Die Dialektik der Aufklärung

Die Dialektik der Aufklärungen

Die Dialektik der Aufklärungen – es werde endlich Licht!

„…3 Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht.  4  Und Gott sah, daß das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis…“(1.Mose 1)

Prolog

Keine Sorge, dies ist nicht der Anfang einer Predigt, obwohl das Apologetische in meinem Vorhaben auch nicht ganz zu verleugnen ist. Es soll im Folgenden vielmehr um eine medientheoretische Analyse gehen, die an die Ergebnisse der vorherigen, wissenschaftstheoretischen Analysen anknüpfen soll. Die angestrebte Nahtstelle bildet hier die zuvor postulierte Grundthese, dass sich der wissenschaftliche Diskurs auf Bereiche ausgedehnt hat, die nicht zu seinen proprietären Gebieten zählen. Als markantestes Beispiel sei hier vielleicht das bereits verwendete Postulat eines neuen „Gottes der Wissenschaften“ zu nennen, der das  „sinnentleerte Vakuum“ oder die „bedeutungsfreie Lücke“ der Postmoderne, welches durch die Säkularisierung der großen Religionen entstanden ist, als „Religionssurrogat“ zu füllen versucht: „Ich weiß wohl, — die [wissenschaftliche] Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eigenen Kinder.“ (frei nach Büchners Zitat aus „Danton Tod“)

Diese Pervertierung der Negation als „Aufklärung über die Aufklärung“ führt zu dem absurden Zustand, der in der „Dialektik der Aufklärung“ beschrieben wird. Diese mit dem gleichnamigen Untertitel aus der als „Philosophische Fragmente“ bezeichneten Sammlung von Essays von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1944 erschienene Werk aus dem späten „Bücherzeitalter“ (ca. 1450 – 1950) gilt als eines der meistrezipiertesten und wirkungsreichsten Schriften der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Da sich aber Geschichte in mancher Hinsicht eben doch in Abwandlung wiederholt,

Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ (Karl Marx: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Vorrede zur 3. Auflage“, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972, S. 115-123)

taucht dieses kulturhistorische Phänomen der „Dialektik der Aufklärung“ in abgewandelter Form an der Schwelle zu einen neuen medialen Kulturepoche, dem „Fernsehzeitalter“ (ca. 1950 – 2000) wieder erneut auf. In meiner weitergehenden Analyse zur „Dialektik der zweiten Aufklärung“ werde ich mich daher hauptsächlich auf das von Neil Postman 1999 verfasste Buch „Die zweite Aufklärung – Vom 18. ins 21. Jahrhundert“ beziehen, um die kulturhistorischen Auswirkungen des neuen medientheoretischen Diskurses des Fernsehens zu beleuchten. Um aber das Thema auch auf den aktuellen Stand zu bringen, werde ich die konstatierte „Dialektik der dritten Aufklärung“ des „Internetzeitalters“ (ca. 2000 – Ende offen) mit Hilfe eines 2019 im Deutschlandfunk erschienenen Essays „Philosophie in der digitalen Welt – DigiKant oder: Vier Fragen, frisch gestellt“ von Florian Felix Weyh genauer untersuchen.

Die diesen Analyseschritten zugrundegelegte Arbeitshypothese zur momentanen Kulturverfasstheit lautet, dass das große Projekt des Rationalismus, die „Aufklärung“ nie wirklich abgeschlossen oder erreicht wurde, sondern als „Ewige Wiederkunft des Gleichen“ (Nietzsche) in mehrfach abgewandelter Form als „Dialektik der Aufklärungenwiederkehrt. Dieses Vexierspiel gleicht dem antiken Kampf zwischen den Göttern der griechischen MythologieApollon vs. Dionysos„, als dem ewigen Widerstreit zwischen „Logos“ und „Mythos. Gewinnt der „Logos“ über den „Mythos“, wird er somit selbst wieder zum „Mythos“ und wiederum vom neuen „Logos“ bekämpft. Man könnte insofern von einem „Möbiusband der Kulturgeschichte“ sprechen, das von Friedrich Nietzsche zum apollinisch-dionysischen Prinzip des Menschen erhoben wurde.

Die erste Aufklärung – Es werde Licht!

Die Epoche der Aufklärung

Um aber zunächst einmal die besonders von Georg W. F. Hegel ausgearbeitete „Methodik der Dialektik“ in Anschlag zu bringen, möchte ich nochmals an das Eingangszitat anknüpfen. Wie an diesem Bibelzitat unschwer zu erkennen ist, beginnt die Dialektik hier bereits schon im Schöpfungsakt, in der „Trennung des Lichtes von der Finsternis“ als „Dialektische Aufhebung“ des Widerspruches in dem Dämmerungsflug der Eule der Minerva.

Ebenso scheint hier aber auch die „Licht-Metaphorik“ ihren Ursprung genommen zu haben. Die hier eingeschriebene Dialektik des Lichtes findet sich daher wohl auch nicht rein zufällig in der geschichtlichen Epoche der „Aufklärung“ wieder, da sie ganz dem aufklärerischen Diskurs der damaligen Epoche entspricht:

„»Licht der Vernunft« Nach dem Vorbild der Mathematik als zielgerichtetes Denkvermögen begreift sich die Aufklärung als ein rationales Erhellen jedes denkbaren Sachverhaltes. (Günter Barudio: „Aufklärung“ https://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-476-03526-4_7, S.1)

Im Englischen wird der Begriff der Aufklärung interessanterweise bis heute noch mit „Enlightenment“ (dt. „Erleuchtung„) übersetzt.

Lange Zeit war es aber dunkel im Abendland, da die katholische Kirche mit ihrer Doktrin die Weltanschauungen und Vorstellungen der Menschen bis in das 18. Jahrhundert maßgeblich geprägt und dadurch auch einen immensen Einfluss auf den philosophischen und wissenschaftlichen Diskurs ausgeübt hat. Im Zuge der im Kuhnschen Sinne „naturwissenschaftlichen Revolution“ als Paradigmenwechsel im 16. und 17. Jahrhundert fand mit der geistigen und sozialen Reformbewegung der Aufklärung eine systematische Entmythologisierung des religiös-kirchlichen Diskurses statt. Dieser Säkularisierungsprozess hält bis zum heutigen Tage an und führt zu den zu beobachtenden Erosionserscheinungen nicht nur an den kirchlichen Gebäuden, sondern auch an den Mitgliederzahlen der kirchlichen Glaubensgemeinschaften.

Die „aufklärerische Lichtgestalt“ Immanuel Kant

Auf die Licht-Metaphorik anspielend, darf wohl Immanuel Kant (* 22. April 1724 in Königsberg, Preußen; † 12. Februar 1804 ebenda) mit Fug und Recht als eine der „Lichtgestalten“ der Aufklärung genannt werden, da er zugleich mit seiner Methode der „kritischen Dialektik“ den Grundstein für die spätere Verwendung des Begriffes in der Philosophiegeschichte gelegt hat. In seinem berühmten Aufsatz von 1784 zur Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? heißt es:„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Und um aus dieser „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ den „Ausgang“ zu finden, ruft Kant als Aufklärer dem „Menschen“ ein Horaz-Zitat zu: „sapere aude“ (Horaz Epist. I,2,40 f.), das soviel heißen soll, wie „Wage es, weise zu sein“ oder freier nach Kant übersetzt „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

Die Stoßrichtung Kants oder allgemein der Konzeption Aufklärung ist hier klar ersichtlich. Es ging um nichts Geringeres als die Vormachtstellung der katholischen Kirche in Bezug auf die Deutungshoheit und den Erklärungsbesitz als „Mythos“ oder im „Neusprech“ als „Narrativ“ zu entlarven. Mythen oder Narrative können als sinnstiftende Erzählungen definiert werden, die Einfluss haben auf die Art und Weise, wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen.

Dieser „Framing-Effekt“ der Erzählungen, als unterschiedliche Formulierungen einer Botschaft bei gleichem Inhalt, hat laut der „Theorie der rationalen Entscheidung“ einen deutlichen Einfluss auf das Verhalten des Empfängers. Diesen medientheoretischen Effekt werde ich später noch einmal genauer hinsichtlich des Framings des informationellen Diskurses in der „Dialektik der dritten Aufklärung“ untersuchen. Hier soll es aber zunächst einmal nur um den „Narrativ der Kirche“ mit ihrem „religiösen Rahmen“ und dessen Auflösung in der Aufklärung durch die kritische Dialektik gehen.

Kants Narrativ der „vernünftigen Basis“

Kants Versuch mit Hilfe der kritischen Dialektik die Erkenntnisfähigkeit des Menschen auf eine „vernünftige“ Basis zu stellen, um nicht mehr von einem religiösen Überbau abhängig zu sein, war ja insofern zunächst einmal absolut nachvollziehbar. Hier kommt es wieder zum besagten Kampf der widerstreitenden Götter „Apollon vs. Dionysos“, wobei diesmal der „Logos“ über den „Mythos“ obsiegt. Damit war der „Mythos vom großen Weltenerklärer Kirche“ ein für alle mal obsolet und von fortan sollte nur noch die „reine Vernunft“ aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“ alles regeln und erklären. So weit so gut. Aber bei der Letztbegründung dieses ehrgeizigen Ziels kneift Herr Kant leider und kommt mit der „Transzendentalphilosophie“ daher. Hmh, meines Erachtens gehört dies aber auch wieder in den Bereich des Glaubens. Der Logos macht sich hier selber wieder zum Mythos, da er hier einen neuen Narrativ erschafft.

Okay, die Beweise für diesen neuen Narrativ liefert er uns zwar – wie immer – auf eine sehr vernünftige und kausal-logische Art und Weise, in dem er uns die Prämissen zur menschlichen Erkenntnis liefert, die in jedem Subjekt a priori enthalten sein sollen. Er schafft damit zwar die alte Metaphysik ab, aber installiert gleichzeitig wieder eine neue. Kants Versuch der Aufklärung scheitert in Teilen der Kulturhistorie, da er hierbei leider vergessen hat die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen. Und jetzt ist der „Bus mit der Aufschrift“ „Vernunft“ leider an den meisten Menschen vorbei gefahren und steht an der Endhaltestelle „Wissenschaft“. Die Wissenschaft und insbesondere die moderne Naturwissenschaft hat diese „dionysische Lücke“, die der „gefallene Mythos“ hinterlassen hat genial mit dem Logos ersetzt.

Wir haben hier wieder einen „neuen Mythos/Narrativ, den Weltenerklärer Naturwissenschaft“, der nicht nur an unsere rationale Vernunft appelliert, sondern sogar empirische Beweise liefern kann. Juchu, vermeintlich ist kein Glauben mehr nötig. Aber das ist ebenso wiederum nur ein Glaube. Der Mensch macht sich einfach selbst zum Gott, wie ein 2015 erschienenes, gleichnamiges Buch „Homo Deus“ des israelischen Historikers Yuval Noah Harari als Dystopie des „Internetzeitalters“ entwirft. Doch dazu später mehr, wenn uns „DigiKant“ mit in die „dritte Aufklärung“ nimmt.

Zunächst aber wird die erste Aufklärung Kants kalt von der „Dialektik der Aufklärung“ erwischt, nur diesmal als „universeller Selbstzerstörungsprozess“ in einem „Aufschwung der Mythologie„, als „Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei in der Wirklichkeit„, wie es Adorno und Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ nannten. Insofern möchte ich hier zunächst einmal von einer „zweiten Aufklärung“ als „Aufklärung von der Aufklärung“ sprechen. Der Mythos trägt einen kurzen, aber für die Menschheitsgeschichte verheerenden Sieg am Anfang des 20. Jahrhunderts davon.

Die Dialektik der (ersten) Aufklärung

Die „Dialektik der Aufklärung“ (1944) von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer

Der Begriff der „Dialektik der Aufklärung“ (1944) wird von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in dem gleichnamigen, bahnbrechenden Werk geprägt. Die Schrift bezieht sich auf Motive des anfangs erwähnten Friedrich Nietzsche, dem „unerbittlichen Vollender der Aufklärung“, sowie auf Max Weber und seinem Theorems der „abendländischen Entzauberung der Welt durch Rationalisierung“. Den Auslöser für diese vehemente Aufklärungskritik bilden die genannten, extremen historischen Verwerfungen in der Entstehungszeit von 1938 – 1944 in Form des Triumphes des Faschismuses in Europa und des Monopolkapitalismus als neue Herrschaftsform. Diesen „Herrschaftscharakter“ sehen die beiden Autoren durch den „instrumentellen Vernunftbegriff“ der Aufklärung manifestiert:

„Der einst mythische Zugang zur Welt werde zwar rational aufgeklärt, aber mit der stufenweisen Vervollkommnung der Naturbeherrschung schlage Aufklärung als „Herrschaft über eine objektivierte äußere und die reprimierte innere Natur“ selbst in Mythologie zurück. „Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie“, in eine Mythologie, die im Positivismus des Faktischen kulminiert, welcher die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse als notwendige darstellt und die den „Einzelnen […] gegenüber den ökonomischen Mächten vollends annulliert“ (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Band 5. Fischer, Frankfurt am Main 1987, S. 34. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Dialektik_der_Aufkl%C3%A4rung).

Ich möchte an dieser Stelle nur einen Aspekt, die Kritik an der „Kulturindustrie“, aus dem schon vielfach zitierten Buch herausgreifen, da er in der „Dialektik der zweiten Aufklärung“ auch wieder in abgewandelter Form vorkommt. Adorno und Horkheimer weisen darauf hin, dass es der „Kulturindustrie„, hier insbesondere dem Kinofilm, lediglich um eine kommerzielle Vermarktung von Kultur geht. Sie stellt in einer Massenproduktion die „Ware“ für die Menschen her, die somit nur noch als Konsumenten betrachtet werden. Beide Autoren sehen diese „Kulturindustrie“ als Ausdruck für eine „Aufklärung als Massenbetrug„.

Die Dialektik der zweiten Aufklärung

„Die zweite Aufklärung – Vom 18. ins 21. Jahrhundert“ (1999) von Neil Postman

Und an dieser Stelle kommt Neil Postman mit seinem gleichnamigen Buch „Die zweite Aufklärung – Vom 18. ins 21. Jahrhundert“ ins Spiel, da die „Aufklärung als Massenbetrug“ einer seiner Hauptthesen in dem besagten Buch sind. Zur Erläuterung dieser These als „Dialektik der zweiten Aufklärung“ in der Postmoderne weist er auf das Thema der „Mythen“ und „großen Erzählungen“ (Narrative) hin:

„Ich denke an große Erzählungen – Erzählungen, die tief und komplex genug sind, um Erklärungen hinsichtlich der Herkunft und der Zukunft eines Volkes zu bieten; Erzählungen, die Ideale aufstellen, Verhaltensregeln vorgeben, die Quellen von Autorität benennen und durch all dies eine Dimension von Kontinuität und Sinnhaftigkeit erzeugen. Joseph Campbell und Rollo May haben, wie andere auch, derlei Erzählungen »Mythen« genannt. Marx dachte an solche Erzählungen, wenn er von »Ideologien« sprach. Und Freud nannte sie »Illusionen«. Gleichwohl. Das Wichtige an Erzählungen ist, daß die Menschen nicht ohne sie leben können. Uns ist eine Art von Bewußtsein aufgebürdet, das darauf besteht, daß unsere Existenz einen Sinn hat. Sinnhaftigkeit verlangt einen moralischen Kontext, und der moralische Kontext ist das, was ich unter einer Erzählung verstehe.“ (ebd., S. 84)

Die „Dialektik der Aufklärung in der Postmoderne“ als neuer Narrativ

Aber genau hier schlägt meines Erachtens die „Dialektik der Aufklärung in der Postmoderne“ wieder mit all ihrer Härte zu. Was bleibt denn dann noch am Ende der „Mythen„, der „Ideologien„, der „Illusionen„, der „großen Erzählungen“ übrig auf dem „Seziertisch der Rationalität„? Die Wissenschaften haben doch alle Bereiche des menschlichen Lebens zu ihrem Erkenntnisobjekt erkoren und im „grellen Scheinwerferlicht des Empirismus“ ausgeleuchtet. Vielleicht ist dies eines der Gründe, warum sich einige Menschen wieder an der Irrationalität orientieren wollen und sich zum Obskuren oder Okkulten hingezogen fühlen. Denn wo viel „helles Licht“ ist, gibt es auch mehr „dunklen Schatten“, um in der Lichtmetaphorik der Aufklärung zu bleiben. Die Freunde der „Götterdämmerung“ oder zumindest der „Abenddämmerung“ finden sich zu konspirativen Sitzungen in den entsprechenden Social Medias wieder, wo sie zum Teil „hochwissenschaftlich“ über den „Untergang des Abendlandes“ oder der „Weltverschwörung“ diskutieren.

Hegels Triade aus „These-Antithese-Synthese“ hat in der „Dialektik der zweiten Aufklärung“ somit zu solch absurden Chimären, wie den „aufgeklärten Okkultismus“ oder dem „rationalen Mystizismus“ geführt. Als kleiner Ausschnitt des „irrationalen Biotops“ sei hier nur exemplarisch zum Beispiel einmal auf die „QAnon„-Bewegung, der „Flat Earth Society“ oder des „9/11 Truth Movement“ hingewiesen. Allen derartigen antiaufklärerischen Bewegungen ist aber gemein, dass sie einen fast religiösen, sektenartigen Fanatismus entwickeln, der einen rationalen Zugang der Argumentation nicht mehr ermöglicht. Die Informationsbeschaffung ist durch eine „subjektive Firewall“ nach außen abgeschottet, die alles filtert, was an neuen Erkenntnissen hereinkommt: „One way street – no way out!“. Wer folglich immer in seiner „Filter-Bubble“ oder „Echo-Kammer“ sitzt, muss sich nicht wundern, wenn er irgendwann einmal durch seine eigenen „Feedback-Loops“ in einer Parallelwelt des „digitalen Tribalismus“ (https://www.deutschlandfunkkultur.de/filterblasen-echokammern-co-filtern-als-kulturtechnik.976.de.html?dram:article_id=433306) aufwacht, wenn das überhaupt noch geht.

Doch wie konnte es soweit kommen, warum ist das große Vorhaben der Aufklärung zu „Zeiten der größten Aufgeklärtheit“ so kläglich gescheitert. Noch nie stand einer Generation in der Menschheitsgeschichte eine derartig große Menge an Informationen zur Verfügung, wie Derek de Solla Price in seinem 1963 in den USA erschienenen Buch „Little Science, Big Science“ als „Informationsexplosion“ beschreibt. Diesen absolut antagonistischen Widerspruch zwischen Wissensmenge und Desinformation möchte ich aber noch in einem weiteren, geplanten Essay „Die Informationsgesellschaft 2.0 – wir informieren uns zu Tode“ eingehender untersuchen. An dieser Stelle sei zuerst einmal nur auf die Dialektik der Aufklärung in Postmans Buch „Die zweite Aufklärung“ verwiesen, der hier auf die Form von neuen irrationalen, aber für das jeweilige Individuum sinnstiftenden Narrativen des frühen Internetzeitalters hinweist, die zudem noch zu dem Irrglauben beitragen, dass sie zu so etwas wie „konspirativen Gemeinschaften“ führen könnten:

„Vor allem diejenigen, die den Glauben hegen, EMails und Internet böten neue Möglichkeiten von Gemeinschaften, sollten bedenken, daß wir allzu leicht Simulationen mit Realitäten verwechseln; eine elektronische Gemeinschaft ist bloß die Simulation einer Gemeinschaft.“(ebd., S. 126)

Der Narrativ des Fortschrittsgedankens durch Technologie

Einen weiteren dieser großen Mythen oder Narrative sieht er in der „Erzählung“ vom „Fortschrittsgedanken“ und dessen Umsetzung in Form der manifestierten „Technologie„:

„Der Gedanke, daß wir unsere eigene Zukunft zu gestalten und die Geschichte unserem eigenen Willen zu unterwerfen haben, ist erschreckend und macht den Sinn von Nietzsches ominöser Bemerkung begreifbar, daß Gott tot sei. Wir sind allesamt zu Existentialisten geworden, die sich selbst jene Verantwortlichkeiten auferlegen, die einstmals von Gott und der Geschichte getragen wurden.
Vielleicht liegt es an dieser seelischen Last, daß wir am Fortschrittsgedanken festgehalten haben, freilich in einer Form, die kein Philosoph des achtzehnten oder Erbe der Aufklärung im frühen neunzehnten Jahrhundert je gutgeheißen hätte: an dem Gedanken, daß technologische Innovation ein Synonym für moralischen, gesellschaftlichen und seelischen Fortschritt sei. Es ist, als wäre die Frage, was uns zu besseren Menschen macht, zu schwer, zu komplex – sogar zu absurd -, als daß wir ihr noch nachgehen könnten. Wir haben sie gelöst, indem wir zu Reduktionisten geworden sind; wir überlassen die Angelegenheit unserer Maschinerie.“ (ebd., S. 37)

Auf diese Problematik des Technologiebegriffes war ich ja bereits schon ausführlicher in einem älteren Essay „Das Technopol – Die Macht der Technologien und die Entmündigung der Gesellschaft “ eingegangen, das sich auf das gleichnamige Buch von Neil Postman aus dem Jahre 1992 bezog. Seit den vergangenen 30 Jahren ist aber so einiges an neuen Technologien, besonders im Zusammenhang mit den Informationstechnologien (Computer, Handy, Internet & Co) hinzugekommen, was sich Postman wahrscheinlich nicht erträumt hätte. Daher gibt er hier nur sehr vorsichtige Prognosen zum „Internetzeitalter“ ab, die zum Beispiel hinsichtlich der Möglichkeiten der Manipulation von „politischen Institutionen, besonders hinsichtlich der Wahlen“ schon längst als Realität gelten. Die illegale Auswertung („Microtargeting„) von über 85 Millionen Facebook-Profilen durch das britische Datenanalyse-Unternehmen „Cambridge Analytica“ (SCL-Group) und das anschließende „Blackmailing„, indoktrinierende Posts („Scams„) auf Facebook um Wahlentscheidungen zu manipulieren und der anschließenden Löschung dieser Posts, ist mittlerweile belegt. Die im großen Stile durchgeführten Manipulationen an demokratischen Wahlentscheidungen, lassen sich an dem „Brexit-Votum2016 und dem „amerikanischen Präsidentschafts-Wahlkampf2017 nachweisen (https://www.deutschlandfunkkultur.de/netflix-doku-ueber-cambridge-analytica-wenn-daten-die-welt.1013.de.html?dram:article_id=454606).

Postman konnte dies vor 30 Jahren selbstverständlich nur erahnen, daher schreibt er hier vorsichtig:

„In ihrem Buch Release 2.0. Die Internetgesellschaft. Spielregeln für unsere digitale Zukunft versucht Esther Dyson diejenigen zu beruhigen, die sich über die neue elektronische Welt allzu viele Sorgen machen; die menschliche Natur bleibe dieselbe. Natürlich. Wenn wir unter »menschlicher Natur« unsere genetische Struktur oder unsere biologischen Bedürfnisse oder unsere grundlegenden Emotionen verstehen, wird niemand behaupten, daß die Technologie die menschliche Natur verändern wird (jedenfalls nicht sehr). Aber um die menschliche Natur geht es hier nicht. Es geht um die Veränderungen unserer psychischen Gewohnheiten, unserer sozialen Beziehungen und ganz gewiß unserer politischen Institutionen, besonders hinsichtlich der Wahlen. Nichts ist so offenkundig wie die Tatsache, daß eine neue Technologie den politischen Diskurs verändert. Sie tut dies, indem sie bestimmte Arten, den Intellekt einzusetzen, ermutigt, bestimmte Definitionen von Intelligenz begünstigt und eine bestimmte Art von Inhalten verlangt. (ebd., S. 45)

Das „Beruhigungsmittel“ von Esther Dyson scheint aber heutzutage irgendwie nicht mehr zu wirken, denn „daß die Technologie die menschliche Natur verändern wird (jedenfalls nicht sehr)“ gilt mittlerweile auch eher als eine überholte Hoffnung. Das Postulat, dass das „Bit from it“ stammt, kann im neuen „Internetzeitalter“ nicht mehr aufrecht bleiben, sondern pervertiert sich in einer neuen „Dialektik der dritten Aufklärung“ in ein „It from bit“ um.

Die Dialektik der dritten Aufklärung

„Philosophie in der digitalen Welt – DigiKant oder: Vier Fragen, frisch gestellt“ (2019) von Florian Felix Weyh

Hieran knüpft nun der 2019 im Deutschlandfunk erschienene Essay „Philosophie in der digitalen Welt – DigiKant oder: Vier Fragen, frisch gestellt“ von Florian Felix Weyh an, der Postmans „Dialektik der zweiten Aufklärung“ als Update 2.0 für das von ihm so titulierte „Internetzeitalter“ aktualisiert. Einerseits treibt er die Aufklärungskritik der „Dialektik der zweiten Aufklärung“ noch weiter, da er auf die aktuellen technologischen Möglichkeiten des Internets verweist. Postman, der aus dem „Fernsehzeitalter“ (ca. 1950 – 2000) stammte, konnte dies selbstverständlich nur erahnen. Anderseits geht er aber nochmals an den Anfang zu Kants aufklärerischen Projekt der vier Fragen „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ zurück, um ihn dann als „DigiKant“ in das „späte Internetzeitalter“ nach 2050 zu schicken. Damit schließt sich nun der Kreis der Hegelschen Dialektik von „These-Antithese“ wieder in einer neuen „Synthese“. Die „Negation der Aufklärung“ ist nun selber wieder zur „dialektischen Aufhebunggeworden, weshalb ich hier den Titel einer „Dialektik der dritten Aufklärung“ gewählt habe.

Weyh greift hier das zu anfangs bereits erwähnte, alte Narrativ der „Religion als Welterklärungsmuster“ auf, in dem er die „Digitalität als kontrollierbare Anwendertechnologie“ ebenso als Mythos entlarvt, „wie ein Teufelsaustreiber des 18. Jahrhunderts, der sich gegen die wissenschaftliche Medizin wendet?“ (ebd., S. 1) Das angebliche Recht auf „Privatsphäre, Individualität“ oder „informationeller Selbstbestimmung“ werden in der „Dialektik der dritten Aufklärung“ als „quasi-religiöse Dogmen“ stigmatisiert, die von der „Digitalisierung 2.0“ als „technische Wirklichkeit ad absurdum geführt werden“.

Der neue Narrativ des Internetzeitalters lautet „It from bit.“, der aus einem Vortrag des Physikers John Archibald Wheeler aus dem Jahre 1989 stammt. In diesem Zusammenhang präzisiert Wheeler seine These:„Information kann nicht nur das sein, was wir über die Welt ‚lernen’. Sie kann das sein, was die Welt ‚macht‘. […]“

Was ist der Mensch?: Der neue Narrativ des Internetzeitalters „It from bit“

Auf diesem Missstand in der „Dialektik der Ersten Aufklärung“ weist Weyh hin, indem er auf die Pervertierung der Ontolgie „bit from it“, des alten marxistischen Leitspruchs „das Sein bestimmt das Bewusstsein“ hinweist:

„Damit wäre dann die Erste Aufklärung – die des 18. bis 20. Jahrhunderts – fragwürdig geworden, denn sie basierte auf dem umgekehrten Prinzip: Als sie den Menschen vom unreflektierten Glauben emanzipierte, stellte sie die intellektuellen Verhältnisse von Metaphysik auf Physik um, von Glauben auf Denken, Schlussfolgern, Rationalität. Das aber war: „bit from it.“
Bit from it: Erst ist da die Welt, dann kommt die Information über sie. Man begreift die Welt, indem man ihr Informationen abringt. Wissenschaft und Technik, Gesellschaft und Politik funktionieren nach Regeln und Heuristiken, die sich in der physischen Welt bewährt und als wahrheitsfähig erwiesen haben, nicht länger nach Postulaten, die man einem Alten oder Neuen Testament entnommen hat.“ (ebd., S. 3)

Das große Narrativ des Internetzeitalters „Big Data“ als „Homo Deus“

Damit sei im späteren „Internetzeitalter“ im Jahre 2050 endgültig Schluss. Marshall McLuhan hatte in seinem 1964 erschienenen sehr einflussreichen Buch „Understanding Media: The Extensions of Man“ schon darauf hingewiesen, dass „das Medium die Botschaft ist“. Der logische Übergang von der McLuhan-Galaxis (Manuel Castells) zur Turing-Galaxis (Volker Grassmuck) stellt dann für Weyh nur einen kleinen, aber für Menschheit einen „großen Schritt“ dar. Die Information des Mediums wird nun selber zum „Trägermaterial des Seins“ oder anders ausgedrückt: „Wir sind unsere Informationen.“

Dies knüpft ebenso nahtlos an das große Narrativ des „Big Data an, auf den ich in meinem vorherigen Essay „Das System braucht neue Strukturen – nicht nur für/gegen die künstliche Intelligenz“ schon ausführlicher eingegangen bin. Die Auswirkungen, die ein solches großes Projekt der Menschheit auf die zukünftigen Gesellschaftsformen und die Medienwirklichkeit hat, wurde zum Beispiel schon von Steve Lohr seinem BuchData-ism: The Revolution Transforming Decision Making“ (2015) untersucht.

Dass diese Zukunftsvisionen sogar konkrete Auswirkungen auf das menschliche Dasein haben könnten, davon ist zum Beispiel Raymond Kurzweil, ein Erfinder und Unternehmer, der bei der Sprach- und Mustererkennung als Software-Pionier großes geleistet hat, fest überzeugt. Er geht von der Idee einer „Singularität“ aus, bei der ähnlich wie bei den normalen Gesetzen der Physik ihre Gültigkeit verlieren, sich die grundsätzliche Vorstellung von dem, was ein Mensch ist und was ihn ausmacht, bis 2045 radikal verändern wird. Kurzweil stellt eine Prognose auf, dass es nur eine Frage der Zeit und der damit einhergehenden Komplexität der Technologie sei, bis es gelänge, die Informationen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens gespeichert hätte auf eine Maschine zu übertragen und damit Unsterblichkeit zu erlangen, nicht mehr im Sinne von „rest in peace“, sondern als „rest in bits“.

Elon Musk, der ebenfalls von dieser Vision überzeugt ist, hat zum Beispiel das Unternehmen „Neuralink2016 gegründet, um im Bereich der Behandlung von schweren Erkrankungen des Gehirns sowie des zentralen Nervensystems zu forschen. Es sei jedoch durchaus auch ein erklärtes Ziel, die technische Erweiterung des menschlichen Körpers („Human Enhancement“) im Sinne eines Transhumanismus, in Form von so genannten „Brain-Computer-Interface“, die eine Kommunikation zwischen dem menschlichen Gehirn und Computern ermöglichen würden, herzustellen (https://industriemagazin.at/a/neuralink-elon-musk-will-menschheit-bald-unsterblich-machen).

In das gleiche Horn pustet der bereits erwähnte Historiker Yuval Noah Harari, der in seinem 2016 erschienenen Buch „Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen“ argumentiert, dass alle konkurrierenden politischen oder sozialen Strukturen als Datenverarbeitungssysteme angesehen werden können:

„Der Dataismus erklärt, dass das Universum aus Datenströmen besteht, und der Wert jedes Phänomens oder jeder Entität wird durch seinen Beitrag zur Datenverarbeitung bestimmt“ und „Wir können die gesamte menschliche Spezies als ein einziges Datenverarbeitungssystem interpretieren, wobei der einzelne Mensch als dessen Chip dient.“ (Yuval Noah Harari: „Homo Deus: A Brief History of Tomorrow“, 2017, S.445)

Weyh sieht diesen Aspekt der „Menschwerdung in silico“ eher in einem „dystopischen Licht“, da er auch hier wieder auf die Dialektik der Aufklärung zurückkommt:

„Die Erste Aufklärung hat Gott vermenschlicht, die Zweite wird den Menschen entgöttlichen; jedenfalls in der Art, in der er sich selbst zum Schöpfer erkor. Mit der Digitalisierung ging er einen Schritt zu weit. Sie veränderte den humanen Code so, dass der Mensch am Ende seine Macht wieder verlieren muss, die er zwischenzeitlich durch die Maschinen gewonnen zu haben schien. Er diffundiert in eine schwer fassbare Entität hinein, in ein vielleicht beglückendes Wir, das ohne Ichs auskommt. Damit entsteht, Ironie der Geschichte, ein echter kollektiver Souverän und kein bloß metaphorischer mehr wie in der parlamentarischen Demokratie. Rückwirkend erweist sich diese Demokratie als Biotop, in dem der massenhaft auftretende, narzisstische Prothesengott am besten gedieh. Im Jahr 2050 wird er fast drei Jahrhunderte lang viel Unheil angerichtet haben. Ist sein Verschwinden Grund zur Sorge? Uns Heutigen, den Akteuren der Übergangsphase, riet jedenfalls 2014 der KI-Forscher Jürgen Schmidhuber zu Gelassenheit: „Umarmen wir das Unvermeidliche!“
Oder schalten wir den Strom ab. (ebd., S. 13)

In diesem Sinne möchte ich auch gerne noch einmal auf die Risikofolgenabschätzungen für eine künstliche Intelligenz aus meinem vorhergehenden Artikel „Das System braucht neue Strukturen – nicht nur für/gegen die Künstliche Intelligenz“ verweisen, da die Menschhheit mit dem „es werde endlich Licht, um den „Stromschalter zu finden und abzuschalten“, noch nicht so richtig voran kommt. Mit der Frage aber, „warum es scheinbar bei soviel Licht so schwer fällt den richtigen Schalter zu finden“, möchte ich mich in meinem nächsten Essay „Die Informationsgesellschaft 2.0 – oder wir informieren uns zu Tode“ eingehender beschäftigen.

Ich bin immer mit meiner „Diogenes-Lampe“ unterwegs, um Menschen zu finden, die sich auch nach ein wenig „Licht der Erkenntnis“ sehnen. Also wenn Ihr eigene Beiträge oder Posts für meinen Wissenschaft-/Philosophie-Blog habt, immer her damit. Sie werden mit Eurem Namen als Autor auf meiner Seite veröffentlicht, so lange sie den oben genannten Kriterien entsprechen. Denn nur geteiltes Wissen ist vermehrtes Wissen.
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Axel Stöcker
2 Jahre zuvor

Hallo Dirk,
da hast Du mal wieder den ganz großen Bogen geschlagen. Sehr interessanter Beitrag, Glückwunsch! Und extrem anregend! Eben, wer sagt denn, dass es das schon gewesen sein soll, mit „der“ Aufklärung. Warum soll die schon der Weisheit letzter Schluss gewesen sein?
Ich fange jetzt einfach mal am Ende an, bei dem Satz
„Die Information des Mediums wird nun selber zum „Trägermaterial des Seins“ oder anders ausgedrückt: „Wir sind unsere Informationen.“
Da stellt sich mir allerdings die Frage, ob das neu ist. Natürlich sind wir unsere Informationen. Ich meine, was ist der Unterschied zwischen unsereinem und einem Gemisch aus 50kg Sauerstoff, 15kg Kohlenstoff, 8kg Wasserstoff, ein bisschen Stickstoff und ein paar anderen Elementen? Natürlich sind es nicht die Elemente, sondern die in der Anordnung gespeicherte Information, die uns ausmacht. Insofern ist Information das Trägermaterial des Seins, ja. Eine ganz andere Frage ist freilich, ob Information immer einen materiellen Träger braucht. Falls nein, wären wir dann wieder beim Geist? Falls ja, stellt sich die Frage, ob dieser Träger wirklich beliebig ist. Dann wäre Kurzweils Prognose, dass wir auf Rechnern Unsterblichkeit erlangen können, wohl realistisch. Aber ich habe meine Zweifel, ob das tatsächlich gehen kann. Vielleicht gibt es doch eine Verbindung zwischen der Trägersubstanz und der Information, die wir noch nicht verstehen. Wobei ja gar nicht geklärt ist, inwiefern Materie überhaupt „materiell“ ist. Ist vielleicht der Körper ist eine Erfindung der Seele, wie Gómez Dávila meint?

Eine andere Sache würde mich noch interessieren: Wo positionierst Du Dich zwischen Logos und Mythos oder, sagen wir, zwischen Aufklärung und Romantik? Mit QAnon hast Du gleich eines der allergruseligsten Beispiele der „Unaufgeklärten“ gewählt. Man hätte ja auch Panatheisten als Beispiel für einen gemäßigten und in meinen Augen auch legitimen „okkulten“ Standpunkt nehmen können, Und andererseits treibt, wie Du ja auch schreibst, die „aufgeklärte“ Seite in Positivismus und Physikalimus ebenfalls sektiererische Blüten. Wo positionierst Du Dich? Und können wir auf die „Okkulten“ verzichten? Wir würden ohne den Schatten das Licht gar nicht erkennen, oder? Luzifer heißt bekanntlich Lichtträger.
So viel für heute.
Liebe Grüße
Axel

Holger
Holger
1 Monat zuvor
Reply to  Axel Stöcker

Luzifer heißt bekanntlich Lichtträger“

Da geht es um den Morgenstern / Abendstern. Auch Jesus heißt Lichtbringer / Lichtträger – und Horus und auch Eosphoros / Phosphoros ->

https://www.mythologie-antike.com/t23-gott-eosphoros-phosphoros-lichttrager-lichtbringer-morgenstern

Axel Stöcker
2 Jahre zuvor

Lieber Dirk,

ich habe mir jetzt den Digikant vom Deutschlandfunk zu Gemüte (?) geführt. Es friert mich noch ein bisschen (ich musste mir ein Glas Cabernet Sauvignon zuführen), vor allem aber schwirrt mir der Kopf: It from bit – bit from it.
Ich versuche das mal zu ordnen und mir ein paar unreife Gedanken zu machen (auf die Gefahr hin, dass ich mir hier vor Weltöffentlichkeit 😉 blamiere):

Alt:
bit from it, soll heißen: wir gewinnen die Information aus dem Sein, oder: Es gilt das Primat des Seins, es ist zuerst da und wir versuchen es zu verstehen „Man begreift die Welt, indem man ihr Informationen abringt.“

Neu:
it from bit, soll heißen: Wir gewinnen die Informationen nicht, sondern wir sind sie. Es gilt das Primat der Informationen, ohne Informationen kein Sein, „Wir sind unsere Informationen“. Falls es überhaupt ein Begreifen gibt, dann … begreift die Welt uns?

Hm. Vermutlich liegt es daran, dass ich es noch nicht verstanden habe, aber ich würde sagen, dass der Begriff Information hier in unterschiedlichen Kontexten gebraucht wird. Die Informationen die jemand (ein Subjekt – da sind wir natürlich gleich wieder beim Problem 😊) seiner Umwelt abringt einerseits und die Informationen, die dieser jemand notwendigerweise enthalten muss, um komplex genug zu sein, um diesen Erkenntnisprozess überhaupt leisten zu können andererseits.

Ich würde sagen: it from bit, das galt schon immer und bit from it, das gibt es, seit die Menschen (mal wieder) Bewusstsein haben und denken. Bit from it setzt eine Trennung in Subjekt und Objekt voraus. Bei it from bit bin ich mir da noch nicht sicher.
Verschwindet bit from it im Zuge von Big Data wieder? Ist das die Befürchtung? Dann wäre das Naschen vom Baum der Erkenntnis eine 2000-jährige Episode gewesen und das Internet ein unheiliges Nirwana, in dem Informationen vor der Auslöschung bewahrt werden. Aber eben so wie der Wassertropfen, den man dafür bekanntlich ins Meer geben muss. Der „kollektive Souverän“ wie Du schreibst.

Nichts gegen ein kollektives Besäufnis, aber den Kater muss dann doch jeder mit sich selbst ausmachen, oder nicht?

So viel für heute.
Liebe Grüße
Axel

Axel Stöcker
2 Jahre zuvor

Lieber Dirk,
danke für Deine aufschlussreiche Antwort. Du hast recht: Ich gehe den letzten konsequenten Schritt nicht. Das könnte am Altersstarrsinn liegen, aber ich bin mir auch nicht sicher ob der Schritt tatsächlich konsequent, also folgerichtig ist.
Ich spiele also mal advocatus diaboli bei Wehs Beispiel.

„Information kann nicht nur das sein, was wir über die Welt ‚lernen’. Sie kann das sein,
was die Welt ‚macht‘. […] Wenn ein Photon absorbiert und dadurch ‚gemessen’ wird –
bis zu seiner Absorption hat es keine Wirklichkeit –, wird ein unteilbares InformationsBit zu dem hinzugefügt, was wir über die Welt wissen, und gleichzeitig determiniert das Informations-Bit die Struktur eines kleinen Teils der Welt. Es ‚schafft‘ die Realität von Zeit und Raum dieses Photons“

Okay, „gemessen“ steht in Anführungszeichen, da es keinen Messenden gibt, sondern nur eine Wechselwirkung. Aber die Formulierung danach: „wird ein unteilbares InformationsBit zu dem hinzugefügt, was wir (!!) über die Welt wissen“

Wer ist wir, wenn alles ein Informationsbrei ist? Sobald wir von „wir“ sprechen, sind wir doch in einer lupenreinen Subjekt-Objekt-Spaltung, oder nicht? Und ich fürchte, wenn man die fallen lässt, kann man über die Welt auch nichts mehr sagen. Wenn es nicht einmal Weh hinbekommt. Im Nirvana ist es still. Aber so lange wir Wissenschaft betreiben wollen …

So weit dieser kurze Gedanke.
Schöne Grüße
Axel

Philipp
Philipp
2 Jahre zuvor

Hallo zusammen,

Axel schreibt: „Wer ist wir, wenn alles ein Informationsbrei ist? Sobald wir von „wir“ sprechen, sind wir doch in einer lupenreinen Subjekt-Objekt-Spaltung, oder nicht? Und ich fürchte, wenn man die fallen lässt, kann man über die Welt auch nichts mehr sagen. Wenn es nicht einmal Weh hinbekommt. Im Nirvana ist es still. Aber so lange wir Wissenschaft betreiben wollen …“

Ein Kommentar dazu: Die Subjekt-Objekt Spaltung lässt sich durch eine strukturelle oder relationale Weltanschauung aufheben. Axel fragt „Wer sind wir?“. In einer strukturellen Metaphysik sind wir der Prozess zwischen der Umwelt und unserem Organismus. Das Erleben des Organismus wird somit selbst „objektiv“ insofern als dass das Erleben nicht mehr radikal-qualitativ vom Rest der Welt abgetrennt wird.

Ein Beispiel wäre das Erleben von Farben. Sind Farben ein subjektives Phänomen oder objektiver Bestandteil der Welt unabhängig von Beobachtern? Ich würde sagen: weder noch. Das Erleben von Farben steckt weder im Subjekt als „subjektives Phänomen“, noch sind Farben Bestandteil der „objektiven Welt“, ohne das ein Erleben von Organismen notwendig wäre. Was sind Farben dann und wo befinden sie sich? Das Erleben von Farben ist der relationale physische Prozess zwischen dem Organismus und seiner Verbindung mit der Umwelt selbst. Dieser relationale Prozess ist wiederum ein „objektiver“ Bestandteil der Welt.

Farben, hier als Beispiel gewählt, existieren nur solange es Organismen gibt die Farben in Interaktion mit der Welt wahrnehmen können. Farben sind deshalb nicht rein in einem Subjekt lokalisiert, d.h. kein „Bewusstseinsphänomen“, sondern die Interaktion zwischen Organismus und Umwelt manifestiert Farben als realen Bestandteil der physischen Welt.

Philipp

Philo Sophies
1 Jahr zuvor

Dear i.,

thank you very much for your comment and your remarks, to which I would like to go into a little more detail here, if it is permitted.

The quotes from my overall essay are unfortunately taken out of context and placed in a distorted context, which I would like to „straighten out“ a bit here.

Regarding your comment that „The Tao“ would be left at the „end of the „myths“, the „ideologies“, the „illusions“, the „grand narratives“ on the „dissection table“ of rationality“. Why not? Even Taoism is an inherently coherent way to access the world. It is in any case less irrational and occult than the narratives of postmodernism. If I may quote here again from the full essay for the sake of completeness:

„The Dialectic of Enlightenment in Postmodernism“ as a new narrative

But it is precisely here, in my opinion, that the „dialectic of enlightenment in postmodernity“ strikes again with all its severity. What then remains at the end of the „myths“, the „ideologies“, the „illusions“, the „grand narratives“ on the „dissecting table of rationality“? The sciences have chosen all areas of human life as their object of knowledge and have illuminated them in the „glaring spotlight of empiricism“. Perhaps this is one of the reasons why some people want to orient themselves again to irrationality and feel attracted to the obscure or occult. Because where there is a lot of „bright light“, there is also more „dark shadow“, to stay in the light metaphor of the Enlightenment. The friends of the „twilight of the gods“ or at least of the „twilight of the evening“ find themselves in conspiratorial meetings in the corresponding social media, where they discuss the „downfall of the Occident“ or the „world conspiracy“, sometimes in a „highly scientific“ manner.

Hegel’s triad of „thesis-antithesis-synthesis“ has thus led in the „Dialectic of the Second Enlightenment“ to such absurd chimeras as „enlightened occultism“ or „rational mysticism.“ As a small excerpt of the „irrational biotope“ only exemplarily the „QAnon“-movement, the „Flat Earth Society“ or the „9/11 Truth Movement“ may be mentioned here. What all such anti-enlightenment movements have in common is that they develop an almost religious, sect-like fanaticism that no longer allows a rational approach to argumentation. The procurement of information is sealed off from the outside by a „subjective firewall“ that filters everything that comes in in terms of new knowledge: „One way street – no way out! Who consequently always sits in his „filter bubble“ or „echo chamber“, does not have to be surprised if he wakes up sometime through his own „feedback loops“ in a parallel world of „digital tribalism“ https://philosophies.de/index.php/2022/01/21/digitaler-tribalismus/), if that is still possible at all.“

And to your comment „The problem with speculative statements like this is that they are only true to the degree to which they are true, and the degree to which they are true is unknown, necessarily.“, I would like to question, based on the above examples, whether this is just a „speculative statements“ or whether these phenomena do not already determine the discourse in the social media for a long time. In the sense of Foucault’s concept of power, it is a question of clarifying who benefits from this new epistem of irrationality. And that the statements on the „first“ „Dialectic of Enlightenment“ by Adorno/Horkheimer are also true in the „measure in which they are true, and the measure in which they are true“ is necessarily known, since the Frankfurt School is known to have referred to the atrocities of the Nazis. The measure of truth was „exceeded“ in this case.

Incidentally, among the foreign philosophers who paid their respects to the Dialectic of Enlightenment, Michel Foucault is among the most notable. Among the theoretical commonalities between them is the thesis that rationality and structures of domination or mechanisms of power are closely linked. Foucault expresses his appreciation in 1978 as follows:

„When I acknowledge the merits of the Frankfurt School philosophers, I do so with the guilty conscience of someone who should have read their books earlier, should have understood them earlier. If I had read their books, I would not have had to say a lot of things, and I would have been spared errors. Perhaps if I had known the philosophers of this school in my youth, I would have been so enthusiastic about them that I could have done nothing but comment on them.“
(Michel Foucault: 1996, Man is an Experiential Animal. Conversation with Ducio Trombadori. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, p. 82)

Thank you for your interest and
many greetings