für das Bewusstsein?“ mit dem bekannten deutschen Vertreter des Strukturenrealismus Herrn Prof. Dr. Holger Lyre bezieht.

Aus den auf meiner Seite veröffentlichten Essays mag vielleicht mittlerweile deutlich geworden sein, dass ich durchaus methodische Sympathien für einen moderaten, nicht-eliminativen Strukturenrealismus hege, dennoch freue ich mich sehr, dass mal eine Replik zu diesem Thema erscheint. Die Erwiderung möge dann hoffentlich auch wie ein Inititator für weitere durchaus kontroverse Stellungnahmen wirken, um einen methodischen „blinden Fleck“ im Sinne des sogenannten confirmation bias“ zu verhindern. Daher möge nun hier aber Herr Dr. Stein zu Worte kommen:

Stellungnahme zu den strukturenrealistischen Überlegungen

Vorab zur Frage: gibt es Strukturen als objektive Gegebenheiten, oder sind sie nur Produkte unseres Geistes? Das ist die Frage, ob es eine geistunabhängige objektive Welt unabhängig von unserem Erkenntnisvermögen gibt. Dass es diese gibt, dafür spricht, dass wir mit unserem Gedanken und Sinnen auf annähernd gleiche Weise Bezug auf diese Welt nehmen können. Wir können uns zur Beschreibung dieser Welt sogar auf den Gebrauch von Begriffen mit einheitlicher Bedeutung untereinander einigen. Das genügt, um sie als einheitliches, objektives Erkenntnisobjekt anzusehen, und ihr per Konvention eine objektive Existenz für Erkenntniszwecke zuzusprechen. Alle weiteren Bemühungen um Erkenntnis geschehen dann auf dieser Grundlage.

Relationen und Strukturen – eine voraussetzungsvolle Ontologie?

Der Strukturen-Realist behauptet, dass physikalische Theorien auf Strukturen referieren, und sich das aus den physikalischen Theorien abgeleitete Wissen nicht auf gegenständliche, sondern strukturelle Entitäten bezieht. Dieser „Strukturen-Realismus“ (SR) existiert dann in verschiedenen Formen (ontischer und epistemischer SR, diese auch noch in verschiedenen Spielarten !?). Gemeint sind mit Strukturen wohl eine additive (oder multiplikative?) Menge von Relationen, die „Schnittpunkte“ oder „Relata“ miteinander „verbinden“. Es scheint wohl ein Problem zu sein, wenn die Relata gleichartig bzw. „identische Objekte“ sind, wobei aber nicht immer klar ist, ob es sich bei den Relata um bloße „Schnittpunkte“ handelt, oder „unerkennbare Dinge an sich“, oder „Dinge mit intrinsischen Eigenschaften“, oder Dinge mit „von den Relata bestimmten Eigenschaften“.

Was nun unter Relation, als dem Baustein einer Struktur, über das Formale einer Struktur hinausgehend verstanden wird, wird leider auch nicht näher diskutiert. Es scheint wohl verschiedene Arten von Relationen zu geben, aber was macht ihren Unterschied konkret (physikalisch) aus? Auch wie eine Relation entstehen könnte, ist mir nicht klar, auch nicht, inwieweit mit dem Begriff „Relation“ räumliche, zeitliche oder raumzeitliche Relationen gemeint sind, oder Relationen in einem allgemeineren Sinn. Schon die Physik behandelt die Frage, wie entsteht ein Gegenstand, nicht mit großer metaphysischer Klarheit (zum Beispiel durch „Körnung“ eines Kontinuums), noch weniger jedoch behandelt sie die Frage, wie denn eine Relation entsteht. Offenbar geht der Strukturen-Realist davon aus, dass die vielfach denkbaren Formen von Relationen einfach bestehen, und physikalische Theorien diese beschreiben. Offenbar ist bei den vielen Formen von Relationen die „Grundform“ nicht von Interesse. Insgesamt scheint mir der Strukturen-Realismus in all seinen Formen eine sehr voraussetzungsvolle Ontologie zu sein, und keine grundlegende, die nicht weiter reduzierbar ist.

Der Strukturen-Realist geht offenbar davon aus, dass der zentrale Kern einer jeden physikalischen Theorie, die mathematischen Gleichungen der Theorie, Strukturen der Realität beschreiben. Als Beleg für den Strukturen-Realismus werden wohl – wenn ich Herrn Lyre richtig verstehe – Erkenntnisse der Physik über physikalische Strukturen und Symmetrien der Realwelt ins Feld geführt, so als würden sich die Erkenntnisse der Philosophie und die von den Physikern angestellten Interpretationen der Mathematik an vielen Stellen in Übereinstimmung treffen. Da treffen sich aber auch nur subjektive Sichtweisen. Die Stellen, wo sich diese treffen, gibt es sicher, aber es gibt sicher auch andere, wo sie sich nicht treffen. Immerhin leuchtet mir der strukturenrealistische Standpunkt ein in der Behauptung, das Beziehungsgeflecht aller Gegenstände untereinander könne einer Erkenntnis eher zugänglich sein als die Gegenstände selbst (was voraussetzt, es gibt Relationen und Gegenstände als separate Entitäten).

Relationen und physikalische Kräfte

Dennoch: der Strukturen-Realismus scheint eine Menge Fragen aufzuwerfen. Solche Fragen sind dazu da, besprochen zu werden, was ich hier gerne tun würde. Dabei möchte ich vorweg schicken, dass ich zum Strukturen-Realismus in all seinen Spielarten keinen grundsätzlich konträren Standpunkt einnehme, sondern höchstens einen, der je nach Version zwischen Sympathie und Skepsis hin und her schwankt – aber am Ende zugegebenermaßen wohl eher einer skeptischen Sicht weicht.

Tatsächlich ist es eine – vielleicht unter Philosophen nicht so bekannte Tatsache – dass physikalische Theorien keine generelle empirische Adäquatheit haben, sondern immer nur in Teilen empirisch adäquat sind. Wer bei der Anwendung des Begriffs empirische Adäquatheit hier nicht differenziert, kann die empirische Adäquatheit einer Theorie nicht überzeugend zur Begründung eines realistischen oder nicht-realistischen Standpunktes heranziehen, jede ontologische Betrachtung ist dann schon an der Wurzel fehlerhaft. Alle Aussagen physikalischer Theorien beruhen ja auf Interpretationen der Mathematik, und diese Mathematik macht „wahre“ Vorhersagen über die Kräfte, aber keine „wahren“ Aussagen über die Ontologie. Das bedeutet: physikalische Theorien sind nur in Teilen empirisch adäquat, nämlich in ihren Aussagen über Kräfte oder Potentiale.

Daraus kann man nun schließen, dass Kräfte Beziehungen oder Relationen konstituieren, und von daher physikalische Theorien Strukturen beschreiben. Aber dies scheint mir ein ziemlich verklärter Blick auf den physikalischen Kraftbegriff, der ja schon selbst jede Menge metaphysischer Fragen aufwirft.

Wenn behauptet wird, physikalische Theorien würden robuste Aussagen über Strukturen machen, weil Aussagen physikalischer Theorien über Kräfte empirisch adäquat sind, dann sieht man sich sofort damit konfrontiert, dass Kräfte Beziehungen konstituieren können, aber nicht müssen: Kräfte überlagern sich nämlich, die Resultierende kann Null sein, was für eine Struktur wird damit begründet? Welche Strukturen erzeugt die Trägheitskraft? Welche Strukturen erzeugt ein Kraftfeld um eine Quelle ohne Testobjekt. Man kann höchstens sagen, dass der den Kräften zugrundeliegende tiefere Mechanismus eine Relation konstituiert, aber dann muss man diesen Mechanismus nennen. Der soll nach der Lehrphysik aus einem Austausch von Teilchen (Bosonen) bestehen, das sind Gegenstände, die unerfreulicherweise untereinander überhaupt keine Relation eingehen. Zudem herrschen auf Quantenebene keine Kräfte, also wie soll etwas, das nicht vorhanden ist, Relationen erzeugen? Die Dynamik auf Quantenebene leitet sich ab aus Potentialfeldern, oder anderen Feldern, mit denen man sich selbst mit voraussetzungsvollen und gewagten Interpretationen schwerlich einen Begriff von Relation machen kann. Kräfte und Kraftfelder sind zwar empirisch adäquates Thema physikalischer Theorien, dies aber als Beleg dafür anzuführen, dass der Strukturen-Realismus die richtige Sicht auf die Realität darstellt, scheint mir mehr als bedenklich.

Die Physik hat nun mal keine Ontologie, die kleinsten Bausteinchen dieser Welt sind ihr mit den Quantentheorien verloren gegangen. Sie weiß wie etwas agiert, aber nicht, was da agiert. Ich denke, man gewinnt nicht viel als Philosoph, sich bei Fragen der Ontologie auf die operational ausgerichteten Erkenntnisse der Physik zu stützen, die mit viel „wissenschaftlichen Pragmatismus“ gewonnen werden.

Das Trivialitäts-Argument

Der Haupteinwand, der gegen den Strukturenrealismus vorgebracht werden könnte, ist – so denke ich – der der Trivialität. Um das zu begründen muss ich etwas ausholen: Der Begriff der „Struktur“ im Begriff „Strukturen-Realismus“ ist nicht klar, denn schon die Relation als wesentlicher Teil einer Struktur ist metaphysisch unbestimmt: es nicht klar, wie eine Relation „entsteht“, welche Seinsform sie hat, ob sie im außer- oder innerraumzeitlichen Kontext existiert, ob sie eine fundamentale Entität ist (und nicht auf einfachere Zusammenhänge reduzierbar ist) usw., vor allem jedoch, wie denn verschiedenartige Relationen zustande kommen, angestoßen durch die Relata, oder aus einer vorgängigen Grundform von Relation, und wenn dies wie das? Selbst die aufs Äußerste reduzierten Esfeld´schen „Matter-Points at a distance“ lassen die vorgenannten Fragen unbeantwortet. Das Realtätsverständnis und die Begriffe der Physik können bzgl. einer Ontologie aus systematischen Gründen keine Klarheit hervorbringen. Der Strukturenrealist folgt bei seiner Sicht auf die Welt daher wohl einer – aus meiner Sicht sehr verständlichen und nachvollziehbaren – Intuition (die ich genauso verspüre), und sucht dann nach Aussagen der Physik, die diese Ontologie bestätigen, was die Gefahr mit sich bringt, dass Widersprechendes ausgeblendet wird.

Die Frage, was eine Relation ist und wie sie entsteht, kann daher nur mit der Logik und dem vielfältigen Begriffsinventar der Philosophie angegangen werden. Das will ich hier einmal versuchen, und dieser Versuch führt schnurstracks zum Trivialitätseinwand.

Wenn man am Anfang von Allem das erste und einzige Teil betrachtet, das existiert, dann existierst dieses doch nur, und schon, als dialektischer Gegenpart zu einem Ganzen. Man kann sonst von einem Einzelteil nicht sprechen, wenn es nicht als Gegenstück zum Ganzen gedacht wird. Und schon ist die Beziehung da, es gibt dann schon eine Beziehung zwischen Einzelteil und Ganzem, die dann als eine dialektische Beziehung existiert. Und sie existiert nicht nur, sondern bestimmt auch das Einzelteil, nämlich als dialektisches Gegenstück zum Ganzen. Das Einzelstück hat keine andere Bestimmung als nur diese, und diese Bestimmung stammt aus der Beziehung. Was folgt aus diesen sehr basalen überlegungen? Es gibt keine Einzelteile, die nur als Einzelteil existieren. Und es gibt keine Relationen ohne Einzelteil. Es gibt nur Einzelteile, die immer untrennbar mit einer Beziehung daherkommen, nämlich der zum Ganzen, und in der Bestimmtheit, die von dieser Beziehung ausgeht, sind sie untereinander alle gleich. Erst dann, wenn die Einzelteile untereinander eigene Beziehungen eingehen, erhalten sie aus diesen Beziehungen heraus weitere Bestimmtheiten, mit denen sie sich voneinander unterscheiden (sie individuieren). Es gibt also keine Einzelheiten oder Dinge „an sich“. Das „Ding an sich“, sofern als Einzelheit gedacht, und anders kann man es nicht denken, hat schon eine Bestimmtheit, die aus seiner dialektischen Beziehung zu einem Ganzen herrührt, nämlich als Teil eines größeren Ganzen, bestehend aus einem Teil und dem dazu gehörigen Ganzen. Die Schlussfolgerung ist, dass es dann auch keine einzelnen Teile geben kann, sondern nur Teile und Beziehungen in einer Einheit, Relata und Relationen als Zweiheit in einer Einheit, und aus diesen Einheiten muss die Welt bestehen. Die Behauptung, die Welt würde aus Relationen und Relata bestehen ist dann – gedacht und gesagt – trivial.

Wenn es eine Version des Strukturen-Realismus gibt, die behauptet, dass die Welt auf fundamentaler Ebene aus Einheiten besteht, die aus zwei Teilen genannt Relata und Relation bestehen, die Relata aber beide nicht intrinsisch bestimmt sind, sondern ihre Bestimmung allein aus der Relation erhalten, dann könnte ich mich dieser Meinung anschließen. Diese Idee ist nicht physikalischer Art, sondern folgt aus der Logik von Überlegungen über das fundamentale Sein. Diese Logik geht jeder physikalischen Möglichkeit von Erkenntnis voraus und baut daher auf festem Grund.

Es gibt somit in der Folge dieser Logik auch nur Relata, die eine Bestimmung durch die Relation haben, und eine Erkenntnis dieser Relata nur insoweit, wie dies die Relationen (zu anderen Relata) zulassen. Das wird durch die Physik grandios bestätigt. Für Quantenobjekte gibt es nicht viele bestimmende Relationen, im Makroskopischen natürlich viel mehr: weil Planeten viele unterschiedliche Beziehungen zu den Lichtstrahlen haben, können wir Ort, Gestalt, Größe, Oberflächenstrukturen der Planeten erkennen, und zweifeln die Tatsache nicht an, dass die von der Newtonschen Theorie postulierten theoretischen Entitäten (Massenpunkte) in der Realität nicht existieren. Massenpunkte gibt es nicht. Ein Quantenobjekt, dass auch noch auf Grund seiner Beziehungen zu seiner Umgebung mal als „Teilchen“ mal als „Welle“ erscheint, wird wohl weniger Beziehungen haben, und daher unbestimmter sein, vor allem aber in der Realität genauswenig existieren, wie die Massenpunkte. Es existiert eben aus logischen Gründen immer nur als ein Objekt, welches durch seine Beziehung zu den umgebenden Objekten bestimmt ist (durch seine lokale enge Beziehung zu einem Messgerät (WW), zum Beispiel dadurch als Objekt an einem Ort).

Hinweis am Rande: Die Unbestimmtheiten, mit denen die theoretische Physik auf Quantenebene konfrontiert ist, lassen sich so erklären – und diese Erklärung – allein aus der Logik heraus – hat im Gefolge, dass sich der unselige Begriff der intrinsichen Eigenschaft, der in kein Ontologie-Konzept hineinpasst, sich nur noch als operational effektiv gebräuchlicher Begriff entlarvt, der letztlich auf spezifische Wechselwirkung zwischen den Objekten zurückgeführt werden kann. Das hat ganz enorme Auswirkungen auf alle offenen Fragen zur Philosophie der Physik. Auch die Frage, wie entsteht Bewusstsein, kann spekulativ in neuem Licht betrachtet werden. Denn sogenannte emergente Prozesse sind nur deshalb unverständlich, weil die Vielfalt der Beziehungen, die den beteiligten Relata emergente Eigenschaften verleihen, unüberschaubar sind. Ja selbst die Erkenntnis der Außenwelt durch erkennende Subjekte erlaubt nur eine Bestimmungen der Außenwelt, die aus den Beziehungen dieser Aussenwelt zu den erkennenden Subjekten herrührt – im Großen wie im Kleinen der gleiche Mechanismus einer Bestimmung.

(Meta-)Physik der Relation

Die Frage der Entstehung einer Relation und einer Struktur, im raumzeitlichen Kontext oder außerhalb davon, stellt sich dann nicht mehr. Die Relation ist von Anfang an da, sie entsteht unmittelbar gemeinsam mit jedem gegenständlich-physikalischen Etwas. Man muss vielmehr fragen, wie entsteht überhaupt etwas. Auch die Frage, ob die Relata gleichartig sein können oder nicht, ist eine müßige Frage. Denn ein Gegenstand ist so oder so beschaffen, oder hat diese oder jene Eigenschaften nicht deshalb, weil er intrinsische Eigenschaften hat (diese gibt’s nicht), sondern weil er diese oder jene Beziehung(en) eingeht. Und natürlich hat jeder Gegenstand eine Beziehung immer, nämlich mindestens die zu seinem gedachten dialektischen Gegenüber, aber diese bestimmt ihn nur als dialektischen Widerpart. Bosonen beispielsweise sind solche physikalischen Einzelgegenstände, die nicht untereinander wechselwirken, sie erhalten infolge dessen wegen fehlender Relationen zu ihresgleichen keine Bestimmung, sie werden aber immer noch als definierte Einzelobjekte im Gegenpart zur Vielheit (oder einem verschränkten Ganzen) angesehen. Sie können untereinander keine Beziehung eingehen, sie durchdringen sich (überlagern sich) am gleichen Ort (distance = zero), und das Leipnitz´sche Identitätsprinzip verliert damit endgültig seine Unversalität. Von diesen ununterscheidbaren Objekten (nochmals: sie sind durch keine Relation individuiert) gibt’s im Universum ca. 10-100 Mio mal so viel, wie es Fermionen gibt, die andere Materie-Teilchenart, die untereinander wechselwirken. Das Universum besteht also zu 99,999999 Prozent aus irgendwas, was untereinander keine Beziehung aufbaut, und daher als Gegenstand unbestimmt ist (Strahlung oder Wellenfelder). Erst wenn dieses Etwas höchst selten mit Fermionen wechselwirkt, erhält es eine Bestimmtheit (zum Beispiel operational definierte Eigenschaften wie Frequenz und Polarisation)

Die Beziehung, die Fermionen dagegen untereinander ausbilden, ist gerichtet. Fermionen sind Spin ½ Objekte, und d i e s e bilden gerichtete Beziehungen aus, „gerichtet“ in einem allgemeinen Sinn (so wie die Richtung in „Denkrichtung“). Immerhin hat der Spin im raumzeitlichen Kontext eine Richtung immer, und ist gleich groß längs jeder Raumrichtung. Beim Vertauschen behalten zwei separate Fermionen daher ihre Identität, deshalb können sie nicht in Eins zusammenfallen, sondern müssen, in einer raumzeitlichen Ordnungsstruktur eingebettet, „auf Abstand“ bleiben.

Bosonen und Fermionen, die einzigen und fundamentalsten Materieteilchen, die die Physik kennt, zeigen, dass ihre Beziehungen untereinander, ihre Relationen, sie als Objekte individuieren (Fermionen), oder auch nicht (Bosonen).

Unter all diesen Umständen von einem „Strukturen-Realismus“ als Alternative zu einer Gegenstandsontologie zu sprechen scheint mir unangebracht. Denn die Einheit in der Zweiheit (Relata und Relationen) sind auch nur Gegenstände (der anderen Art). Es gibt zudem auch keine vor „einem Entstehen“ dieser Einheit schon vorgängig individuierte Relata und Relationen, und es gibt auch keine aus zwei gesonderten Entitäten gebildeten Strukturen – Strukturen zusammengesetzt aus Entitäten mit Eigenschaften (Relata) und anderen Entitäten ohne Eigenschaften (Relation) – sondern auf fundamentaler Ebene nur eine zusammenhängende Menge von Objekten, die als Einheit von Relation und Relata aufgefasst werden müssen, aber nicht als System bestehend aus zwei Dingen unterschiedlicher Seinsart, sondern eben als „ein Ding“. Erst im raumzeitlichen Kontext ordnen sich diese Dinge so, dass sie als Netzwerk zweier Individuen, als Objekt und Relation, erscheinen. Und Raum und Zeit sollten als geordnete Struktur von Abständen ebenfalls durch spezifische Relationen entstehen (Abstände = raumzeitliche Differenzen zwischen den Objekten, die Differenzen durch Relationen bestimmt). Jedenfalls ist ein aus spezifischen Relationen hervorgehender konkreter Entstehungs-Mechanismus von Raum und Zeit denkbar, den ich mir vorstellen kann, jetzt aber hier nicht auch noch ausbreiten möchte.

Zuletzt noch zur Frage, wie denn Relationen unterschiedlicher Art zustande kommen. Ich denke, dass die Physik hier mit einem Austausch von Wirkungsportionen (Bosonen als Wirkungsportionen, der Begriff der Wirkung wäre noch zu definieren) nicht ganz falsch liegen kann. Der Austausch selbst braucht Zeit, zeigt Periodizität, und unterschiedliche Portionierung erzeugt unterschiedliche Relationen, und dafür gibt es sogar mathematisch formalisierte Gesetzmäßigkeiten. Periodizität dieses Austauschs prägt den Relata scheinbare, das heißt operational sehr effektiv nutzbare Welleneigenschaften wie Frequenz und Polarisation auf, das sind Eigenschaften, die die Relata aber nur hinsichtlich ihrer Wirkung charakterisieren, nicht als ontologische Bausteine.

Was beschreibt die Mathematik physikalischer Theorien

Was ich zuletzt immer noch als höchst störend empfinde, ist die im Raum stehende Behauptung, die Mathematik physikalischer Theorien würde reale Strukturen beschreiben. Diese Behauptung scheint mir ein (Ad-hoc-?) Postulat zu sein. Ich finde dazu keine nähere Begründung, außer dem Wunsch es möge so ein. Ebenso wenig finde ich in den Varianten strukturenrealistischer Standpunkte einen Hinweis darauf, wie denn Strukturen kausale Wirkung entfalten. Dazu will ich anmerken, dass ich die Behauptung, dass die Mathematik reale Strukturen beschreiben würde, mit aller Heftigkeit bestreite, und sehr gute Gründe dafür angeben kann, Gründe, die auch Kausalzusammenhänge erklären könnten. Ich will aber hier nicht noch weiter gehen und ein weiteres Schussfeld aufmachen.

Facit

Ich bringe in diesem kurzen Text – der nicht als wissenschaftliche Arbeit, sondern als Ideensammlung zu verstehen ist – Einwände vor, dass der Strukturen-Realismus, wenn man ihn denn begrifflich hinterfragt und metaphysisch zu gründen versucht, bei nicht ganz so kritischer Sicht auf die Aussagen der Physik von der Physik als bestätigt erscheinen mag. Im Rahmen einer kritischen Analyse kann der Strukturen-Realismus mit stringenten Argumenten aber nicht auf die Welt des Kleinsten und Fundamentalen extrapoliert werden. Auf der fundamentalen Ebene ist die Behauptung, dass Strukturen existieren, genauso trivial, wie die Behauptung, dass überhaupt etwas existiert. Ich behaupte, dass die Entitäten Relationen und Relata eine Einheit (in der Zweiheit) bilden, und Grundelemente jeden physikalischen Seins sind. Ohne diese beiden Entitäten als Einheit kann physikalische Existenz nicht gedacht werden. Damit werden die vom Strukturen-Realismus behaupteten wesensunterschiedlichen Entitäten Relation und Relata auf harmonische Weise in Eins zusammengeführt, gewissermaßen als Kontrapunkt zur naturwissenschaftlich-reduktionistischen Sicht, die auf fundamentaler Ebene damit an ihre Grenzen gekommen ist. Vor allem haben meine Überlegungen den Charm, dass der unsägliche Begriff der intrinsischen Eigenschaft aus dem physikalischen und philosophischen Begriffsinventar endlich verschwindet, und – wenn man den Begriff der Eigenschaft überhaupt verwenden will – ausschließlich relationale Eigenschaften ins Spiel des Existierenden gebracht werden. Wenn alle Gegenstände durch ihre Relationen bestimmt sind, dann ist die Erkenntnis dieser Gegenstände allein von diesen Relationen abhängig und bestimmt. Es gibt dann keine „Ens per se“ mehr, die auf unerfindliche Weise zu intrinsischen Eigenschaften gekommen sind, sondern alle physikalischen Gegenstände sind in ihrer epistemischen Zugänglichkeit abhängig von Art und Menge der Relationen, die sie eingehen können. Es geht bei der Erkenntnis der Welt also darum, zuerst die Relationen in Blickfeld zu nehmen, um damit – und nur auf diese Weise allein – auch Erkenntnis über die Gegenstände zu erlangen. Die Bausteine der Welt, Einheiten bestehend aus Relationen und Relata, zeigen sich dann aus diesem Blickwinkel heraus „von selbst“ in all ihrer möglichen ontischen Bestimmtheit. Das lehrt uns auch die Quantenphysik: Erkenntnis kommt durch Wechselwirkung – offenbar allein durch Wechselwirkung (Beziehungsbildung) – zustande.

aufgestellt: Bonn, den 9.10.22

© Text: Dr. Bernd-Jürgen Stein, Einleitung: Philo Sophies

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Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
1 Jahr zuvor

Der einzige Bereich, in dem die Struktur wichtiger ist als das Element, ist das Leben. Denn Leben besteht aus toten Bausteinen und lässt sich nur durch die Art und Weise erklären, wie diese toten Bausteine zusammenarbeiten. Zwar darf man die Elemente nicht vernachlässigen und schon gar nicht leugnen, sie erklären aber Leben aus sich selbst heraus nicht. Ein einzelnes Neuron gibt nichts über das Wesen des Bewusstseins preis. Gäbe es aber keine Neuronen, gäbe es kein Bewusstsein.
Und das, was Leben im allgemeinen macht, nämlich Realität assimilieren und damit zu seiner eigenen Struktur transformieren, macht das Gehirn im besonderen, indem es Realität in Form diffuser Reize ordnet, strukturiert und somit handhabbar macht. Realität wird also strukturiert. Dadurch, und nur dadurch entsteht Bewusstsein. Wir könnten nun noch stärker strukturierte Bereiche von weniger strukturierten unterscheiden und hätten dann einen topologischen fleißenden Übergang zwischen operativem Bewusstsein und Unterbewusstsein, aber das führt an dieser Stelle zu weit.
Jedenfalls lässt sich daraus erkenntnistheoretisch ableiten, dass eine Welt ‚an sich‘ reines epistemologisches Konstrukt ist. So wie unsere Physik, Mathematik und alle anderen. Sie funktionieren nur, weil sie sich an der Realität bewährt haben, so wie sich Axiomatiken, die empirisch valide sind, immer mehr oder weniger bewähren.
Im Gegensatz zu allem Lebendigen lässt sich tote Materie auf seine Bausteine reduzieren, denn so komplex tote Konstrukte sein mögen, sie lassen sich immer aus den Bausteinen erklären, auch wenn sie weiche Emergenzen zeitigen.
Es gibt also einen methodologischen Bruch zwischen toter und lebender Materie, dem die Biologie Rechnung tragen müsste, indem sie sich von der Physik emanzipiert. Sie müsste Strukturwissenschaft werden, während die Physik (etwa als Biophysik) die Bausteine untersucht.

bernd Dr.Stein
bernd Dr.Stein
1 Jahr zuvor

Hallo Herr Stegmann,

Sie schreiben:

„Im Gegensatz zu allem Lebendigen lässt sich tote Materie auf seine Bausteine reduzieren, denn so komplex tote Konstrukte sein mögen, sie lassen sich immer aus den Bausteinen erklären, auch wenn sie weiche Emergenzen zeitigen.“

Genau das bestreite ich in meinem Beitrag. Tote Materie ist auch nur durch Relationen bestimmt, genauer: die Relationen bestimmen die Relata so, dass man ihnen Eigenschaften zuordnen kann. Es gibt daher keine intrinsischen Eigenschaften, nur relationale Eigenschaften, also solche Eigenschaften, die sich aus der Wirkung der Gegenstände aufeinander erklären lassen. Ich vertrete aber keine fundamentale oder umfassend-strukturenrealistische Position, weil ich Relata und Relationen nicht als getrennte Entitäten ansehe.

Im übrigen weist diese meine Position den Weg, Leben auf logische Weise zu verstehen. Denn das ein Bewußtsein ist ja keine isoliertes Etwas in meinem Kopf. Es gibt kein autonomes Bewußtsein, sondern nur eines, das immer in Verbinnung steht mit dem gesamten Rest des Universums, insbesondere mit seinesgleichen in der sozialen Umgebung. Damit gelten Naturgesetze, die das Verhalten von idealisierten und reduzierten, durch intrinsische Eigenschaften gekennzeichnete Einzelteile einer Subtanzontologie beschreiben, nicht mehr so näherungsweise, wie uns die Physik das glauben macht.

Es grüßt Sie
Bernd Stein

Wolfgang Stegemann
Wolfgang Stegemann
1 Jahr zuvor
Reply to  bernd Dr.Stein

Lieber Herr Stein,
Mir ging es hier nicht nur um Ontologie, sondern ebenso um Methodologie. Während Leben nur als Struktur verständlich wird (schließlich steht in keinem einzigen Molekül ‚Bio‘ darauf), arbeitet die (klassische) Physik erfolgreich (in der makroskopischen Welt) mit Elementen (Bausteinen) und reduziert alles darauf. Dieses Vorgehen führt im Bereich des Lebens nicht zum Ziel (im Bereich der Quanten vielleicht auch nicht), wird aber von den Reduktionisten dennoch so betrieben.
Da die Quantenphysik für die Erklärung von Leben keine Rolle spielt, thematisiere ich sie erst gar nicht.
Mir ging es einzig um den methodologischen Unterschied zwischen Physik und einer Biologie, die ihre eigenen Werkzeuge diesbezüglich entwickeln sollte, anstatt diejenigen der Physik zu übernehmen. Da Leben nur als System zu verstehen ist, sollte dies als systemtheoretischer Ansatz geschehen.
Ich sehe keine Verbindung zwischen dem Gehirn und dem ganzen Universum, das ist mir zu esoterisch. Um die Welt zu verstehen, sollten wir uns schon auf den entsprechenden Skalen bewegen. Das Universum als symmetriebruchfreies Kontinuum zu betrachten, bringt uns bei der Frage nach dem Leben nicht weiter.
Und selbstverständlich zeitigen Emergenzen neue ontolosche Stati, indem sie beim Lebendigen neue Arbeitsweisen generieren: Proteinsynthese, Endokrinologie, Neuronalität. Sie führen zu sehr verschiedenem Verhalten.

Torsten Hesse
Torsten Hesse
1 Jahr zuvor

Der Aufsatz von Dr. Stein ist sehr erhellend, finde ich. Nach dem Interview mit Holger Lyre war ich, was den Strukturbegriff angeht, ein wenig ratlos. Zwar gibt es Strukturen, die durch physikalische Wechselwirkungen entstehen und zusammengehalten werden – z.B. Kristallgitter – aber von Strukturen im Allgemeinen kann man das nicht behaupten. Struktur im Allgemeinen ist nichts Physikalisches.

Philo Sophies
3 Monate zuvor

Lieber J. L.,

vielen Dank für Ihren Kommentar.

Mit Ihrem absolut berechtigten Hinweis legen Sie den Finger in die Wunde: „Ob es „eine geistunabhängige objektive Welt unabhängig von unserem Erkenntnisvermögen gibt“?“

Eine Antwort kann ich Ihnen hierzu natürlich auch nicht geben. Allerdings wäre ich mit dem Absolutismus der „kritischen reinen Vernunft“ etwas vorsichtiger. Kant versucht in seinem Projekt einen Fuß vor die Tür in das Außen des Denkens zu stellen. Das wäre schon aus systemtheoretischer Sicht ein wenig vermessen.

Der kritische Realismus (https://de.wikipedia.org/wiki/Kritischer_Realismus) oder das „Münchhausen-Trilemma“ (https://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%BCnchhausen-Trilemma) von Hans Albert greift dieses Problem auf und zeigt in welche Sackgasse dies läuft. Der Neurokonstruktivismus der kognitiven Neurowissenschaften zeigt leider in ähnliche Richtung. Vielleicht müssen wir hier tatsächlich von einem starken anthropischen Prinzip ausgehen. Zur Rettung des wissenschaftlichen Realismus hoffe ich dies nicht.

Vielen Dank für Ihr Interesse und
viele Grüße
Philo