Der Geist in der Materie

Der Geist in der Materie

Der Geist in der Materie – oder immer Ärger mit dem Lemma –

„Geist <–> Materie“ – das Dilemma

Wer weiß, ob die Geschichte anders verlaufen wäre, wäre dem 23-jährigen, jungen Mann, in der Winternacht 1619, im dreißigjährigen Krieg, unweit von Ulm, nicht einfach der warme Kachelofen in der Bauernstube ausgegangen. Dann hätte er vielleicht nicht (aus Langeweile) meditiert und es wäre nicht zu diesem Jahrhundertwerk „Meditationes de prima philosophia, in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur(lat. „Meditationen über die Erste Philosophie, in welcher die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele bewiesen wird“) von 1641 gekommen. Als Basis seiner Philosophie stellt er ein erkenntnistheoretisches Postulat auf, mit dem er quasi als Slogan – oder neusprachlich Meme – gleichgesetzt werden kann mit: „Cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich.), welches dann auch letztendlich zur Begründung seiner Metaphysik dient.

Renè Descartes

Wer weiß, vielleicht wäre uns vieles erspart geblieben. Aber eines ist sicher, ab da an, war nun der „Leib-Seele-Dualismus“ bestehend aus den „res cogitans“ (den gedachten/zweifelnden Dingen = Geist) und den „res extensa“ (den ausgedehnten/körperlichen Dingen = Materie) unwiederbringlich in die Welt gesetzt. Die Rede ist natürlich von René Descartes (latinisiert Renatus Cartesius; * 31. März 1596 in La Haye en Touraine; † 11. Februar 1650 in Stockholm), der ein französischer Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler war.

Die wissenschaftliche Methodik

Descartes Hauptwerk „Meditationes de prima philosophia“ von 1641 hatte eine bahnbrechende Wirkung auf den philosophischen, aber auch naturwissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit und darüber hinaus (vielleicht sogar bis heute).

„Von dem Historiker und Philosophen Wilhelm Kamlah wurde Descartes als erster herausragender Repräsentant der in der oberitalienischen Werkstättentradition der Renaissance entwickelten „Neuen Wissenschaft“(-sauffassung) mit ihrer spezifischen methodisch durchgeklärten Verbindung von mathematischer Theorie und technischer Empirie gewürdigt, die zur Grundlage des modernen Szientismus wurde. Deswegen werde er als „erster philosophischer Dogmatiker der Mechanik […] sachlich und historisch umfassender“ verstanden denn als „Philosoph des cogito sum, der Entdeckung des Selbst aus dem Zweifel“(https://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Descartes)

Descartes Philosophie ist von dem Impetus getrieben, die altscholastische Schule aufzuräumen und alles, was nicht beweisbar ist einfach raus zu schmeißen.

„Die in Discours de la méthode von Descartes ausführlich formulierte philosophische Methode wird in vier Regeln (II. 7–10) zusammengefasst:
Skepsis: Nichts für wahr halten, was nicht so klar und deutlich erkannt ist, dass es nicht in Zweifel gezogen werden kann.
Analyse: Schwierige Probleme in Teilschritten erledigen.
Konstruktion: Vom Einfachen zum Schwierigen fortschreiten (induktives Vorgehen: vom Konkreten zum Abstrakten)
Rekursion: Stets prüfen, ob bei der Untersuchung Vollständigkeit erreicht ist.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Descartes)

Der Skeptizismus

Dieses methodische Vorgehen in der Philosophie darf man durchaus mit der naturwissenschaftlichen Methodik vergleichen. So geht auch die erste Meditation „Woran man zweifeln kann“ auf den Wahrheitsgehalt der sinnlichen Wahrnehmung ein, da sie nicht frei von Täuschungen sein kann (Descartscher Dämon). Hieraus leitet sich ein Skeptizismus ab, der selbst das Wissen über die Wirklichkeit einer Außenwelt in Frage stellt und im Solipsismus mündet. Wenn man natürlich so weit gegangen ist, dass man alles anzweifelt (selbst die eigene Wahrnehmung) ist man selbstverständlich irgendwann gezwungen, wieder Boden unter die Füße zu bekommen und eine Verortung des eigenen Denkens vorzunehmen, um wieder einen Fixpunkt zu erhalten. Und hier kommt Descartes in seiner zweiten Meditation „Über die Natur des menschlichen Geistes; dass er der Erkenntnis näher steht als der Körper“ auf die geniale Idee (die übrigens schon Aurelius Augustinus (354 – 430) hatte) sich selbst als Bezugspunkt zu nehmen.

„Zweifellos bin also auch Ich, wenn er mich täuscht; mag er mich nun täuschen, so viel er kann, so wird er doch nie bewirken können, daß ich nicht sei, so lange ich denke, ich sei etwas. Nachdem ich so alles genug und übergenug erwogen habe, muß ich schließlich festhalten, daß der Satz ‚Ich bin, Ich existiere‘, so oft ich ihn ausspreche oder im Geiste auffasse, notwendig wahr sei.“ (René Descartes: „Philosophische Schriften in einem Band“, 1996, 2. Meditation, Absatz 3, S. 45.)

Der Dualismus „res cogitans“ vs. „res extensa“

Den einzigen Schönheitsfehler, den dieser „Hutzauber-Trick“ hatte, war der, das von nun an der „Leib“ und die „Seele“ oder der „Geist“ und die „Materie“ eine condicio sine qua non bildeten. Wenn ich natürlich alles anzweifele, brauche ich einen sicheren Bezugspunkt meines Denkens, also muss ich zwingend das Denken „res cogitans“ von dem Körper „res extensa“ trennen, damit mich nicht eines der beiden betrügt. Heute würde man vielleicht despektierlich von einer „paranoiden Persönlichkeitsstörung“ bei dieser Menge an Zweifeln sprechen, wenn man nicht wüsste, dass es sich hierbei um eine philosophische Methodik handelt. Aber da der naturwissenschaftliche Diskurs zur Zeit der Rennaissance en vogue war, hatte Descartes Metaphysik eine abstrahlende Wirkung auf die Philosophie, aber auch auf die Naturwissenschaft (Physik, Astronomie, Physiologie) selber.

„Ich kann mir klar und deutlich vorstellen, dass Geist ohne Materie existiert. Was man sich klar und deutlich vorstellen kann, ist zumindest prinzipiell möglich. Also ist es zumindest prinzipiell möglich, dass Geist ohne Materie existiert. Wenn es prinzipiell möglich ist, dass Geist ohne Materie existiert, dann müssen Geist und Materie verschiedene Entitäten sein. Da also Geist und Materie verschiedene Entitäten sein müssen, ist der Dualismus folglich wahr.“(René Descartes: Meditationes de prima philosophia. (1641), S. 98)

Descartes Dilemma

Und zack, schon sind wir bei dem Dilemma, das bei Descartes schon angelegt war. Der Dualismus zwischen zwei scheinbar unvereinbaren Dingen, wie Geist und Materie. Das Dilemma bestand fortan nun darin, dass man fein säuberlich zwischen den Dingen, die den Geist betreffen – also z. B. den rationalistischen Geisteswissenschaften – und den Dingen, die die Materie betreffen – also z. B. den materialistischen Naturwissenschaften – unterscheiden musste, damit bloß keine Vermengung der Entitäten stattfinden und damit unsicherer Boden betreten werden möge. Insofern ist der Vorwurf der Basislegung für den späteren Szientismus durchaus begründet. Descartes Substanzdualismus ist in dem substanzdualistischen Interaktionismus aufgegangen, den zum Beispiel Karl Popper („Drei-Welten-Theorie„) und John Eccles vertreten.

„Geist = Materie“ – das Monolemma

Der vermeintliche Auslöser des ganzen Monolemmas (Neologismus: eine Wahl, bei der man eigentlich keine Wahl hat) war interessanterweise wieder eine banale Begebenheit, ein Sommerspaziergang eines 17-jährigen, jungen Mannes in der Umgebung von Wien:

„An einem heiteren Sommertage im Freien erschien mir einmal die Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend. Obgleich die eigentliche Reflexion sich erst später hinzugesellte, so ist doch dieser Moment für meine ganze Anschauung bestimmend geworden.“ (Ernst Mach:“Beiträge zur Analyse der Empfindungen“ (1886), S. 23)

Wir hätten zwar gerne gewusst, was dieser junge Mann da „geraucht“ hatte, denn aus dieser emotionalen Schwärmerei entstanden ernste Konsequenzen. Sein späteres Werk „Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886) hatte leider auch Auswirkungen auf die neu gegründete Sinnesphysiologie und wissenschaftliche Erkenntnistheorie.

Ernst Mach

Dieser junge Mann war Ernst Waldfried Josef Wenzel Mach (* 18. Februar 1838 in Chirlitz bei Brünn, Kaisertum Österreich; † 19. Februar 1916 in Vaterstetten, Königreich Bayern). Mach vertrat die erkenntnistheoretische Position, dass sich alle mentalen Zuständen des Gehirns, aber auch die Objekte der Außenwelt letztlich auf rein empirische Entitäten zurückführen lassen. Er war ein österreichischer Physiker, Sinnesphysiologe, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker, sowie ein Pionier der gerade entstehenden Wissenschaftsgeschichte. Mach wird als Mitbegründer und Vertreter des Wiener Positivismus und logischen Empirismus bezeichnet, was an den folgenden Kernaussagen zur Erkenntnistheorie abzulesen ist:

„Die Quelle aller menschlichen Erkenntnis ist das „Gegebene“.
1. Gegeben ist nur eine Mannigfaltigkeit von Sinneseindrücken (Empfindungen).
2. Nicht gegeben ist alles, was zusätzlich zu den Inhalten der sinnlichen Wahrnehmung die „Welt“ konstituiert.
3.  Die Unterscheidung zwischen Ich und Welt ist haltlos.
4.  Es gibt keine metaphysische Erkenntnis über außersinnliche Realität.
In der Wissenschaftstheorie verstand er die Wissenschaften als Mittel, die Welt und die Empfindungen der Menschen möglichst einfach und neutral zu beschreiben. Außerdem verlangte er als Leitkultur der Wissenschaft einen Reduktionismus ohne Kompromisse. Aus diesem Grunde sah er als eigentliche Grundlage eines aufgeklärten Weltverständnisses die Physik und die Psychologie an. Physikalische Theorien seien, ähnlich wie psychologische, nur mathematisch organisierte Naturbeschreibungen. Diskussionen über den Wahrheitsgehalt von Theorien seien daher überflüssig. Allein der Nutzen sei relevant. Wahrheit existiere nicht für sich, sondern als eine temporäre Diskussions-Wahrheit, die nach evolutionären Gesetzen zustande kommt: Nur die stärksten, also ökonomischsten und empirisch klarsten, Ideen setzen sich durch.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Mach)

Machs Monolemma

Starker Tobak, der letztendlich in dieser reduktiven Form bedeutet, dass alles auf die Sinneseindrücke (Empfindungen) zurückzuführen sei. Für Mach herrscht nur dieses eine Monolemma, wonach es nichts Metaphysisches/Immaterielles – also auch keinen Geist – gibt. Für ihn gibt es allein die „Einheit von Ich und Welt“ (Sein und Bewusstsein). Alle sinnesphysiologischen Vorgänge wie Wahrnehmung, Denken und Reflexion lassen sich auf empirische Funktionen, wie Sinneswahrnehmungen, Messwerte, Erlebnisse, Anschauungen, Befunde zurückführen. Dieser neutrale Monismus erscheint sehr dogmatisch und wird auch als eine Radikalisierung des Empirismus in Form des Empiriokritizismus angesehen. Mach ist einer der Mitbegründer oder einflussreichste Vertreter des sogenannten „subjektivistischen Positivismus“ und hatte insofern auch Auswirkungen auf den späteren reduktiven Materialismus/Physikalismus (Carnap/Neurath). Hieraus ist die Identitätstheorie (Place/Smart) in der Philosophie des Geistes hervorgegangen, die den Geist noch stärker auf das rein Materielle reduziert hat.

„Geist/Materie/Vernunft“ – das Trilemma

Dies führt zu einem erkenntnistheoretischen Problem ganz anderer Art, welches aber mit dem vorgenannten Dualismus und Monismus eng verbunden ist. Es geht um die „Subjektivierung von Erkenntnis„, oder wie man moderner sagen würde, um die Rolle des „Beobachters„, den „empirischen Reviewer“. Leider ist zu dieser Erkenntnis keine direkt belegte Anekdote überliefert, aber unsere „idealistische Lichtgestalt“ spricht von einem „großen Licht„, das ihm im Jahre 69 erschienen sei:“Das Jahr 69 gab mir großes Licht.“ (Schlusssatz Reflexion 5037) Wir wissen leider nicht, wie er zu dieser Erleuchtung gekommen ist, aber der vorletzte Satz der Reflexion 5037 gibt einen ersten Hinweis:

„Ich versuchte es gantz ernstlich, Satze zu beweisen und ihr Gegentheil, nicht um eine Zweifellehre zu errichten, sondern weil ich eine illusion des Verstandes vermuthete, zu entdecken, worin sie stäke.“ (Akademie-Ausgabe (AA) XVIII. Ich zitiere im Folgenden Kants handschriftliche Reflexionen zur Metaphysik aus AA Band XVII und XVIII nur nach den Nummern. Bd. XVII enthält die Nummern 3489 – 4846, Bd. XVIII 4847 – 6455.)

Immanuel Kant

Spätestens bei der erwähnten Methode der kritischen Dialektik müsste klar geworden sein, dass es sich bei dieser „Lichtgestalt“ um niemand Geringeren als um Immanuel Kant (* 22. April 1724 in Königsberg, Preußen; † 12. Februar 1804 ebenda) handeln mag. Dabei ist die von ihm verwendete „Lichtmetaphorik“ auch nicht einfach aus der Luft gegriffen, sondern entspricht dem aufklärerischen Diskurs der damaligen Epoche:»Licht der Vernunft« Nach dem Vorbild der Mathematik als zielgerichtetes Denkvermögen begreift sich die Aufklärung als ein rationales Erhellen jedes denkbaren Sachverhaltes. (Günter Barudio: „Aufklärung“ https://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-476-03526-4_7, S.1)

Kants Kritizismus

Und genau an diesem ehrgeizigen Ziel arbeitete Kant. Dabei ist sein philosophischer Werdegang durchaus nicht monolithisch, frei von Brüchen und Widersprüchen. Im Gegenteil gerade diese Kehrtwendung, die man als „vorkritische“ Phase (bis Erscheinungsjahr 1781 der 1. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ (KrV) gegenüber der „kritischen“ Phase (besonders ab der 2. Auflage der KrV 1787) ist für das Verständnis des später aufzuzeigenden erkenntnistheoretischen Trilemmas ausgesprochen wichtig.«Inauguraldissertation»: Über Form und Prinzipien der Sinnes- und Verstandeswelt (1770); „Kritik der reinen Vernunft“ (1781), „«Prolegomena»zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“ (1783) liegt in dem Versuch eine neue Metaphysik zu konstituieren, die den Erkenntnisraum des menschlichen Verstandes (der Naturwissenschaft) in seinen Grenzen auslotet:Was kann ich wissen?

Humes Auslöser

Auslöser für das ganze Trilemma war eigentlich – um in der Lichtmetaphorik zu bleiben, ein Erwachen aus einem Traum durch einen Lichtstrahl – die Auseinandersetzung Kants mit Humes Kausalanalyse von Ursache und Wirkung 1771, wie er selber schreibt:

„Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab. Ich war weit entfernt, ihm in Ansehung seiner Folgerungen Gehör zu geben,[….] als der scharfsinnige Mann kam, dem man den ersten Funken dieses Lichts zu verdanken hatte.“Kant: AA IV, „Prolegomena zu einer jeden … „, S.

David Humes (1711-1776) entwickelte Erkenntnistheorie aus seinem Hauptwerk „Abhandlung über die menschliche Natur“ kann als Vorläufer des zuvor beschriebenen reduktiven Materialismus bei Mach gesehen werden. Hume versuchte – ganz im Geiste seiner Zeit – mit Hilfe des naturwissenschaftlichen Diskurses die Philosophie von der – aus seiner Sicht – spekulativen Metaphysik zu befreien:

„Ich behaupte, es gibt einerseits keine Frage von Belang, deren Antwort nicht in der WISSENSCHAFT ÜBER DEN MENSCHEN enthalten sein dürfte. Andererseits dürfte keine Frage zutreffend beantwortet werden können, bevor diese WISSENSCHAFT nicht bekannt ist. Wenn ich also vorhabe, die Grundlagen der menschlichen Natur offen zu legen, habe ich vor, ein komplettes wissenschaftliches Gebäude zu entwerfen, das auf einer fast völlig neuen Basis steht. Die einzige, wie ich annehme, von der aus einigermaßen gesichert geforscht werden kann.“(David Hume: „Treatise„, Introduction, 6.)

Die „empirische Psychologie“

Dies glich natürlich einer „Abrissbirne in dem abendländischen Philosophiegebäude“, da es die „Krypta“ – die Metaphysik – betraf. Hume wollte in seinem induktiven Reduktionismus zu gesicherten Erkenntnissen kommen, die allein auf der Basis von Beobachtungen – im Sinne einer „empirischen Psychologie“ – gewonnen werden sollten. Hierbei sollte ausdrücklich auf logische Denkoperationen, wie z. B. bei der Deduktion ausgeschlossen werden. Deshalb wird dieser Ansatz auch Sensualismus genannt. Das durch ihn ausgelöste Grundproblem der Erkenntnistheorie ist als als „Induktionsproblem“ in die Philosophie des Geistes eingegangen. Aber nicht erst seit der Systemtheorie ist bekannt, dass der Beobachter selbst eine erkenntnistheoretische Größe darstellt. Denn bereits Kant verwies in seinem Hauptwerk der „Kritik der reinen Vernunft“ auf dieses Paralogismus-Problem, welches in seiner Ausgangsform an den zuvor beschriebenen cartesischen Dualismus erinnert:

„Der Dualismus von Materie und Geist (Seele, denkendes Wesen) gilt nur „im empirischen Verstande“, d. h.: „in dem Zusammenhange der Erfahrung ist wirklich Materie, als Substanz in der Erscheinung, dem äußeren Sinne, so wie das denkende Ich, gleichfalls als Substanz in der Erscheinung, vor dem inneren Sinne gegeben, und nach den Regeln, welche diese Kategorie in den Zusammenhang unserer äußeren sowohl als inneren Wahrnehmungen zu einer Erfahrung hineinbringt, müssen auch beiderseits Erscheinungen unter sich verknüpft werden“.[…] Materie und Seele sind keine Dinge an sich, sondern nur „die Erscheinung eines Dinges überhaupt“(KrV (I 750 f. – Rc 465 ff. auf https://www.textlog.de/32934.html)

Die „transzendentale Psychologie“

Ein sehr moderner Ansatz, da er doch den „Beobachter“ als experimentierendes Subjekt in den Erkenntnisprozess mit einschließt. Aber Kant beschreitet hier einen „dritten Weg„. Anstelle des materialistisch-empirischen Monismus Humes und des idealistisch-rationalistischen Substanzdualismus Descartes möchte Kant zu einem transzendental-apriorischen Eigenschaftsdualismus und somit zu einer „transzendentalen Psychologie“ gelangen. Dieser rationalistische Ansatz, der auf Christian Wolff zurückgeht, wurde später als „Psychologismusvorwurf“ von Wundt (1910) und Husserl (1910/1911) aufgegriffen. In wie weit sich die Psychologie als Geistes- oder Naturwissenschaft versteht, ist aber ein anderes Thema in einem späteren Essay zur „Neurophilosophie“.

Die Verbindung von Empirismus und Rationalismus

Hier ist vielmehr die erkenntnistheoretische Konstruktion Kants durch die Einführung des Subjektbegriffes in das dialektische Antinomien-Problem (ausgelöst durch Newtons „Principia“) – aus meiner Sicht – von aufschlussreicher Wirkung auf den späteren Diskurs. Kant legt eine transzendentale Klammer um das Materie-Geist-Problem, die den Dualismus zwischen den Empirismus und Rationalismus zusammenführen soll. Kants Transzendentalphilosophie stellt den Versuch dar mit Hilfe einer neuen Metaphysik den Materialismus Newtons mit dem Rationalismus Leibniz zu vereinen.

Das dieses Unterfangen zu groß für ihn werden droht, hat er schon in seiner Monadologia physica (1756) vorausgeahnt:„Doch auf welche Art und Weise läßt sich denn bei diesem Geschäft die Metaphysik mit der Geometrie zusammenbringen, da man Greife leichter mit Pferden als die Transzendentalphilosophie mit der Geometrie verbinden zu können scheint?“ (ebd. W: 519 aus https://brill.com/view/book/edcoll/9783957437761/BP000005.xml?language=de, S. 35)

Das Bieri-Trilemma

Diese transzendentale Verklammerung von Materie und Geist ist leider nicht umsonst, sondern wird durch ein Trilemma erkauft, das auch als Bieri-Trilemma bekannt ist. Dieses Trilemma entsteht durch das Problem der mentalen Verursachung:

  1. Mentale Phänomene sind nichtphysikalische Phänomene.
  2. Mentale Phänomene sind im Bereich physikalischer Phänomene kausal wirksam.
  3. Der Bereich physikalischer Phänomene ist kausal geschlossen.

„Jede der drei Annahmen wirkt auf den ersten Blick plausibel:
– Das Bewusstsein scheint durch seine interne Struktur – insbesondere durch das subjektive Erleben – von jedem physischen Ereignis verschieden.
– Mentale Phänomene (etwa Angst) scheinen ganz offensichtlich Ursache von physischen Phänomenen (etwa Weglaufen) zu sein.
– In der physischen Welt scheinen jedoch immer hinreichende, physische Ursachen auffindbar zu sein.

Das Trilemma besteht nach Bieri darin, dass die Sätze paarweise, aber nicht alle zugleich wahr sein können.“ (Peter Bieri: „Analytische Philosophie des Geistes“ (2007), S.18 auf https://de.wikipedia.org/wiki/Bieri-Trilemma).

Auf eine mögliche Lösung dieses Trilemmas möchte ich aber in meinem späteren Essay „Die Neurophilosophie“  noch genauer eingehen.

Die Neue Metaphysik – der Geist in der Materie

Nichtsdestotrotz stößt Kant hier ein Tor auf, das vorschnell wieder zu verschließen, neue Möglichkeiten hinsichtlich einer „neuen Metaphysik“ – mit heutiger Sicht und Kenntnisstand – ungenutzt verstreichen lassen würde. Doch um zu einer neuen Form von Metaphysik zu gelangen müssen die „alten Gräben“ zunächst einmal zugeschüttet werden, die der Dualismus in Geistes- und Naturwissenschaften hinterlassen hat. Diese epistemologischen Risse und ontologischen Brüche treten besonders in dem wissenschaftshistorischen Verlauf der „Philosophie des Geistes“ zutage, womit sich mein nächster Essay „Die Philosophie des Geistes – der UEPhA-Cup der Ismen“ spielerisch beschäftigen wird.

Ich bin immer mit meiner „Diogenes-Lampe“ unterwegs, um Menschen zu finden, die sich auch nach ein wenig „Licht der Erkenntnis“ sehnen. Also wenn Ihr eigene Beiträge oder Posts für meinen Wissenschaft-/Philosophie-Blog habt, immer her damit. Sie werden mit Eurem Namen als Autor auf meiner Seite veröffentlicht, so lange sie den oben genannten Kriterien entsprechen. Denn nur geteiltes Wissen ist vermehrtes Wissen.
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Philipp
Philipp
3 Jahre zuvor

Hallo Dirk,

das letzte große Zitat von Kant im Bezug auf Descartes bezüglich der Trennung zwischen Leib und Seele in dem hier vorgestellten Artikel ist der berühmte Fehlschluss von der Epistemologie auf die Ontologie.

Dieser Fehlschluss besteht meiner Ansicht nach auch heute noch in großen Teilen der Neurowissenschaften als auch in der Philosophie. Nun bin ich natürlich nicht im Besitz ontologischer Wahrheiten, sondern besitze auch nur meine eigenen ontologischen Annahmen. Dennoch hat es mich gefreut zu lesen, dass du diesen Fehlschluss hier herausgestellt hast. Denn er ist so alt wie aktuell gleichzeitig und das macht ihn interessant.

Auch das berühmte Trilemma von Bieri, das ja wohl als klassiker in der deutschsprachigen Philosophie des Geistes genannt werden kann, halte ich u.a. deshalb für ein “Scheintrilemma”. Es verbleibt im Rahmen des Leib-Seele-Problems. Die echten Probleme werden somit gar nicht berührt, da man sich in rein konzeptell philosophische Welten verheddert hat die mit der natürlichen Welt diesbezüglich nichts mehr gemein haben. Aber diese Meinung von mir ist natürlich höchst kontrovers. Manch Philosoph würde mir hier wohl nicht nur nicht zustimmen, sondern gar nicht verstehen. Man müsste weiter ausholen um die eigenen Positionen darzulegen.

Wie auch immer: weiter möchte ich dir sagen dass dein Artikel wieder wunderbar kompakt und interessant geschrieben war. Ich bin sehr gespannt auf deinen nächsten Beitrag zur Neurophilosophie.

Philipp
Philipp
3 Jahre zuvor

Hallo Dirk,

falls du Fragen hast kannst du diese gerne an meine Emailadresse senden. Eventuell kann ich deine Fragen beantworten bzw. werde das natürlich tun sofern ich über das notwendige Wissen verfüge. Auch weitere Artikel oder Bücher über die Thematik könnte ich empfehlen. Je nachdem was dir vorschwebt.

Das Feld ist so kontrovers dass du bei deinem Artikel grundsätzlich gesehen nicht viel falsch machen kannst, da ohnehin alle Meinungen über Definition und Methodologie bestehen.

klaus roggendorf
2 Jahre zuvor

An unseren heutigen philosophischen Ansichten, hiesigen Beiträgen und der heutigen politischen Lage, kann man sehen, welche schädlichen Folgen die falschen Begriffe der ALTEN, die sich “ Philosophen“- und uns „MENSCHEN“- nannten, mit ihren damaligen Gedanken noch heute zeigen – und dass sie gar nicht klar erkannten, was sie da liebten und „WAHRHEIT“ nannten. Und auch die Gottegläubigen bleiben ohne gelebte Wahrheit allein, bei der Bestimmung des menschlichen Sein. Das heißt logisch, Gott kann nur die philosopphisch denkbare „Vollkommenheit alles Wahren“ sein, denn diese Vollkommenheit der Wahrheit verbindet alles was ist, so scheint und sein wird.

maria reinecke
1 Jahr zuvor

Impuls zu Ernst Mach:

Ernst Mach, Analyse der Empfindungen, Jena 1900:

„An einem heiteren Sommertage im Freien erschien mir einmal die Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend.“

‚Der Physiker‘ (M.R. aus ‚Das Leben liegt in den Zwischenräumen‘, Berlin, 2006/2013):

„…Es war einmal ein Physiker, der die Welt gewissenhaft auf physikalische Weise zu erforschen suchte. Da geschah es eines schönen Sommertages, dass dieser ernsthafte und kluge Mann in seinem Garten stand, für Augenblicke nur da stand und atmete und schaute. Der laue Wind strich ihm sanft über die Haut, die Blumen veräußerten verschwenderisch ihren Duft, schwelgten in ihrer Farbenpracht, die Vögel jubilierten, die Insekten schwirrten, summten um ihn herum, und das Ganze kam ihm vor wie ein einziger wundervoller Tanz des Universums.
Der Wissenschaftler schloss die Augen. Die Zeit stand still, die Grenze zwischen ihm und dem, was ihn umgab, verschwamm, und er hatte das Empfinden, eingebunden zu sein in einen überall wirkenden Zusammenhang, eins zu sein mit dem Kosmos!
Nun hatte der kluge Mann Ähnliches bisher nur von Mystikern gehört.
– Was habe ich mit einem Mystiker zu tun?, dachte er bestürzt und fuhr fort, noch gewissenhafter über alles nachzudenken und kam zu dem Schluss, dass das, was er erlebt hatte, so in Wirklichkeit nicht sein konnte: es gab weder Licht noch Farben, weder Gerüche noch Vogelgesang; die ganze empfundene Welt existierte nur scheinbar. Stattdessen war die Erde bevölkert mit wenigen Elementen, die sich schwarz, kalt und lautlos bewegten und in eigenartiger Abhängigkeit voneinander standen, mal in flüchtiger, mal in fester Verbindung, an bestimmten Stellen mehr oder weniger zusammenhängend. Ja, davon war er jetzt überzeugt und schrieb ein neues wissenschaftliches Werk…“

Was will ich sagen? Die Beschäftigung mit Metaphysik ist keine intellektuelle Spielerei, eher gebotene Disziplin des Denkens,
Unsere allgemeinen, vorgefassten Grundannahmen, unsere (Welt-)Anschauungen – auch wenn sie uns nicht immer bewusst sind – beeinflussen unser ganzes Leben, bestimmen unser Denken, unsere Vorstellungen, Empfindungen, Wahrnehmungen, ja verhindern oder ermöglichen überhaupt erst das Zulassen, Gewahrwerden und Ernstnehmen bestimmter Wahrnehmungen: wir sehen, anerkennen letztlich nur, was wir bereits erwarten; wir glauben nur, was wir im Vorfeld gewillt sind zuzulassen, zu akzeptieren. Es lohnt, unsere still schweigend gemachten, unkontrolliert wuchernden Grundannahmen immer wieder neu zu überprüfen, womöglich zu korrigieren, zu erweitern.
Das geht nur auf Meta- Ebene, meta-physisch.

Fazit: Ernst Mach konnte das überwältigende Erlebnis im Garten nicht mit seinem (engen) materialistischen Denkansatz vereinbaren, nicht einordnen; so hat ihn das Erlebte zwar bewegt, im Nachhinein sogar sein Denken beeinflusst, m.E. unzureichend.

maria reinecke
1 Jahr zuvor
Reply to  Philo Sophies

Vielen Dank, Dirk Boucsein, für Ihr freundliches Feedback… Bevor es weitergeht: für die Anrede ‚Maria Reinecke‘ wäre ich dankbar.
Herzliche Grüße aus Berlin
Maria Reinecke

maria reinecke
1 Jahr zuvor
Reply to  Philo Sophies

Holà, Dirk Boucsein,

wenn Sie erlauben, zwischendurch ein vielleicht/hoffentlich zusätzlich Lust machender Sprung direkt hinein in Whiteheadsches Denken, das auf vier Grundprinzipien basiert – vorab zur Einordnung für interessierte Mitleser:

Das ontologische Prinzip:
Die elementarsten Tatsachen sind wirkliche Ereignisse; wirklich ist, was geschieht; außer Geschehnissen gibt es nichts; wirkliche Ereignisse sind Erfahrungsereignisse; Erfahrung ist das Grundelement der Wirklichkeit.
Das Prinzip des Prozesses:
Der Prozess ist das Werden von wirklichen Ereignissen; wirkliche Ereignisse gehen als raumzeitliche ‚Erfahrungstropfen’ in den Prozess ein. Im Prozess vollzieht sich die Wirklichkeit. Der Prozess ist die Wirklichkeit.
Das Relationalitätsprinzip:
Wirkliche Ereignisse vollziehen sich in universeller Verbundenheit mit und in Abhängigkeit von anderen wirklichen Ereignissen; die Natur ist ein grenzenloses Energie-Beziehungsgeflecht wirklicher Ereignisse.
Das Prinzip der Wirk- und Zweckverursachung:

Jedes wirkliche Ereignis ist in seinem Prozess des Werdens sowohl aktiv erfassendes und bewirkendes Subjekt als auch erfasstes und bewirktes Objekt, Datum für andere wirkliche Ereignisse; (weder nur Subjekt noch nur Objekt, sondern ‚Superjekt’); ein einzelnes Ereignis ist wirklich, wenn es für sich selbst Bedeutung hat; es begründet sich durch seine konkrete Wirksamkeit selbst; es strebt in seinem Werden nach Erfüllung; sein Empfinden hat Vektorcharakter: es zielt als Ursache auf die Wirkung.

Beispiel: Bestäubungsvorgang als ‚Ereignis‘ aus prozessphilosophischer Sicht
(M.R. aus „Ereignishaftigkeit von Natur“, 2012)

… Auf dem Wege durch den Tiergarten entdecke ich auf einer Wiese einen Kirschbaum, um dessen rosa Blüten eine Hummel kreist. Ich gehe näher heran, bleibe stehen und werde überraschend Zeugin von der Ereignishaftigkeit eines Bestäubungsvorganges – allgemein definiert als ‚Übertragung von Pollen durch Insekten auf die Narbe von Blüten’.

In diesem Augenblick aber, an diesem Ort wird der bloße Ablauf zu einem einmaligen Ereignis zwischen zwei intensiv interagierenden, symmetrisch aufeinander bezogenen, sich aufeinander einstellenden Wesen: dieser Blüte und dieser Hummel. Die Blüte bietet sich in ihrer weiß-rosafarbenen Pracht dar; sie duftet verlockend und streckt ihre leuchtenden Blätter vibrierend aus. Die Hummel nimmt ihren Glanz, ihren Duft wahr, versucht, mehr davon zu bekommen, schwebt, bewegt sich vorsichtig auf die Blüte zu, umkreist sie, tastet sich schnuppernd vor, lässt sich sanft auf ihr nieder. Und es beginnt der abenteuerliche raumzeitliche Prozess eines konkreten intimen Stoffwechselaustauschs zwischen dieser Hummel und dieser Kirschblüte; beide individuellen Entitäten begegnen, präsentieren sich mit ihren spezifischen Farb- und Duftstoffen, Geruchs- und Geschmacksorganen; verschmelzen mit ihren Säften, Stoffen, tauschen sich bis in die molekularen, atomaren Bereiche hinein wechselseitig aus, erfahren Veränderung, bilden sich neu: ein Ereignis, das für sie beide wesentlich konstitutiv ist und auf das sie angewiesen sind. Hummel und Kirschblüte befinden sich so in ständiger Kreation, und die Natur, die Welt und wir um sie herum gleichermaßen…(M.R. frei nach einem Beispiel aus dem Essay: „Über Whitehead und Mead zur Aktor-Netzwerk-Theorie: Die Überwindung des Dualismus von Geist und Materie…“, B. Gill, 2007).
Was ist mit mir währenddessen geschehen?

Mein subjektives Empfinden ist in der Unmittelbarkeit dieses Bestäubungs-Ereignisses verwurzelt. Was sich da gerade vor mir ereignet hat, geht als objektives Datum in mich ein, bewegt mich, verändert mich spürbar, und ich gehe neu gestimmt weiter…

Pause.
Danke

maria reinecke
1 Jahr zuvor
Reply to  maria reinecke

Nachtrag für Literatur-Interessierte: Ernst Machs psychophysischer Monismus/Empiriokritizismus bildet u.a. den erkenntnistheoretischen Hintergrund in Robert Musils Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘; z.B. Kapitel ‚Atemzüge eines Sommertages‘; ‚taghelle Mystik’… (s. auch Robert Musils Dissertation: ‚Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs‘)
etc.

maria reinecke
1 Jahr zuvor

Habe ich etwas übersehen beim Durchforsten Ihres großartigen Blogs?
Ich vermisse A. N. Whiteheadse Prozessmetaphysik, m. E. DIE Metaphysik des XX. und XXI. Jahrhunderts…(‚Prozess und Realität‘, 1929) Whitehead, Mathematiker, Naturwissenschaftler, erst später Philosoph entwickelt auf dem Hintergrund eines ‚modernen‘ wissenschaftlichen Weltbildes des 20. Jahrhunderts das Paradigma einer relationalen, organischen/organismischen, prozessualen Weltsicht und ermöglicht so ein neues Verständnis von Wirklichkeit…
Es geht bei Whitehead gerade um die Neudefinition von Subjektivität und Objektivität bzw. um deren Überwindung; es geht um Kreativität, Einmaligkeit und um das „Seiende“, bei ihm nicht statisch als gegebene Substanzialität, sondern als dynamisches, prozessuales Werden in notwendiger Relation, Wechselwirkung, Kommunikation… zu und mit anderem.
Whitehead trifft wesentliche Grundentscheidungen gegen die Dichotomien festgefahrenen philosophischen Denkens: gegen die Spaltung von Materialismus und Idealismus; gegen die Trennung zweier Seinsbereiche von Natur und Geist und dem damit verbundenen Erkenntnisideal einer „rein objektiven“ Naturwissenschaft im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften; gegen die Trennung von Leib und Seele, Körper und Geist; gegen jede wissenschaftstheoretische Reduktion geistiger Prozesse auf Materielles…
Sorry, vielleicht finde ich ihn hier ja doch noch…
Gruß aus Berlin

maria reinecke
1 Jahr zuvor

Holà, an alle Philosophes,

nachdem ich mir noch einmal die Wahrheitsfrage bei Kant (in seiner Transzendentalen Logik) angeschaut habe, bekomme ich Lust, stichwortartig, eigenbrödlerisch allgemein gehaltene Gedanken, (provokante) Thesen, Fragen zu Kant im weitesten Sinne mit Ihnen zu teilen, mit einem kurzen vollmundigen Plädoyer für eine neue Metaphysik zum Schluss – in der Hoffnung, mit Ihnen unbekannterweise irgendwie ins Gespräch zu kommen:

1.
Was sich seit Kant ‚Aufklärung‘ nennt, sei letztlich ein Prozess der Demarkation, sagen Hartmut und Gernot Böhme in ‚Das Andere der Vernunft‘, 1985: die Vernunft zog sich auf ihr vermeintlich sicheres Terrain zurück, grenzte sich selber ein, anderes aus und produzierte/disqualifizierte so durch ihren Rückzug zugleich ihr Irrationales.

2.
Kants Selbstbeschränkung der Vernunft wurde in der Folge von dem philosophischen und naturwissenschaftlichen Denken radikalisiert (s. z.B. die Wahrheitsfrage bei Tarski) und hat zu einem verkürzten Vernunft- und Wissenschaftsbegriff geführt, der den Kultur- und Wissenschaftsbetrieb bis heute weitgehend bestimmt.

3.
Wir haben auf der einen Seite unser intuitives Wissen, unsere Alltagserfahrung, dass Natur voller Leben ist, und es gehört zu unserem zivilisatorischen Selbstverständnis, Sinnhaftigkeit und Werthaftigkeit von Natur in unsere ästhetischen und moralisch-ethischen Vorstellungen, Ziele, Handlungen mit einzubeziehen. Auf der anderen Seite steht abgespalten davon eine ‚wertefreie‘ Wissenschaft, die Natur als einen neutralen Prozess bloß ablaufender Aktivitäten beschreibt und jegliche Wirk- und Zweckverursachung lebendigen Selbstseins, jede aktive Realisation von Werten unberücksichtigt lässt.

Was dem Wissenschaftler als lebendige Gesamtheit der Natur-Mannigfaltigkeit unmittelbar als Vorwissen und Vorerfahrung (Alltagserfahrung) bekannt ist, wird bewusst vernachlässigt, abgespalten, seziert, auf Formeln reduziert und erst nach Kontrolle und Selektion im Labor als wissenschaftliches Datum anerkannt. Das am Exaktheitsideal der Naturwissenschaft orientierte Denken, das Aufgehen in Abstraktionen und die Verabsolutierung des Kausalitätsbegriffs sollen Objektivität garantieren. Hoch spezialisierte Einzelwissenschaften beschränken sich auf ihre Forschungsgebiete; Fragen zu Themen, Problemen, die sich jenseits davon befinden, werden weder gestellt noch zugelassen. Resultat ist eine sich selbst genügende Ansammlung von unüberschaubaren, nicht mehr nachvollziehbaren Einzeldaten, Erkenntnissen ohne (Sinn-)Zusammenhang, ohne Bezug zur ganzen Wirklichkeit von Mensch, Natur, Welt.
Damit hat sich das am Exaktheitsideal der Naturwissenschaft orientierte Denken weit von unserem zivilisatorischen Selbstverständnis einer lebendigen Natur entfernt; hat sie zu einem neutralen Prozess bloß ablaufender Aktivitäten gemacht, den man beliebig manipulieren, gebrauchen, verwerten, entwerten kann.
Angesichts einer rücksichtslos ausgebeuteten, zerstörten, heillos verwundeten Natur weltweit, darf gefragt werden, ob die strikte Trennung einer Wertewelt hier und einem wertefreien Wissenschaftsbereich dort bei der Bewältigung der gegenwärtigen und zukünftigen Probleme wirklich ‚vernünftig‘, Vernunft gemäß ist.

5.
Kants enger Vernunft- und Wissenschaftsbegriff, basierend auf dem statischen Newton‘schen Paradigma eines lückenlos ablaufenden Kausalmechanismus und der Vorstellung von eindeutig lokalisierbaren, quantifizierbaren Gegenständen in Raum und Zeit wird weder einer lebendigen Natur-Welt-Wirklichkeit noch dem Menschen in seiner Existenzialität gerecht, geht an deren Bedeutsamkeit vorbei.

6.
Albert Einstein und Leopold Infeld betonen in ihrem Buch ‚Die Evolution der Physik‘: angesichts der Erkenntnisse der modernen Physik, in der es nicht mehr um das Verhalten von Körpern gehe, sondern um das zwischen ihnen Liegende, bedürfe es großer gedanklicher Kühnheit anzuerkennen, dass „das Verhalten des Feldes (im Dazwischen, M.R.) für die Ordnung und das Verständnis der Vorgänge maßgebend sein könnte“.
Seien wir kühn!

7.
Die ‚moderne‘ Physik des XX. Jahrhunderts, die zu einer grundlegenden Revision unserer Vorstellungen vom Universum, von Natur und unserem Verhältnis zu ihr geführt hat, ermutigt uns. Es geht nicht mehr vordergründig um einen logisch- kausalen Ablauf von Aktivitäten; nicht um eindeutig lokalisierbare, quantifizierbare Objekte, Körper, Substanzen und deren Verhalten, sondern primär um Ereignishaftigkeit, um das, was sich im Dazwischen ereignet: Energie, Interaktionsprozesse, (Inter)Relationalität, Wechselwirkung, Abhängigkeit, Veränderung etc. sind die eigentlichen ‚Tatsachen‘ der Welt; sie bilden die Voraussetzung für ein komplexes Natur- und Wirklichkeitsverständnis; Wirklichkeit als ein in jedem Augenblick sich vollziehender Prozess, der Veränderung bewirkt, Neues bereithält und zur Zukunft hin offen ist. Natur darf (wieder und neu) begriffen werden als ein umfassender Wirkzusammenhang; als ein grenzenloses, wechselseitig sich bewirkendes Energie-Beziehungsgeflecht in notwendiger Relation und Kommunikation zu- und miteinander…

8.
Auch der Vernunftbegriff muss neu definiert, erweitert werden. Das Wissenschafts-Paradigma des XX. Jahrhunderts ermutigt uns zu einer erweiterten, dynamischen, adäquateren Sichtweise auf Natur und Wirklichkeit. Dazu benötigen wir eine neue (Induktive) Metaphysik, einen neuen rationalen Rahmen für kreative, umfassende, zielführende Inter- und Transdisziplinäre wissenschaftliche Forschung; wir brauchen ein ‚vernünftiges‘ Meta-Denkgerüst, das die ganze Wirklichkeit im Blick behält und uns nicht die Hälfte davon unterschlägt. Die Prozessmetaphysik von A. N. Whitehead ist eine Option.

Der Vernunft darf durchaus etwas zugemutet werden, mehr als zuweilen geglaubt wird.

Gruß aus Berlin,
Maria Reinecke

maria reinecke
1 Jahr zuvor
Reply to  Philo Sophies

Danke, Dirk Boucsein, das habe ich auch selten…:)
(Wollte natürlich den Sternbutton drücken, funktionierte leider nicht).
Danke für den Hinweis auf Gotthard Günther (ja, ohne Mathematik geht gar nichts)
und den Link von Christian. Internet at its best.

Ist es nicht befremdend, dass der ‚gebildete Bürger‘ im deutschsprachigen Raum den umwälzenden Erkenntnissen der Physik des XX. Jahrhunderts und dem daraus resultierenden philosophischen Diskurs nur „mit einem gediegenen Desinteresse begegnet“? (Herausgeber Jürgen Busche, Nachwort zu Werner Heisenberg, ‚Quantentheorie und Philosophie‘, 1986) – ganz zu schweigen von den ‚Berufs-Philosophen‘, denen es egal zu sein scheint, ‚ob der Mond aus Käse besteht oder sonst etwas’… (frei nach Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie Bd. 1, 1978).

Es sind offenbar nicht die sensationellen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse, die ein Umdenken bewirken, sondern erst eine gründliche philosophische Besinnung danach; Einordnung der neuen Erkenntnisse in einen neuen, erweiterten, zu erweiternden Meta-Zusammenhang. Eine derartige umfassende philosophische/metaphysische Auseinandersetzung mit dem neuen Wissenschafts-Paradigma des XX. Jahrhunderts hat es im deutschsprachigen Raum m.E. nur unzureichend gegeben.

Da war Niels Bohr:
Vollblutphysiker und halbherziger Philosoph; wie den meisten seiner Kollegen widerstrebte ihm jedwede ontologische/metaphysische Betrachtungsweise. Er beschränkte sich auf die aktive Rolle, die der Mensch bei der Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis spielt; ein rein anthropozentrisches Konzept: wir entscheiden, was wirklich ist. Was wir nicht experimentell fokussieren, wird ignoriert.

Da war Werner Heisenberg:
Vollblutphysiker und halb Philosoph – als Philosoph jedoch mutiger als Bohr.
Heisenberg stellte sich zumindest den ontologischen Fragen und regte in der ‚Kopenhagener Deutung der Quantentheorie’ den philosophischen Diskurs an. Der Text ist Fundgrube für Esoteriker und esoterisch Angehauchte geworden, die meinen, mit der Quantentheorie und Quantenmechanik nun alles Mögliche erklären zu können, nicht zuletzt, dass wir mit unserem Geist/Bewusstsein bestimmen können, was geschieht oder nicht, wenn wir uns nur richtig darauf konzentrieren – das sei durch die merkwürdigen Ergebnisse bei der Messung von Teilchen experimentell nachgewiesen. Obwohl Heisenberg diesen Gedanken mit einem Satz vom Tisch wischt, indem er sagt: „…Sicher enthält die Quantentheorie keine eigentlich subjektiven Züge, sie führt nicht (etwa) den Geist oder das Bewusstsein des Physikers als einen Teil des Atomvorganges ein.“ (S. 57) Beobachtung nicht als psychischer Akt, sondern als ein physikalischer; Wechselwirkung des Gegenstandes mit der Messanordnung etc…
Da waren natürlich einige mehr.

Aber ich denke manchmal, vielleicht fehlte damals einfach ein Vollblutwissenschaftler, der zugleich Vollblutphilosoph war; einer, der kühn und gewillt war, das Ganze von Grund auf neu und anders zu denken, einer wie A.N. Whitehead: Mathematiker, Physiker und Philosoph.
Vielleicht wäre der philosophische Diskurs im deutschsprachigen Raum fruchtbarer verlaufen, wenn Whitehead im entscheidenden Augenblick nicht nach Amerika gegangen wäre, sondern in Europa geblieben wäre…? Keine Ahnung.

Heute erstmal Punkt. Nicht Schluss.
Viele Grüße.
Danke,
Maria Reinecke

cbuphilblog
1 Jahr zuvor
Reply to  maria reinecke

Guten Abend, Frau Maria Reinecke,

es freut mich, dass Ihnen meine Seite gefallen hatte. Danke Dirk für die Vorschusslorbeeren des „Einstein-Kenners“. Tatsächlich komme ich nur selten in das Vergnügen, mich weiter zu belesen, wie man auch an diesem späten Kommentar sehen könnte, weil ich zuvor noch ein wenig mehr weiter oben von der Unterhaltung lesen mochte, aber nie so recht die notwendige Zeit mit der notwendigen Konzentration fand.

Auch das Schreiben ist zwar ein Mittel, sich um Präzision bemühen zu können, für eine rege und umfangreiche Mitteilung von Gedanke fehlt aber oft die Zeit für diese Mühe … und kommt dann ggf. nie zustande.

Mich interessiert Ihr umfangreiches Wissen über Whitehead und Mach über die schmalen Sätze hinaus in einem Dialog. Dirk deute auch schon an, dass wir einmal zusammen ins Gespräch kommen könnten. Es würde mich sehr freuen, wenn wir dies über Zoom oder Telefon mal machen könnten. Ich schicke eine E-Mail.

Für heute auch erst einmal als Kommentar leider nur diese Worte, keine fachliche Diskussion zu der ein oder anderen These. Obwohl mich Bohr und Heisenberg sehr reizen, wie Sie wissen könnten. Ich hoffe, das enttäuscht Sie nun nicht.

Sie zitierten einmal aus einem Buch, wobei angedeutet war, dass Sie die Autorin sind. Ein Blick auf Amazon zeigte mir diese und eine kleine Biographie von Ihnen. Das Buch werde ich gern einmal lesen, habe ich mir fest vorgenommen.

Viele Grüße
Christian

maria reinecke
1 Jahr zuvor

September 2022

Holà, Philosophies:

Mir ist bewusst: die Begeisterung für die Prozessmetaphysik eines A.N. Whitehead angesichts einer merkwürdigen Whitehead-Ignoranz im deutschsprachigen Raum birgt die Gefahr, als Sektierertum abgetan zu werden – I Gott bewahre!, (bin nicht einmal in der ehrwürdigen Whitehead-Gesellschaft!).
Bleibt eine schwierige Situation:
Auf der einen Seite lesen wir berühmte unmissverständliche Forderungen an die Metaphysik, z.B. von

Werner Heisenberg, in seinem Vortrag 1941 in Leipzig, ‚Die Einheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes‘:

„Wir sind uns mehr als die frühere Naturwissenschaft dessen bewusst, dass es keinen sicheren Ausgangspunkt gibt, von dem aus Wege in alle Gebiete des Erkennbaren führen, sondern dass alle Erkenntnis gewissermaßen über einer grundlosen Tiefe schweben muss; dass wir stets irgendwo in der Mitte anfangen müssen, über die Wirklichkeit zu sprechen mit Begriffen, die erst durch ihre Anwendung allmählich einen schärferen Sinn erhalten, und dass selbst die schärfsten, allen Anforderungen an logischer und mathematischer Präzision genügenden Begriffssysteme nur tastende Versuche sind, uns in begrenzten Bereichen der Wirklichkeit zurechtzufinden….Aber die Ahnung eines großen Zusammenhangs, in den wir mit unseren Gedanken doch schließlich immer weiter eindringen können, bleibt auch für uns die treibende Kraft der Forschung…“ (W. Heisenberg, a.a.O.)
„…Ein Weltbild muss, wenigstens grundsätzlich, alle Bereiche der Welt umfassen können, in ihm muss jedem Bezirk der Wirklichkeit ein bestimmter Platz zugewiesen sein.“ (W. Heisenberg, a.a.O.)

Und von C.F. von Weizsäcker, ,Die Einheit der Natur‘, München 1979; S. 425)

„Ich erwarte, dass ein Aufbau der ganzen Physik aus einem Prinzip in der Tat gelingen wird, und meine eigenen, noch unfertigen Arbeiten dienen diesem Ziel.“ (C.F. von Weizsäcker, a.a.O.)
etc.

Auf der anderen Seite steht A.N. Whitehead, der als Naturwissenschaftler und Philosoph sich genau diese strenge Forderung an die Metaphysik zur Aufgabe gemacht hat und sie in seiner organistischen Prozessmetaphysik, basierend auf den Erkenntnissen der modernen Physik, umfassend umgesetzt hat!

Nun ist es aber zum Glück auch so, dass – obwohl der Name Whitehead als Quelle oft gar nicht erwähnt wird – Whiteheads prozessphilosophisches Denken in Deutschland längst fruchtbarer (z.T. unbewusst) metaphysischer Hintergrund für viele geistige Strömungen geworden ist (ich folge hier der Aufzählung von Hans Jürgen Holl in seinem Nachwort zu Whiteheads Hauptwerk ‚Prozess und Realität‘, 1987): Strukturalismus, Kommunikationstheorie, Methodenanarchismus, kritischer Rationalismus, wissenschaftstheoretische Paradigmenforschung, Systemtheorie…; würde aber gern hinzufügen, dass Whiteheads dynamischer, organistischer/organismischer metaphysischer Ansatz insgesamt eine wichtige Quelle für die zeitgemäße Forschung darstellt; nicht zuletzt ermöglichen prozessphilosophische Betrachtungen eine adäquatere Behandlung zentraler Probleme des Lebens, alles Lebendigen; Fragen, die im rein biowissenschaftlichen Diskurs nicht hinrei-chend diskutiert werden können. Prozess-metaphysische Denkansätze finden sich in der Neurobiologie und Biophysik, in der Bewusstseinsforschung und Neurogenetik ebenso wie in der Welt des Konzern-Managements, in Soziologie und Theo-logie… (nicht zu vergessen: H. Leschs Lieblingsphilosoph ist nicht umsonst A.N. Whitehead, Ja!

Ich bin übrigens ziemlich aufgeregt, lese z.Zt. Christian Bührings E-Book/Büchlein: https://cbuphilblog.wordpress.com/buchprojekt/ „Gott würfelt nicht“ oder „Es werde Nichts“, wozu ich alle Philosophies ermuntern möchte!
Soweit ich das bereits sagen kann, schwingt auch hier Whitehead mit, „Kontinuum – Ontologie“, ja; einheitliche Feldtheorie, ja; Whitehead war einer der ersten, der das metaphysisch ins Spiel brachte…, genug, genug, gemach, gemach, M.R., nicht zu viel Begeisterung, sonst…!

Gruß aus Berlin,
M.R.

cbuphilblog
1 Jahr zuvor
Reply to  maria reinecke

Danke für deine Begeisterung! Die Leseempfehlung mag ich gern bestätigen 😉

Christian

cbuphilblog
1 Jahr zuvor
Reply to  maria reinecke

Du hast mich neugierig gemacht, von A. N. Whitehead mehr zu erfahren. Hier gibt es eine Videosammlung, die ich hier für alle verlinken mag:

https://www.youtube.com/channel/UCYbTr5tuqdB8l8xicEShdMg/videos

maria reinecke
1 Jahr zuvor
Reply to  cbuphilblog

@philo sophies

Ein Gedankensplitter, der vielleicht hier reinpasst – (s. auch Rudolf Carnap und die Metaphysikfeindlichkeit des Wiener Kreises)

„Gesprächssplitter 16“ zu metaphysischen Fragen aus der Reihe „Gedankensplitter“, Maria Reinecke, Berlin:
(frei nach Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie III)

A: Lass uns noch einmal kurz zurückkommen auf unsere Folge 9, glaube ich; da hast du von der Sinnlosigkeit metaphysischer Begriffe gesprochen, nein, du natürlich nicht, sondern die Logischen Empiristen. Das klingt für mich ziemlich unversöhnlich, was Rudolf Carnap formuliert, geradezu aggressiv. Wie wird das heute eigentlich gesehen?

B: Carnap selber ist sich natürlich der ganzen philosophischen Problematik bewusst. Er hat seine eigene Auffassung oft geändert und viele seiner Untersuchungen und Theorien nur als „erste Entwürfe“ oder „erste Versuche“ bezeichnet, jedenfalls nie den Anspruch auf Endgültigkeit erhoben. Interessanterweise benutzt er für die Tätigkeit des Philosophen ein Analogiebild; er vergleicht den Philosophen mit dem Ingenieur; dieser arbeitet beispielsweise an der Konstruktion und Entwicklung eines neuen Flugzeugtyps. Nach Carnap ist auch der Philosoph ein Konstrukteur, nicht von materiellen technischen Dingen, sondern von Wissenschaftssprachen. Der Ingenieur wird nicht sagen, dass seine letzte Kreation die endgültig beste und nicht mehr ausbaufähig sei, sondern an der Weiterentwicklung des Modells interessiert sein und Anregungen von anderen aufnehmen, übernehmen. Ähnlich sollte auch der Philosoph an der rationalen Rekonstruktion der Wissenschaftssprache arbeiten, immer im Wechselspiel von Entwurf, Kritik, Gegenkritik und Verbesserungsvorschlägen.
Was also Logik und Wissenschaftstheorie betrifft, hat Carnap hier unbezweifelbar recht.

A: Wie sieht es aber mit dem Sinnkriterium für metaphysische Fragen aus? Hat der Logische Empirismus wirklich nachweisen können, dass Metaphysik insgesamt sinnlos sei?

B: Nein. Der Nachweis, dass Metaphysik sinnlos sei, ist durch den Logischen Empirismus nicht erbracht worden. Denn letztlich ist das empiristische Sinnkriterium eine Sache des Beschlusses, logisch jedoch nicht weiter zu begründen. Es handelt sich dabei um Beschlüsse innerhalb der Syntax der jeweiligen Wissenschaftssprache; und solche Beschlüsse müssen nicht akzeptiert werden. Popper spricht deshalb statt von Sinnkriterien von Abgrenzungskriterien; er will die logischen, mathematischen und erfahrungswissenschaftlichen Aussagen lediglich von der Metaphysik abgrenzen.

A: Und was sagt der Metaphysiker dazu? Lässt er sich das vernichtende Urteil der Empiristen gefallen?

B: Dem Metaphysiker stehen zwei Wege offen, sich erfolgreich zu verteidigen: 1. Er braucht die empiristische Fassung des Wissenschaftsbegriffs nicht zu akzeptieren. Er könnte z.B. argumentieren, dass der Begriff „Wissenschaft“ durchaus vage ist – was übrigens auch von Carnap so gesehen wird – und immer eine konventionelle Komponente in sich trägt, so dass bei einer erweiterten Fassung dieses Ausdrucks auch metaphysische Aussagen in die wissenschaftlichen Sätze eingeordnet/untergeordnet werden können. 2. Der Metaphysiker könnte aber auch zugestehen, dass seine Tätigkeit nicht die eines Wissenschaftlers im o.g. Sinne sei; dass seine Forschung trotzdem sinnvoll sei, wenn auch nicht im empiristischen Sinne. Allerdings, wenn der Metaphysiker den Anspruch erhebt, Wissenschaft zu betreiben und er wissenschaftslogische Prinzipien der Begriffsbildung und Begründung anerkennt, dann darf er nicht bei der konkreten Durchführung seines Systems gegen diese Prinzipen verstoßen. Der Metaphysiker muss seine neu eingeführten Begriffe genau erklären und seine Behauptungen begründen können und – wie jeder andere Wissenschaftler auch – sich grundsätzlich der Situation aussetzen, dass Unklarheiten und Fehler in seinen Begriffen und Begründungen kritisch geprüft und nachgewiesen werden.

A. Das erinnert an die Induktive Metaphysik, die du mal erwähntest, von dem – wie hieß der nochmal: Whitehead,
ja A. N. Whitehead…

B: Genau. Whiteheads Prozess-Metaphysik ist eine Metaphysik, die alle wissenschaftlichen Prinzipen der Begriffsbildung und logischen Begründung anerkennt und bei der konkreten Durchführung des Systems nicht gegen diese Prinzipien verstößt. Sie basiert darüber hinaus auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen aus allen Bereichen und ermöglicht so eine neue, erweiterte Sicht der gesamten Lebenswirklichkeit…

A. Wir sind unterbrochen worden. Was wolltest du sagen?

B: Natürlich kann der empiristische Wissenschaftler dem Metaphysiker von vornherein jede Fähigkeit zu begrifflicher Klarheit und Exaktheit in der Beweisführung absprechen; denn wissenschaftliche Aussagen, egal wie weit Wissenschaft gefasst werden mag, würde er sagen, müssen auf jeden Fall in einer intersubjektiv verständlichen Sprache formuliert sein, und da die Grundbegriffe der Metaphysik keinen empirischen Bezug haben, sei eine Verständigung über den Sinn metaphysischer Aussagen eben nicht möglich. Aber auch dieses Argument ist nicht aufrecht zu erhalten.
Erinnert sei dabei an Kants Metaphysik, die formal gekennzeichnet ist durch synthetische Sätze a priori, d.h. durch Erkenntnisse aus reiner Vernunft. Diese Kennzeichnung steht nicht im Widerspruch zum empiristischen Sinnkriterium, denn: für synthetische Aussagen a priori gilt nur, dass ihre Begründung ohne Zuhilfenahme von Beobachtungssätzen möglich ist, was durchaus mit ihrer empirischen Bestätigungsfähigkeit in Einklang stehen kann.
Wenn dann aber der Logische Empirist entgegnete, dass es gar keine synthetischen Aussagen a priori gäbe, wäre seine negative Existenzbehauptung ihrer logischen Struktur nach gerade das, was sie in Abrede stellt: eine synthetische Behauptung a priori.

A: Wahnsinn. Dann ist also die ganze Polemik in der Metaphysik-Debatte grundlos?

B: Kann man so sagen. Der Empirist sollte jedenfalls keine Thesen über das durch ihn Begründbare hinaus vertreten, weil er sie letztlich nur mit metaphysischen Argumenten vortragen kann. Und der Metaphysiker sollte keine Angst vor empiristischem Wissenschaftsdenken haben und darin kein „positivistisches Teufelszeug“ sehen, das nur dazu dienen soll, sein System zu zerstören.

Maria Reinecke, Berlin

maria reinecke
1 Jahr zuvor

Danke, Christian, für das geweckte Interesse an Whitehead, für Deine eigene Begeisterung und das Du.

Zu Deiner schnellen Whitehead Video-Auswahl schnell eine Reaktion: die Videos erscheinen mir eher kontraproduktiv.
Whitehead vertritt z.B. keinen Pantheismus/Panentheismus, so gern das auch immer wieder weitergetragen wird, weil irgendwie en vogue; insgesamt: prozessphilosophisches Denken esoterisch verzerrt, z.T. trivialisiert und für alles Mögliche vereinnahmt…, schmerzlich.
Lesen lohnt.

Wenn schon Theismus/GOTT, dann doch so, wie Du es anklingen lässt:
https://cbuphilblog.wordpress.com/2019/02/23/jochen-kirchhoff-masse-materie/
„Es wäre sicherlich ein spannendes Forschungsthema, bei den Helden der Physik ihre metaphysischen geheimen Wünsche einmal darzulegen“.

Hier nur kurz für Interessierte:
GOTT ist bei Whitehead kein heimlicher Wunsch, sondern explizit:
– das Prinzip der Kreativität
– die unendliche Grundlage aller Geistestätigkeit, die Einheit der Vision, die nach physischer Vielheit strebt.
– Beide, GOTT und die Welt, sind dem Zugriff der elementaren metaphysischen Grundlage ausgesetzt: dem kreativen Fortschreiten ins Neue…

„Gott und die Welt stehen einander gegenüber und bringen die letzte metaphysische Wahrheit zum Ausdruck, dass strebende Vision und physisches Erleben gleichermaßen Anspruch auf Priorität haben.“ (A.N. Whitehead, ‚Prozess und Realität‘ 1987, S. 622)
(‚Das Böse‘ dagegen als „zersplitterte Zwecksetzung“, Whitehead)
etc.

maria reinecke
1 Jahr zuvor

p.s. zu Christian Bührigs E-Book/Büchlein:
https://cbuphilblog.wordpress.com/buchprojekt/ „Gott würfelt nicht“ oder „Es werde Nichts“.
Habe erst kurz darin gelesen, nur soviel vielleicht:
Der Autor lässt den Leser gleich zu Anfang überraschend teilhaben an der Tiefe und Weite vorsokratischen Denkens;
Thales, Anaximander, Anaximenes kommen zunächst zu Wort; es erfüllt mit Freude, den eindringlichen, ruhig dahinfließenden Gesprächen zu lauschen und den metaphysischen Fragen nach dem Ursprung aller Dinge;
Fragen, die nichts von ihrer Brisanz und Bedeutung verloren haben, schon gar nicht auf dem Hintergrund der modernen Physik des XX. Jahrhunderts. Ich bin gespannt, wie der Autor die Gedankenwelten von 585 v. Chr. bis 368 v. Chr. und heute miteinander verbinden wird.

maria reinecke
1 Jahr zuvor

@ admin/Dirk

Lieber Dirk Boucsein,

obwohl Medienmuffel, der ich nun leider bin – was virtuelle Chat/Gesprächsräume (Zoom etc.) betrifft (verzeihen Sie!) – genieße ich umso mehr die pointierten, klugen, z.T. salopp-flapsigen, immer irgendwie anregenden schriftlichen Kommentare/Gedanken zu kompakten Themenbereichen hier bei Philosophies. Danke.

Vielleicht passt das Whiteheadsche Augenzwinkern zu dem, was Sie oben sagen:
„In der philosophischen Diskussion ist die leiseste Andeutung dogmatischer Sicherheit hinsichtlich der Endgültigkeit von Behauptungen ein Zeichen von Torheit.“ (A. N. Whitehead, ‚Prozess und Realität‘)

Später mehr,
herzlich aus Berlin,
Maria R.